Entstehung und historische Einordnung der Weimarer Verfassung
Die Weimarer Verfassung (eigentlich: „Verfassung des Deutschen Reichs vom 11. August 1919“) ist die erste demokratische Verfassung Deutschlands. Sie wurde im Zuge der Novemberrevolution 1918/1919 als Reaktion auf das Ende des Kaiserreichs erarbeitet und am 14. August 1919 in Kraft gesetzt. Die verfassunggebende Nationalversammlung tagte in der thüringischen Stadt Weimar, der das Grundgesetz seinen Namen verdankt.
Die Weimarer Verfassung markiert einen tiefgreifenden Wandel in der deutschen Verfassungsgeschichte: Sie leitete den Übergang von der monarchistischen Staatsform zur parlamentarischen Demokratie ein, führte allgemeines Wahlrecht sowie weitreichende Bürgerrechte ein und prägte das politische System der Weimarer Republik bis zu deren Ende im Jahr 1933.
Aufbau und Gliederung der Weimarer Verfassung
Die Weimarer Verfassung ist in 181 Artikel gegliedert, welche in mehrere Hauptabschnitte (Staat, Reichstag, Reichsrat usw.) unterteilt sind. Der systematische Aufbau umfasst:
- Die Grundprinzipien des Staates
- Die Struktur des Parlaments
- Die Stellung des Reichspräsidenten
- Die Kompetenzen der Reichsregierung
- Die Grundrechte und Grundpflichten der Bürger
Staatsstrukturprinzipien
Die Verfassung definierte Deutschland gemäß Artikel 1 als „Republik“ und legte das Prinzip der Volkssouveränität (Artikel 1, Artikel 20) fest. Das Reich ist ein Bundesstaat mit Gliederung in Länder mit eigenen Verfassungen und Kompetenzen.
Bundesstaatlicher Aufbau
Das Reich setzte sich aus 18 Ländern (darunter Preußen, Bayern, Sachsen) zusammen. Die Verfassung regelte in den Artikeln 5 bis 19 die föderalen Beziehungen im Sinne des Kooperationsföderalismus und verankerte die Gesetzgebungskompetenz zwischen Reich und Ländern.
Verfassungsorgane und deren rechtliche Stellung
Die Weimarer Verfassung schuf eine Reihe von Staatsorganen mit spezifisch voneinander abgegrenzten Aufgabenbereichen und wechselseitigen Kontrollmechanismen.
Reichspräsident
Der Reichspräsident (Artikel 41-59) war das zentrale Staatsoberhaupt, direkt vom Volk auf sieben Jahre gewählt und mit weitreichenden Rechten ausgestattet. Er hatte z.B. das Recht, den Reichstag aufzulösen, den Reichskanzler zu ernennen und war Oberbefehlshaber der Reichswehr. Von besonderer rechtlicher Bedeutung war Artikel 48 („Notverordnungsrecht“), der dem Reichspräsidenten unter Bedingungen das Recht zur Aufhebung von Grundrechten und zur Anordnung von Notverordnungen einräumte.
Reichstag und Reichsrat
- Der Reichstag (Artikel 20-39) war das direkt gewählte Parlament auf Reichsebene, zuständig für Gesetzgebung, Kontrolle der Regierung, Bewilligung des Budgets.
- Der Reichsrat (Artikel 60-67) war das Vertretungsorgan der Länder und beteiligte sich an der Gesetzgebung mit einem aufschiebenden Vetorecht.
Reichsregierung
Die Reichsregierung bestand aus dem vom Reichspräsidenten ernannten Reichskanzler und den Ministern (Artikel 52-56). Die Regierung war dem Reichstag verantwortlich; ein Misstrauensvotum des Reichstags konnte zur Entlassung des Reichskanzlers führen.
Gesetzgebung und Verwaltung
Gesetzgebungsverfahren
Die Gesetzgebungskompetenz lag grundsätzlich beim Reichstag, mit Beteiligung des Reichsrats. Der Reichspräsident hatte das Recht, Gesetze zu unterzeichnen oder, in Ausnahmefällen, per Notverordnung zu erlassen. Die Verfassung regelte auch das Referendumsrecht für den Fall, dass ein Gesetz vom Reichstag abgelehnt, aber eine bestimmte Anzahl von Bürgern oder der Reichsrat es verlangte (Volksbegehren und Volksentscheid, Artikel 73-76).
