Begriff und historische Einordnung
Die Weimarer Verfassung war die gesamtstaatliche Verfassung des Deutschen Reiches von 1919 bis 1933/34. Sie begründete die erste parlamentarische Demokratie in Deutschland, transformierte das Reich in eine Republik und regelte umfassend die staatliche Organisation, die Grundrechte sowie die Beziehungen zwischen Reich, Ländern und Gemeinden. Trotz ihrer modernen und weitreichenden Regelungen wurde sie in der politischen Praxis durch Krisen, Notverordnungen und Machtverschiebungen ausgehöhlt und verlor mit der nationalsozialistischen Diktatur ihre Wirksamkeit. Viele ihrer Ideen wirkten dennoch prägend auf das spätere Grundgesetz.
Entstehung und Geltungsdauer
Politischer Kontext 1918/1919
Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs und dem Zusammenbruch der Monarchie trat eine verfassunggebende Nationalversammlung zusammen. Ihr Ergebnis war eine republikanische Verfassung, die das Prinzip der Volkssouveränität, eine moderne Grundrechtsordnung und eine parlamentarische Regierungsform festschrieb.
Inkrafttreten und Verfassungswirklichkeit
Mit ihrem Inkrafttreten 1919 setzte die Verfassung einen normativen Rahmen für eine demokratische und soziale Ordnung. In den Folgejahren prägten jedoch politische Zersplitterung, wirtschaftliche Krisen und häufige Regierungswechsel die Verfassungswirklichkeit. Ab 1930 gewann eine präsidentielle Regierungsweise an Gewicht, die die verfassungsmäßige Balance zulasten des Parlaments verschob. Die Diktatur ab 1933 setzte die Verfassung faktisch außer Kraft; nach 1945 wurde sie nicht wiederbelebt.
Staatsstruktur und Grundprinzipien
Republik und Demokratie
Die Verfassung konstituierte das Reich als demokratische Republik. Träger der Staatsgewalt war das Volk, das insbesondere über allgemeine, gleiche und geheime Wahlen zum Reichstag und zum Reichspräsidenten politisch mitwirkte. Plebiszitäre Elemente ergänzten die repräsentative Ordnung.
Rechtsstaatliche und soziale Elemente
Verankerungen für Gesetzesbindung, gerichtlichen Rechtsschutz und eine ausdifferenzierte Grundrechtsordnung prägten den rechtsstaatlichen Rahmen. Zugleich enthielt die Verfassung soziale Leitgedanken, etwa zur Arbeiter- und Sozialordnung, zur Gemeinwohlbindung des Eigentums und zu Mitwirkungsrechten in Betrieb und Wirtschaft.
Bundesstaatlicher Aufbau
Das Reich blieb ein Bundesstaat mit Ländern, die eigene Verfassungen und Kompetenzen besaßen. Gleichzeitig stärkte die Verfassung die zentralstaatliche Ebene in Gesetzgebung, Verwaltung und Finanzordnung, was zu einer deutlich engeren Einheit des Reiches führte.
Organe des Reiches
Reichstag
Wahlrecht und Stellung
Der Reichstag wurde in allgemeiner, gleicher, geheimer und verhältnismäßiger Wahl gewählt. Er war das zentrale Gesetzgebungsorgan und wirkte bei Haushalt und Kontrolle der Regierung maßgeblich mit.
Gesetzgebung und Kontrolle
Gesetze erforderten die Mitwirkung des Reichstags; Regierung und Verwaltung unterstanden seiner politischen Verantwortung. Instrumente parlamentarischer Kontrolle umfassten Debatten, Anfragen und die Möglichkeit des Misstrauens gegenüber der Reichsleitung.
Reichspräsident
Ernennung, Absetzung, Befugnisse
Der Reichspräsident wurde direkt vom Volk gewählt. Er ernannte und entließ den Reichskanzler und die Minister, konnte den Reichstag auflösen, war Oberbefehlshaber der Streitkräfte und verfügte über weitreichende Ausnahmebefugnisse für Krisenlagen. Diese Befugnisse ließen die verfassungsmäßige Balance in Krisenzeiten zugunsten des Staatsoberhaupts kippen.
Reichsregierung (Reichskanzler und Minister)
Verantwortlichkeit und Verhältnis zum Parlament
Die Reichsregierung leitete die Politik und war sowohl dem Reichspräsidenten als auch politisch dem Reichstag verantwortlich. Stabilität erforderte tragfähige Mehrheiten, die angesichts zahlreicher Parteien schwer zu bilden waren.
Reichsrat
Mitwirkung der Länder
Der Reichsrat setzte die Mitwirkung der Länder auf Reichsebene um. Er konnte Gesetze anregen, Einspruch erheben und trug zur föderalen Perspektive in der Reichsgesetzgebung bei.
