Begriff und Grundlagen des Wehrstrafrechts
Das Wehrstrafrecht ist ein eigenständiger Teilbereich des deutschen Strafrechts, der Straftaten und Ordnungswidrigkeiten im Zusammenhang mit dem Wehrdienst und den Streitkräften regelt. Es umfasst Bestimmungen über spezielle Delikte, die im Rahmen des Wehrdienstes, in den Streitkräften oder im Verteidigungsfall durch Soldatinnen und Soldaten, Wehrpflichtige sowie Reservistinnen und Reservisten begangen werden können. Ziel des Wehrstrafrechts ist die Aufrechterhaltung von Disziplin, Funktionsfähigkeit und militärischer Ordnung der Bundeswehr sowie der Schutz der staatlichen Wehrverfassung.
Rechtsquellen des Wehrstrafrechts
Wehrstrafgesetz (WStG)
Das zentrale Regelungswerk des Wehrstrafrechts ist das Wehrstrafgesetz (WStG) vom 30. März 1957 (BGBl. I S. 261). Es enthält spezifische Strafvorschriften für Wehrpflichtige und Soldaten, die sich auf deren besondere Stellung und Pflichten im militärischen Bereich beziehen.
Ergänzende Rechtsnormen
Neben dem Wehrstrafgesetz kommen weitere Gesetze und Vorschriften zur Anwendung:
- Militärstrafgerichtsordnung (MStO): Regelte früher das Verfahren vor Militärgerichten, ist aber durch die Abschaffung der Wehrstrafgerichtsbarkeit in Friedenszeiten weitgehend obsolet.
- Strafgesetzbuch (StGB): Viele allgemeine Straftatbestände sind auch für Soldaten relevant und können neben dem Wehrstrafgesetz Anwendung finden.
- Soldatengesetz (SG): Enthält Disziplinarvorschriften für Soldaten und regelt Verwaltungsmaßnahmen außerhalb des Strafrechts.
- Völkerrechtliche Bestimmungen: Sofern relevant, finden völkerrechtliche Normen wie das humanitäre Völkerrecht und Kriegsverbrechen Anwendung.
Anwendungsbereich des Wehrstrafrechts
Persönlicher Geltungsbereich
Das Wehrstrafrecht richtet sich in erster Linie an:
- Aktive Soldaten der Bundeswehr
- Wehrpflichtige (gemäß Wehrpflichtgesetz)
- Reservisten, soweit sie zu Wehrübungen oder im Spannungs- oder Verteidigungsfall einberufen sind
Sachlicher Geltungsbereich
Das Wehrstrafrecht findet Anwendung auf Handlungen und Unterlassungen, die während des Wehrdienstes, in Ausübung der militärischen Pflicht oder in militärischen Einrichtungen begangen werden. Auch Vergehen während eines Auslandseinsatzes der Bundeswehr können darunter fallen.
Zusammenwirken von Wehrstrafrecht und allgemeinem Strafrecht
Das Wehrstrafrecht steht im Verhältnis zum allgemeinen Strafrecht als lex specialis. Das Wehrstrafgesetz enthält eigene Tatbestände und Rechtsfolgen, die auf die besonderen Anforderungen des Wehrdienstes und der militärischen Hierarchie zugeschnitten sind. Im Fall einer Tat, die sowohl gegen das Wehrstrafgesetz als auch gegen das Strafgesetzbuch verstößt, kommt in der Regel die speziellere Vorschrift des Wehrstrafrechts zur Anwendung.
Wesentliche Straftatbestände des Wehrstrafrechts
Befehlsverweigerung (§ 19 WStG)
Die Befehlsverweigerung stellt eine zentrale wehrstrafrechtliche Vorschrift dar. Sie beschreibt die vorsätzliche Weigerung, einem militärischen Befehl nachzukommen, was mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bedroht ist, bei besonders schweren Fällen auch mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren.
Unerlaubte Entfernung von der Truppe (§ 15 ff. WStG)
Wer sich ohne Erlaubnis von der Truppe entfernt oder überhaupt nicht zum Dienst erscheint, macht sich der unerlaubten Entfernung schuldig. Hierzu werden auch die Begriffe Fahnenflucht und Desertion gezählt.
