Begriff und Grundprinzip der wahlweisen Verurteilung
Die wahlweise Verurteilung bezeichnet eine besondere Form des Schuldspruchs im Strafverfahren. Sie wird verwendet, wenn feststeht, dass eine strafbare Handlung begangen wurde, das Gericht jedoch trotz umfassender Beweiswürdigung nicht sicher feststellen kann, welches von mehreren in Betracht kommenden Delikten im konkreten Fall verwirklicht ist. Der Schuldspruch enthält dann eine Alternativformel (zum Beispiel: „wegen Delikt A oder Delikt B“), die beide rechtlich gleichwertig erscheinenden Möglichkeiten benennt. Ziel ist es, eine materielle Verantwortlichkeit festzuhalten, ohne das Gebot der Gewissheit zu verletzen, sofern eine eindeutige Zuordnung nicht möglich ist.
Die wahlweise Verurteilung dient der sachgerechten Reaktion auf Beweissituationen, in denen ein Tatvorwurf dem Grunde nach sicher feststeht, die genaue rechtliche Einordnung aber unaufklärbar bleibt. Sie ist nur unter engen Voraussetzungen zulässig und stellt eine Ausnahme vom Regelfall des eindeutigen Schuldspruchs dar.
Abgrenzungen und Begriffsfelder
Wahlfeststellung
Die wahlweise Verurteilung knüpft inhaltlich an die Wahlfeststellung an. Dabei unterscheidet man zwei Grundformen: Bei der gleichartigen Wahlfeststellung steht fest, dass ein bestimmter Unrechtskern verwirklicht wurde, unklar ist nur, welche Variante desselben Deliktstyps einschlägig ist. Bei der ungleichartigen Wahlfeststellung geht es um zwei unterschiedliche Delikte, die dem Unrechtsgehalt nach vergleichbar sind und in einer konkreten Beweislage alternativ in Betracht kommen. In beiden Varianten gilt: Sicher ist, dass ein strafbares Verhalten vorliegt; unklar bleibt, welches von mehreren Delikten konkret erfüllt ist.
Alternativverurteilung (Begriffsnähe)
Der Begriff „Alternativverurteilung“ wird teils synonym verwendet, teils abweichend verstanden. Entscheidend ist, dass keine Verurteilung auf bloßen Verdacht erfolgt. Es genügt nicht, dass eines von mehreren Delikten „wahrscheinlich“ ist. Erforderlich ist die Gewissheit, dass die Person eine strafbare Handlung begangen hat, und lediglich die Zuordnung zu einer von mehreren rechtlich vergleichbaren Alternativen offenbleibt.
Abgrenzung zur unzulässigen Wahrscheinlichkeitsverurteilung
Unzulässig ist jede Verurteilung, die sich auf bloße Wahrscheinlichkeit stützt. Wenn nicht sicher feststeht, dass überhaupt eine Strafbarkeit verwirklicht wurde, ist ein Freispruch geboten. Die wahlweise Verurteilung setzt also Gewissheit der Strafbarkeit dem Grunde nach voraus und unterscheidet sich damit klar von einer Wahrscheinlichkeitsverurteilung.
Voraussetzungen der wahlweisen Verurteilung
Sichere Feststellung eines strafbaren Verhaltens
Unabdingbar ist die tatrichterliche Gewissheit, dass die angeklagte Person eine rechtswidrige und schuldhafte Tat begangen hat. Offen bleiben darf nur, unter welchen von mehreren in Betracht kommenden Deliktsalternativen diese Tat rechtlich einzuordnen ist.
Erfolglose Ausschöpfung der Aufklärungsmöglichkeiten
Die Unaufklärbarkeit der genauen Deliktsvariante muss trotz umfassender Beweiserhebung, sorgfältiger Beweiswürdigung und Ausschöpfung realistischer Erkenntnismöglichkeiten verbleiben. Die wahlweise Verurteilung ist ein letztes Mittel, wenn eine eindeutige Feststellung nicht erreichbar ist.
Rechtsethische und strukturelle Vergleichbarkeit
Die in Betracht kommenden Alternativen müssen ihrem Unrechts- und Schuldgehalt nach vergleichbar sein. Die Vergleichbarkeit soll verhindern, dass Delikte gänzlich verschiedener Art gegeneinander „gestellt“ werden. Der Vorwurf darf sich nicht zwischen Alternativen bewegen, deren kriminalpolitische Bewertung wesentlich auseinandergeht.
Bestimmtheit von Tat und Schuldspruch
Obwohl der Schuldspruch die Alternativen benennt, müssen Tatgeschehen, Handlungsbeitrag, Tatzeit und Tatopfer bzw. Tatobjekt hinreichend bestimmt sein. Die Urteilsgründe müssen nachvollziehbar darlegen, weshalb eine eindeutige Zuordnung nicht möglich ist und warum die genannten Alternativen in Betracht kommen.
Rechtsfolgen und Strafzumessung
Schuldspruchformel und Urteilsgründe
Der Urteilstenor nennt die Deliktsalternativen ausdrücklich. In den Gründen stellt das Gericht die Tatsachen fest, begründet die Beweiswürdigung und erläutert die Unaufklärbarkeit der genauen rechtlichen Einordnung. Die Alternativen dürfen nicht vage oder unbegrenzt sein; es geht um klar umrissene, rechtlich bestimmte Möglichkeiten.
Strafrahmen und Maß der Strafe
Für die Strafzumessung wird an der jeweils milderen rechtlichen Alternative ausgerichtet, damit keine strengere Sanktion verhängt wird, als sie in jedem Fall gerechtfertigt wäre. Die konkrete Strafe muss den Grundsätzen der Tat- und Schuldangemessenheit entsprechen und darf den milderen Strafrahmen nicht überschreiten.