Verwaltung und Justiz
Das Reich verfügte über eine eigene Exekutive und Gerichtsbarkeit. Die Länder behielten ihre Verwaltungshoheit, soweit das Reichsgesetz nichts anderes vorsah. Oberster Gerichtshof war das Reichsgericht (Artikel 102), zudem wurden besondere Verwaltungs- und Sozialgerichte geschaffen.
Die Grundrechte und Grundpflichten der Weimarer Verfassung
Ein bedeutendes Element war der Grundrechtsteil (Artikel 109-165), der erstmalig in einer deutschen Reichsverfassung weitreichende individuelle Freiheitsrechte garantierte.
Bürgerliche Grundrechte
Unter anderem wurden garantiert:
- Gleichheit vor dem Gesetz (Artikel 109)
- Meinungs-, Presse-, Vereinigungsfreiheit (Artikel 118-124)
- Schutz der persönlichen Freiheit und Unverletzlichkeit der Wohnung (Artikel 114, 115)
- Schutz von Ehe und Familie (Artikel 119)
- Recht auf Eigentum (Artikel 153)
Soziale Grundrechte und Sozialstaatlichkeit
Neu und prägend waren die normierten sozialen Grundrechte sowie das Bekenntnis zur Sozialstaatlichkeit:
- Arbeitsrechtliche Schutzbestimmungen (Artikel 157)
- Schutz und Förderung von Erwerbstätigkeit (Artikel 151 ff.)
- Organisationsfreiheit der Arbeitnehmer (Koalitionsfreiheit)
- Mitbestimmung und Betriebsräte
Verfassungsgerichtsbarkeit und Rechtsschutzmechanismen
Die Weimarer Verfassung kannte keine eigenständige Verfassungsgerichtsbarkeit im heutigen Sinne, wohl aber spezielle Mechanismen zum Schutz der Verfassung:
- Kompetenzkonflikte zwischen Reich und Ländern oder zwischen den Ländern waren durch das Reichsgericht zu entscheiden (Artikel 19, 137, 138).
- Bei Rechtsverletzungen durch Notverordnungen stand dem Parlament das Recht auf Aufhebung zu.
Wahlprüfungsbeschwerden und andere gerichtliche Kontrollfunktionen wurden von ordentlichen Gerichten wahrgenommen.
Bedeutung und rechtliche Bewertung der Weimarer Verfassung
Im Vergleich des deutschen Verfassungsrechts war die Weimarer Verfassung ein frühes Musterbeispiel für den demokratischen und sozialen Rechtsstaat. Gerade die praktischen Erfahrungen mit dieser Verfassung führten zu erheblichen Weiterentwicklungen im späteren Grundgesetz (z. B. hinsichtlich der Stärkung des Parlaments, der Begrenzung des Notverordnungsrechts und der Einrichtung eines Bundesverfassungsgerichts).
Schwächen zeigten sich etwa im Verhältnis zwischen Präsident und Parlament sowie in der Möglichkeit zur Aushöhlung der Grundrechte im Krisenfall (Artikel 48). Dennoch stellt die Weimarer Verfassung einen Meilenstein in der deutschen Rechtsgeschichte dar, dessen Inhalte und Struktur das politische und verfassungsrechtliche Denken auch in der Gegenwart beeinflussen.
Literaturhinweise und Rechtsquellen
- Verfassung des Deutschen Reichs vom 11. August 1919 (RGBl. 1919, S. 1383)
- Michael Stolleis: Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland. Bd. 3: Staats- und Verwaltungsrecht seit 1914. München 1999.
- Horst Dreier: Die Weimarer Reichsverfassung. München 2014.
- Ernst-Wolfgang Böckenförde: Die deutsche Verfassungsgeschichte. 3. Aufl., Tübingen 1991.
Häufig gestellte Fragen
Welche Bedeutung hatte die Gewaltenteilung in der Weimarer Verfassung?