Meuterei (§ 27 WStG)
Die Beteiligung an einer Meuterei – mithin das gewaltsame oder bedrohliche gemeinschaftliche Auflehnen gegen militärische Vorgesetzte – ist ein schweres militärisches Vergehen mit entsprechend hoher Strafandrohung.
Weitere Delikte
Weitere relevante Tatbestände sind beispielsweise:
- Eigenmächtige Abwesenheit (§ 16 WStG)
- Dienstpflichtverletzung (§ 20 WStG)
- Unstatthafte Befehlsgebung (§ 30 WStG)
- Misshandlung und entwürdigende Behandlung Untergebener (§ 31 WStG)
Strafzumessung und Rechtsfolgen im Wehrstrafrecht
Strafrahmen
Die Strafrahmen im Wehrstrafgesetz orientieren sich grundsätzlich an den besonderen Erfordernissen des militärischen Dienstes. Die angedrohten Freiheits- und Geldstrafen stellen sicher, dass Verstöße gegen den militärischen Gehorsam und die Disziplin wirksam sanktioniert werden können.
Nebenfolgen
Neben den in Betracht kommenden strafrechtlichen Sanktionen können Nebeneffekte wie die Entziehung des Dienstgrades, der Verlust der Dienststellung oder Disziplinarmaßnahmen nach dem Soldatengesetz eintreten.
Besonderheiten des Wehrstrafverfahrens
Ermittlungs- und Strafverfolgungsbehörden
Für die Untersuchung und Verfolgung wehrstrafrechtlicher Delikte sind die zivilen Strafverfolgungsbehörden, vor allem die Staatsanwaltschaften und Gerichte des allgemeinen Strafrechts, zuständig. Eigenständige Militärgerichte existieren in der Bundesrepublik Deutschland nicht mehr; dies entspricht dem Grundsatz der Gewaltenteilung und parlamentarischen Kontrolle.
Verfahrensbesonderheiten
Einige Besonderheiten ergeben sich im Wehrstrafverfahren, insbesondere hinsichtlich der Einflussnahme militärischer Vorgesetzter bei der Anzeige und Meldung von Straftaten bzw. der Mitwirkung bei der Aufklärung des Sachverhalts.
Verhältnis von Wehrstrafrecht zum Disziplinarrecht
Das Disziplinarrecht unterscheidet sich grundsätzlich vom Wehrstrafrecht. Während das Wehrstrafrecht auf strafbare Handlungen mit Freiheits- oder Geldstrafen reagiert, dient das Disziplinarrecht der Aufrechterhaltung der inneren Ordnung durch dienstrechtliche Sanktionen (wie Verweis, Arrest, Degradierung usw.). Eine parallele Verfolgung eines Fehlverhaltens im Straf- und Disziplinarverfahren ist möglich.
Aktuelle Entwicklungen und Reformüberlegungen
Das Wehrstrafrecht unterliegt fortlaufender Anpassung an gesellschaftliche und völkerrechtliche Rahmenbedingungen. Diskussionen gibt es insbesondere im Hinblick auf Auslandseinsätze der Bundeswehr, hybriden Bedrohungsszenarien und modernen Formen des Militärdienstes. Hierbei erfolgt die ständige Überprüfung, ob bestehende wehrstrafrechtliche Vorschriften den aktuellen sicherheitspolitischen Herausforderungen genügen.
Literatur und weiterführende Quellen
- Wehrstrafgesetz (WStG) – Gesetzestext
- Soldatengesetz (SG)
- Strafgesetzbuch (StGB)
- Schomburg, Börner: Wehrstrafrecht, Kommentar zum Wehrstrafgesetz
- Braun: Das Wehrstrafrecht in der Bundesrepublik Deutschland
Hinweis: Die Darstellung orientiert sich an der geltenden Rechtslage in Deutschland und berücksichtigt die gesetzlichen Grundlagen sowie die einschlägige Rechtsprechung.
Häufig gestellte Fragen
Welche Verfahrensschritte sind im Wehrstrafverfahren gesetzlich vorgesehen?