Rechtsprechung
Reichsgericht und Staatsgerichtshof
Das Reichsgericht war höchste Instanz der ordentlichen Gerichtsbarkeit. Der Staatsgerichtshof entschied über verfassungsrechtliche Streitigkeiten zwischen Reich und Ländern sowie über Organstreitigkeiten und bestimmte Verantwortlichkeitsverfahren. Eine eigenständige, umfassende Verfassungsgerichtsbarkeit nach heutigem Verständnis bestand nicht.
Grundrechte und Freiheitsgarantien
Persönliche und politische Freiheitsrechte
Die Verfassung gewährte ein breites Spektrum an Freiheitsrechten, darunter Meinungs-, Presse-, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit, Unverletzlichkeit der Person und der Wohnung sowie Schutz von Ehe und Familie. Politische Teilhabe wurde durch das allgemeine Wahlrecht, erstmals auch für Frauen auf Reichsebene, verwirklicht.
Gleichheit und Minderheitenschutz
Gleichheit vor dem Gesetz und der Schutz nationaler Minderheiten waren verfassungsrechtlich verankert. Diskriminierungsverbote stärkten den Anspruch auf gleiche Teilhabe.
Wirtschafts- und Sozialordnung
Die Verfassung enthielt Grundsätze einer sozialen Ordnung: Eigentum stand unter Gemeinwohlbindung; Arbeitsrecht und Mitwirkung in Betrieben wurden gefördert; Tarifautonomie und kollektive Interessenvertretung erhielten rechtlichen Rückhalt. Ziel war eine Balance zwischen wirtschaftlicher Freiheit und sozialer Verantwortung.
Gesetzgebung, Volksabstimmungen und Notverordnungen
Gesetzgebungsverfahren
Gesetze kamen durch das Zusammenwirken von Reichstag, Reichsregierung und teilweise Reichsrat zustande. Haushaltsrecht und Finanzgesetze hatten besondere Bedeutung für die Steuerungskraft des Parlaments.
Volksbegehren und Volksentscheid
Die Verfassung sah Instrumente direkter Demokratie vor. Auf nationaler Ebene konnten Bürgerinitiativen Gesetzesvorschläge anstoßen; Entscheidungen des Volkes konnten unter bestimmten Voraussetzungen Gesetze herbeiführen.
Ausnahmebefugnisse des Reichspräsidenten
In Krisen konnte der Reichspräsident vorläufig ordnend eingreifen, einschließlich der Möglichkeit, Grundrechte zeitweise zu beschränken. Diese Ausnahmemechanismen sollten den Staat handlungsfähig halten, wurden jedoch in den späten Jahren der Republik weitreichend genutzt und trugen zur Verschiebung der Machtbalance bei.
Finanz- und Wirtschaftsverfassung
Kompetenzverteilung zwischen Reich und Ländern
Die Verfassung stärkte die Reichsebene in Steuer- und Finanzfragen, wodurch eine einheitliche Finanzordnung entstand. Länder hatten weiterhin Aufgaben und Einnahmen, ihre Spielräume wurden jedoch im Vergleich zur Vorkriegszeit reduziert.
Haushaltsrecht und Steuerordnung
Das Haushaltsrecht lag beim Reichstag. Einheitliche Steuern und Finanzausgleichsmechanismen sollten die Leistungsfähigkeit des Gesamtstaats sichern und regionale Disparitäten abmildern.
Verhältnis von Staat und Religion
Trennung und Kooperation
Die Weimarer Verfassung ordnete eine Trennung von Staat und Kirche an, garantierte Religionsfreiheit und ermöglichte religiösen Gemeinschaften eine öffentlich-rechtliche Stellung. Religionsunterricht blieb möglich, stand jedoch unter staatlicher Aufsicht. Diese Grundsätze prägten das spätere Religionsverfassungsrecht dauerhaft.
Länder und Kommunen
Landesverfassungen und Selbstverwaltung
Die Länder blieben verfasst und besaßen eigene Organe. Kommunale Selbstverwaltung wurde als Kern örtlicher Demokratie anerkannt, insbesondere für Angelegenheiten der Daseinsvorsorge.
Kommunale Demokratie
Gemeinden und Kreise erhielten demokratisch legitimierte Vertretungen. Die Staatsaufsicht sicherte Rechtmäßigkeit, durfte aber die Selbstverwaltung nicht aushöhlen.
Verfassungsänderung und Verfassungsschutz
Verfahren der Änderung
Die Verfassung konnte mit qualifizierten Mehrheiten geändert werden; unter bestimmten Umständen waren Volksentscheide vorgesehen. Eine inhaltlich unantastbare Kernordnung war nicht niedergelegt.
Parteien und Vereinigungen
Die Ordnung beruhte auf der Freiheit politischer Vereinigungen und Parteien. Eine ausdrückliche Regelung des Parteienstatus war noch nicht ausgebildet; die politische Willensbildung entfaltete sich auf Grundlage allgemeiner Vereinigungsfreiheit.
Anwendung, Krise und Ende
Verfassungspraxis
In stabilen Phasen funktionierte die parlamentarische Ordnung, entwickelte Verwaltung, Justiz und Sozialstaat weiter und integrierte das föderale System. Zugleich belasteten wirtschaftliche Notlagen und politische Konflikte die Institutionen.