Die Gewaltenteilung war ein zentrales Prinzip der Weimarer Verfassung von 1919 und stellte die rechtliche Grundlage für die Organisation und Kontrolle der Staatsgewalt dar. Die Verfassung unterschied klar zwischen Legislative (Reichstag und Reichsrat), Exekutive (Reichspräsident und Reichsregierung) sowie Judikative (Reichsgericht und andere Gerichte). Die Legislative beschloss die Gesetze, wobei der Reichstag als direkt gewähltes Organ zentrale Gesetzgebungsmacht besaß und der Reichsrat als Vertretung der Länder bei Gesetzesinitiativen und -entscheidungen eingebunden wurde. Die Exekutive war geteilt: Der Reichspräsident hatte weitreichende Befugnisse wie das Ernennen und Entlassen des Reichskanzlers sowie die Möglichkeit, den Reichstag aufzulösen und Notverordnungen nach Artikel 48 zu erlassen. Die Reichsregierung war wiederum auf das Vertrauen des Reichstags angewiesen. Die Judikative war als unabhängige Instanz angelegt und hatte die Aufgabe, über die Rechtmäßigkeit staatlichen Handelns zu wachen. Trotz dieser formalen Trennung ermöglichte die Verfassung durch Sonderregelungen – insbesondere im Bereich der Notverordnungen – Überschneidungen und Verschiebungen der Gewalten, was sich in Krisenzeiten als folgenschwer erwies. Die umfangreichen Notstandskompetenzen des Reichspräsidenten wirkten einer strikten Gewaltenteilung entgegen und führten zu einer erheblichen Konzentration von Macht auf die Exekutive.
Welche verfassungsrechtlichen Mechanismen gab es zur Änderung der Weimarer Verfassung?
Die Weimarer Verfassung enthielt klare Bestimmungen für ihre eigene Änderung, die in Artikel 76 geregelt waren. Demnach konnten Änderungen nur durch ein Gesetz vorgenommen werden, das den Wortlaut der Verfassung ausdrücklich abänderte. Für die Annahme einer Verfassungsänderung war eine Zweidrittelmehrheit der anwesenden Mitglieder des Reichstags erforderlich, wobei mindestens zwei Drittel der gewählten Abgeordneten tatsächlich anwesend sein mussten. Zudem war grundsätzlich eine Mitwirkung des Reichsrats vorgesehen, da dieser Gesetzesvorhaben zustimmen oder ablehnen konnte. In Fällen erheblicher Meinungsverschiedenheiten konnten Gesetze auch durch Volksentscheid bestätigt werden. Die relativ niedrigen Anforderungen an eine Verfassungsänderung im Vergleich zu anderen Staaten führten dazu, dass zahlreiche Änderungen an der Verfassung vorgenommen wurden, was die Flexibilität, aber auch Anfälligkeit gegenüber politischen Mehrheitsverschiebungen begründete.
Wie war das Verhältnis zwischen Reich und Ländern rechtlich geregelt?
Das Verhältnis zwischen Reich und Ländern (Ländern als Gliedstaaten) wurde in der Weimarer Verfassung sowohl durch die Einzelaufzählung der Reichsgesetzgebungskompetenzen als auch durch die Einführung des Reichsrats als Vertretung der Länder geregelt. Nach Art. 6 ff. WRV war das Reich für alle Angelegenheiten zuständig, die ihm ausdrücklich durch die Verfassung zugewiesen wurden, während die verbleibenden Kompetenzen – insbesondere die Ausführung der Gesetze – grundsätzlich bei den Ländern verblieben. Der Länderföderalismus wurde jedoch im Vergleich zum Kaiserreich erheblich zugunsten des Reiches beschränkt, da der Reichstag zentrale Gesetzgebungsmacht erhielt und das Reich auch die Verwaltung in bestimmten Bereichen an sich ziehen konnte. Der Reichsrat hatte ein Suspensivveto sowie das Initiativrecht für Gesetze und konnte als Korrektiv auf die Gesetzgebung einwirken. Allerdings konnte der Reichstag das Veto des Reichsrats mit Zweidrittelmehrheit zurückweisen. Die Länder waren damit stärker in den gesamtstaatlichen Gesetzgebungsprozess eingebunden, ihre Eigenständigkeit aber verfassungsrechtlich erheblich eingeschränkt.
Welche rechtlichen Möglichkeiten zur Kontrolle der Reichsregierung existierten?
Die Weimarer Verfassung sah in Artikel 54 das Recht des Reichstags vor, der gesamten Reichsregierung oder einzelnen Reichsministern das Vertrauen zu entziehen (Misstrauensvotum). Ein solcher Beschluss hatte die Entlassung der betreffenden Personen zur Folge, wobei der Reichskanzler nach jedem Verlust des Vertrauens neues Vertrauen vom Reichstag erhalten musste. Eine Besonderheit der Weimarer Verfassung war, dass der Reichspräsident dennoch die Macht hatte, den Reichskanzler und die Minister unabhängig vom Parlament zu ernennen und zu entlassen, was eine gewisse Schwächung des Parlamentsprinzips darstellte. Weitere Kontrollinstrumente waren parlamentarische Anfragen, Untersuchungen und die Möglichkeit, Gesetze zu blockieren. Ferner konnten bei schwerwiegenden Konflikten Volksentscheide herbeigeführt werden. In der Praxis wurden diese Kontrollrechte jedoch durch die Notverordnungsrechte des Reichspräsidenten signifikant ausgehöhlt.