Im Wehrstrafverfahren gelten besondere Verfahrensregeln, die sich aus dem Wehrstrafgesetz (WStG), der Wehrstrafverfahrensordnung (WStPO) und ergänzend aus der Strafprozessordnung (StPO) ergeben. Das Verfahren beginnt in der Regel mit der Einleitung eines Ermittlungsverfahrens, sobald ein Verdacht auf eine wehrstrafrechtliche Straftat – etwa Gehorsamsverweigerung oder Fahnenflucht – besteht. Zuständig sind dabei in der Regel die Truppendienstgerichte, während in schwerwiegenden Fällen auch die zuständigen Staatsanwaltschaften und ordentlichen Gerichte tätig werden können. Nach Abschluss der Ermittlungen entscheidet die zuständige Stelle, ob Anklage erhoben wird. Hierbei wird das Akteneinsichtsrecht des Beschuldigten gewährt und dieser angehört. Das Hauptverfahren vor einem Truppendienstgericht oder einem Bundeswehrdisziplinargericht beginnt mit dem Aufruf der Sache und der Vernehmung des Angeklagten. Am Ende steht das Urteil, gegen welches Rechtsmittel wie Berufung oder Revision eingelegt werden können. Im gesamten Verfahren gelten spezifische Vorschriften, wie etwa die Beteiligung von militärischen Vorgesetzten, die Berücksichtigung des Dienstgrades und bestimmte Besonderheiten bei der Strafzumessung sowie bei der Strafaussetzung zur Bewährung.
Wie unterscheiden sich die Straftatbestände des Wehrstrafrechts von denen nach allgemeinem Strafrecht?
Das Wehrstrafrecht umfasst eigene Tatbestände, die im zivilen Strafrecht keine Entsprechung finden oder dort nicht in gleicher Weise geregelt sind. Typische Straftaten sind unter anderem Gehorsamsverweigerung (§ 19 WStG), Fahnenflucht (§ 16 WStG), unerlaubte Entfernung von der Truppe (§ 15 WStG), Tätlichkeiten gegen Vorgesetzte (§ 27 WStG) oder das Missachten von Befehlen (§ 20 WStG). Diese Delikte setzen regelmäßig eine besondere Rechtsbeziehung zwischen Täter und Truppe, insbesondere den Status als Soldat oder Reservist, sowie eine dienstliche Situation voraus. Die Begehung dieser Taten führt nicht nur zu strafrechtlichen Sanktionen, sondern kann auch dienstrechtliche Konsequenzen, wie die Entfernung aus der Bundeswehr, nach sich ziehen. Während das allgemeine Strafrecht auf die Allgemeinheit abzielt, adressiert das Wehrstrafrecht ausschließlich Angehörige der Streitkräfte und trägt den militärischen Erfordernissen an Disziplin und Gehorsam Rechnung.
Wer ist im Rahmen des Wehrstrafrechts als Täter oder Teilnehmer strafrechtlich verantwortlich?
Nach dem Wehrstrafrecht sind grundsätzlich alle Soldaten der Bundeswehr – einschließlich der Reservisten während einer Wehrübung oder eines Wehrdienstverhältnisses – erfasst. Verantwortlich sind jedoch nur Soldaten, die zur fraglichen Tatzeit der Wehrpflicht oder einer freiwilligen Verpflichtung unterliegen. Auch Teilnehmerhandlungen wie Anstiftung oder Beihilfe sind möglich und richten sich nach den allgemeinen Regeln des Strafgesetzbuches (§§ 26, 27 StGB) in Verbindung mit den speziellen Vorschriften des Wehrstrafrechts. Besonderheiten gibt es in Bezug auf Vorgesetzte und Untergebene: Vorgesetzte können sowohl als Täter als auch als Teilnehmer in Erscheinung treten, etwa beim Befehl zu einer Straftat, während Untergebene möglicherweise eine geringere Schuld tragen, wenn sie auf einen rechtswidrigen Befehl hin handeln.
Welche Rechtsmittel stehen im Wehrstrafverfahren zur Verfügung?