Fragmentierung und Präsidialkabinette
Das Verhältniswahlrecht ohne wirksame Sperrklausel begünstigte eine Vielzahl von Parteien, erschwerte stabile Koalitionen und erleichterte Regierungsbildungen ohne tragfähige Parlamentsmehrheit. Die zunehmende Nutzung präsidialer Ausnahmebefugnisse schwächte die parlamentarische Verantwortung.
Außerkraftsetzung und Diktatur
Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten wurden Grundrechte faktisch suspendiert, das Parlament entmachtet und die föderale Ordnung gleichgeschaltet. Die Weimarer Verfassung verlor ihre reale Geltung, auch wenn sie formal nicht in einem einheitlichen Akt aufgehoben wurde.
Nachwirkungen und Bedeutung für das Grundgesetz
Kontinuitäten
Viele Leitgedanken – Grundrechte, Sozialstaatsgedanke, föderale Mitwirkung, kommunale Selbstverwaltung, Trennung von Staat und Kirche – prägten das Grundgesetz. Auch die Anerkennung plebiszitärer Elemente wirkte fort, wenn auch mit engerer Ausgestaltung.
Lehren und Weiterentwicklungen
Die spätere Verfassungsordnung zog Konsequenzen aus den Weimarer Krisen: stärker begrenzte Notstandsmechanismen, ein auf Ausgleich angelegtes Verhältnis von Regierung und Parlament, verfeinerte Verantwortlichkeitsregeln und Vorkehrungen gegen Zersplitterung des Parteiensystems. Das Amt des Staatsoberhaupts wurde auf Repräsentation und Ausgleich ausgerichtet.
Abgrenzung zu anderen Verfassungstexten
Paulskirchenverfassung 1849
Die Paulskirchenverfassung war der erste demokratische Verfassungsentwurf für Deutschland, blieb aber ohne dauerhafte Geltung. Weimar griff Gedanken wie Grundrechte und Föderalismus auf und modernisierte sie.
Grundgesetz 1949
Das Grundgesetz steht in der Tradition weimarischer Freiheits- und Sozialrechte, korrigiert aber institutionelle Schwächen, insbesondere beim Verhältnis von Exekutive und Legislative sowie bei Notstandsregelungen.
Häufig gestellte Fragen (FAQ)
Was ist die Weimarer Verfassung und wann galt sie?
Die Weimarer Verfassung war die demokratische Verfassung des Deutschen Reiches ab 1919. Sie prägte die staatliche Ordnung bis zur nationalsozialistischen Machtübernahme, nach der sie faktisch außer Kraft geriet. Nach 1945 wurde sie nicht wieder in Geltung gesetzt; 1949 trat das Grundgesetz an ihre Stelle.
Welche Staatsorgane sah die Weimarer Verfassung vor?
Vorgesehen waren der direkt gewählte Reichspräsident, der Reichstag als Parlament, die Reichsregierung aus Reichskanzler und Ministern, der Reichsrat als Ländervertretung sowie eine unabhängige Gerichtsbarkeit mit Reichsgericht und Staatsgerichtshof.
Welche Rolle hatte der Reichspräsident?
Der Reichspräsident war Staatsoberhaupt, ernannte und entließ die Regierung, konnte den Reichstag auflösen und verfügte über weitreichende Befugnisse für Krisenzeiten. Diese Stellung stärkte in Phasen politischer Instabilität die Exekutive gegenüber dem Parlament.
Welche Grundrechte enthielt die Weimarer Verfassung?
Sie garantierte Freiheitsrechte wie Meinungs-, Presse-, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit, Schutz der Person und der Wohnung, Gleichheit vor dem Gesetz sowie soziale Leitprinzipien zur Arbeits- und Wirtschaftsordnung. Minderheitenrechte und Religionsfreiheit waren ebenfalls verankert.
Wie funktionierte das Wahlrecht zum Reichstag?
Gewählt wurde nach Verhältniswahlrecht mit landesweiten Listen. Dieses Verfahren spiegelte den politischen Pluralismus genau wider, erschwerte jedoch stabile Mehrheiten, da es lange Zeit keine wirksame Sperrklausel gab.
Gab es direkte Demokratie auf Reichsebene?
Ja. Volksbegehren und Volksentscheide ergänzten die repräsentative Demokratie. Sie ermöglichten die unmittelbare Mitwirkung der Bevölkerung an der Gesetzgebung unter bestimmten verfahrensrechtlichen Voraussetzungen.
Warum scheiterte die Weimarer Republik verfassungsrechtlich?
Mehrere Faktoren wirkten zusammen: ein fragmentiertes Parteiensystem, häufige Regierungswechsel ohne stabile Parlamentsmehrheiten, die Ausweitung präsidialer Ausnahmebefugnisse und die Aushöhlung der Grundrechte durch die Diktatur. Die Verfassung bot zwar demokratische Instrumente, konnte aber die politischen und gesellschaftlichen Spannungen nicht dauerhaft binden.