Welche rechtlichen Regelungen bot die Weimarer Verfassung zum Schutz der Grundrechte?
Die Weimarer Verfassung enthielt im sogenannten „Grundrechtsabschnitt“ (Art. 109-165 WRV) eine umfangreiche Aufzählung und Konkretisierung von Grundrechten, wie Gleichheit vor dem Gesetz, Meinungs-, Versammlungs-, und Vereinigungsfreiheit, Unverletzlichkeit der Wohnung und Eigentumsgarantie, Religionsfreiheit, Schutz der Familie und soziale Grundrechte wie das Streikrecht und die Koalitionsfreiheit. Diese Grundrechte waren unmittelbar geltendes Recht und konnten Bürgern im Zweifel vor Gericht eine rechtliche Grundlage gegen staatliche Eingriffe bieten. Allerdings ließ die Verfassung Einschränkungen dieser Grundrechte durch Gesetz ausdrücklich zu („Das Nähere regelt ein Gesetz“), was dem Gesetzgeber weitreichenden Spielraum für Einschränkungen eröffnete. Während die Verfassung Grundrechte erstmals in umfassender Weise kodifizierte, waren diese daher zugleich durch einfache Parlamentsmehrheiten beschränkbar. In Notstandszeiten (Artikel 48) konnten Grundrechte sogar mit weitgehendem Spielraum suspendiert werden, was die praktische Rechtswirksamkeit erheblich beschränkte.
Welche besondere Stellung hatte der Reichspräsident aus verfassungsrechtlicher Sicht?
Der Reichspräsident nahm in der Weimarer Verfassung eine außergewöhnlich starke rechtliche Stellung ein, da er sowohl direkt vom Volk gewählt wurde (Art. 41 WRV) als auch über umfangreiche formale Befugnisse verfügte. Zentrale Kompetenzen umfassten das Ernennungsrecht für Kanzler und Minister, das Recht zur Auflösung des Reichstags, zur Anordnung von Neuwahlen, zur Verkündung von Gesetzen sowie Vetorechte. Am bedeutendsten war sein Notverordnungsrecht gemäß Artikel 48 WRV, das ihm die Befugnis einräumte, bei „Störungen oder Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung“ Grundrechte außer Kraft zu setzen und Verordnungen mit Gesetzeskraft zu erlassen, wenn „Sofortmaßnahmen geboten“ erschienen. Diese Kompetenzen erlaubten es dem Reichspräsidenten, in Krisenzeiten am Parlament vorbei zu regieren, was einerseits als Sicherheitsgarantie für die Republik gedacht war, in der politischen Realität jedoch zu einer massiven Machtverschiebung zugunsten der Exekutive und zur Aushöhlung des parlamentarischen Systems beitrug.
Inwiefern war durch die Weimarer Verfassung die Möglichkeit eines Volksentscheids rechtlich vorgesehen?
Die Weimarer Verfassung verankerte erstmals in Deutschland die Möglichkeit direkter Demokratie durch Volksentscheid und Volksbegehren (Art. 73 und 74 WRV). Demnach konnte ein Volksentscheid entweder durch den Reichstag mit Zweidrittelmehrheit, durch den Reichspräsidenten oder durch Volksbegehren (mit ausreichend Unterschriften) herbeigeführt werden. Ein erfolgreiches Volksbegehren verpflichtete den Reichstag, sich mit dem Gegenstand zu befassen; lehnte der Reichstag das Anliegen ab, kam es automatisch zum Volksentscheid. Der Volksentscheid war rechtlich bindend und setzte auf Reichsebene durch das Volk abgestimmte Gesetze in Kraft bzw. bestätigte oder verwarf Gesetzesvorlagen. Die rechtlichen Hürden für diese direkte Beteiligungsform waren jedoch hoch; in der Praxis fanden Volksentscheide nur in Ausnahmefällen statt und die Parlamentsdominanz blieb gewahrt. Gleichwohl war dies ein bedeutender Schritt zur Eröffnung plebiszitärer Elemente im Verfassungsrecht der deutschen Republik.