Im Wehrstrafverfahren bestehen zahlreiche Möglichkeiten, gegen gerichtliche Entscheidungen vorzugehen. Grundsätzlich kann gegen Urteile der Truppendienstgerichte die Berufung eingelegt werden, bei schwerwiegenden Fällen – etwa bei Verhängung von Freiheitsstrafen – auch die Revision. Das Verfahren richtet sich im Wesentlichen nach den Vorschriften der Wehrstrafverfahrensordnung, die zum Teil auf die Regelungen der ordentlichen Gerichte verweist, insbesondere auf die Strafprozessordnung. Über das Rechtsmittel der Revision entscheidet oft das Bundesgericht, während für Disziplinarmaßnahmen der Bundesverwaltungsgerichtshof zuständig sein kann. Daneben bestehen Antragsrechte auf Wiederaufnahme des Verfahrens und bei bestimmten Rechtsverletzungen der Weg zur Verfassungsbeschwerde vor dem Bundesverfassungsgericht.
Gelten im Wehrstrafrecht besondere Vorschriften für jugendliche Soldaten?
Für jugendliche, das heißt noch nicht volljährige Soldaten, findet grundsätzlich das Jugendgerichtsgesetz (JGG) ergänzend Anwendung. Das bedeutet, dass abweichende strafrechtliche Sanktionen wie Erziehungsmaßregeln, Zuchtmittel oder Jugendstrafe verhängt werden können, die auf die besonderen Bedürfnisse und die geringere Einsichtsfähigkeit jugendlicher Soldaten zugeschnitten sind. Zudem stehen erzieherische Maßnahmen und der Grundsatz des Erziehungsgedankens im Vordergrund. Auch die Verfahrensvorschriften passen sich an, etwa durch spezielle Anhörungspflichten und den Einsatz von Jugendrichtern. Allerdings bleiben bestimmte wehrstrafrechtliche Eigenheiten, insbesondere bezüglich der Militärdisziplin und des militärischen Gehorsams, auch bei jugendlichen Soldaten bestehen.
Wie wird im Wehrstrafrecht mit Befehlsnotstand umgegangen?
Ein Befehlsnotstand liegt vor, wenn ein Soldat eine Straftat auf ausdrücklichen Befehl eines Vorgesetzten begeht. Das Wehrstrafrecht erkennt in solchen Fällen strafrechtliche Rechtfertigungen oder Entschuldigungen unter bestimmten Voraussetzungen an. Maßgeblich sind dabei die Vorschriften des § 17 WStG sowie die allgemeinen Regeln über Notstand und Befehlsverweigerung. Ein Soldat macht sich in der Regel nicht strafbar, wenn der ausgeführte Befehl nicht offensichtlich rechtswidrig war und die Pflicht zur Befehlsverweigerung nicht bestand. Bei offensichtlicher Rechtswidrigkeit, zum Beispiel bei Befehlen zu Straftaten gegen das Leben oder die körperliche Unversehrtheit, kann sich der Soldat hingegen nicht auf Befehlsnotstand berufen und haftet selbst für die ausgeführte Tat, wobei besondere Milderungsgründe geprüft werden können.
Welche internationalen Vorgaben beeinflussen das deutsche Wehrstrafrecht?
Das deutsche Wehrstrafrecht steht unter dem Einfluss internationaler Vorgaben, insbesondere des humanitären Völkerrechts und menschenrechtlicher Abkommen. Dies betrifft zum Beispiel die Verpflichtung zur Ahndung von Kriegsverbrechen und anderen schweren Verstößen gegen das Kriegsvölkerrecht. Die Vorschriften des Völkerstrafgesetzbuchs (VStGB) werden im deutschen Wehrstrafrecht berücksichtigt und können im Falle kriegsbezogener Straftaten auch vorrangig zur Anwendung gelangen. Ebenso ist die Anwendung von Einzelbestimmungen der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) sowie Vorgaben der NATO oder EU für Soldaten relevant, sodass bei Entscheidungen des Strafverfahrens und der Sanktionen stets auch diese übergeordneten Normen zu berücksichtigen sind.