Nebenfolgen und weitere Rechtsfolgen
Nebenfolgen und sonstige Rechtsfolgen (etwa berufsbezogene Auswirkungen, Fahrverbot, Einziehung) kommen nur in Betracht, wenn sie für jede der in Frage stehenden Alternativen rechtlich möglich sind. Bestehen Unterschiede, ist zugunsten der angeklagten Person von der jeweils milderen Alternative auszugehen.
Typische Konstellationen
Vermögensdelikte mit Alternativen
Häufig ergeben sich Alternativen zwischen zwei Delikten, die denselben Vermögensschaden betreffen, aber unterschiedliche Rollen oder Zeitpunkte beschreiben. Ein klassisches Beispiel ist die Ungewissheit, ob jemand die Ersttat begangen oder erst später an der Verwertung fremder Beute mitgewirkt hat. Beide Alternativen beruhen auf einem ähnlichen Unrechtskern in Bezug auf das geschützte Vermögen.
Täterschaft und Teilnahme
Mitunter steht sicher fest, dass eine strafbare Tat begangen wurde und die angeklagte Person daran beteiligt war, unklar bleibt aber, ob sie Täter oder Gehilfe war. In solchen Fällen kann die wahlweise Verurteilung die Beteiligungsform alternativ benennen, sofern die weiteren Voraussetzungen erfüllt sind.
Varianten desselben Deliktstyps
Bei gleichartigen Konstellationen kann offenbleiben, welche gesetzliche Variante eines einheitlichen Deliktstyps erfüllt ist, etwa weil ein einzelnes Merkmal nicht abschließend geklärt werden kann, die Tat als solche jedoch feststeht.
Grenzen und Streitpunkte
Unschuldsvermutung und Schuldprinzip
Die wahlweise Verurteilung berührt fundamentale Grundsätze: Niemand darf ohne Schuldnachweis verurteilt werden, und Zweifel gehen grundsätzlich zulasten der Anklage. Ihre Zulässigkeit setzt daher gesicherte Feststellungen und eine klare Begründung voraus. Wo Unsicherheit bereits die Strafbarkeit dem Grunde nach betrifft, ist sie ausgeschlossen.
Bestimmtheit und Transparenz
Der Schuldspruch muss für die betroffene Person, das Registerwesen und die Öffentlichkeit verständlich und hinreichend bestimmt sein. Unklare oder offene Formeln gefährden die Rechtssicherheit. Die Alternativen müssen so konkret gefasst werden, dass der Schuldvorwurf inhaltlich nachvollziehbar bleibt.
Verhältnis zu „in dubio pro reo“
Der Grundsatz, dass im Zweifel zugunsten der angeklagten Person zu entscheiden ist, bleibt gewahrt: Bestehen Zweifel an der Tat als solcher, darf nicht verurteilt werden. Die wahlweise Verurteilung greift nur ein, wenn die Tat dem Grunde nach feststeht, aber die Zuordnung zu einer von mehreren, gleichwertig bewerteten rechtlichen Alternativen offenbleibt.
Mehrzahl komplexer Alternativen
Je weiter die Alternativen auseinanderliegen oder je zahlreicher sie sind, desto eher scheidet eine wahlweise Verurteilung aus. Die Praxis verlangt eine überschaubare, strukturierte und vergleichbare Auswahl, die durch die Beweislage konkret begrenzt ist.
Verfahrensrechtliche Aspekte
Urteilstenor und Begründungsanforderungen
Die Tenorierung enthält die Alternativen ausdrücklich. Die schriftlichen Gründe müssen die tatsächlichen Feststellungen, die Bewertung der Beweise und die Unaufklärbarkeit der Differenzierung sorgfältig dokumentieren. Dies dient der Nachprüfbarkeit und der Wahrung der Verfahrensgrundsätze.
Rechtsmittel
In einem Rechtsmittelverfahren wird überprüft, ob die Voraussetzungen eingehalten wurden, die Beweiswürdigung tragfähig ist und die Strafzumessung sich am milderen Rahmen orientiert. Bei Zweifeln an der tragenden Gewissheit oder an der Vergleichbarkeit der Alternativen kann der Schuldspruch keinen Bestand haben.
Weitere Wirkungen
Die wahlweise Verurteilung erfasst den abgeurteilten Lebenssachverhalt insgesamt. Eine spätere erneute Verfolgung wegen einer der genannten Alternativen ist in der Regel ausgeschlossen, da der Schuldvorwurf denselben historischen Vorgang betrifft. Korrekturen sind nur in engen, gesetzlich geregelten Ausnahmekonstellationen möglich.
Bedeutung in der Praxis
Die wahlweise Verurteilung ist ein eng begrenztes Instrument, das in atypischen Beweislagen Anwendung findet. Sie soll verhindern, dass eine nachweislich strafbare Handlung sanktionslos bleibt, ohne die Grenzen des Schuldprinzips zu überschreiten. Die praktische Relevanz ist eher zurückhaltend, die Anforderungen an Begründung und Transparenz sind hoch.
Häufig gestellte Fragen (FAQ)
Was bedeutet wahlweise Verurteilung?
Sie bezeichnet einen Schuldspruch, der zwei klar benannte Deliktsalternativen enthält, weil zwar feststeht, dass eine strafbare Handlung begangen wurde, die genaue rechtliche Einordnung jedoch trotz umfassender Aufklärung offenbleibt.
Wann kommt eine wahlweise Verurteilung in Betracht?
Nur dann, wenn die Strafbarkeit dem Grunde nach sicher feststeht, die Zuordnung zu einer von mehreren rechtlich vergleichbaren Alternativen jedoch unaufklärbar ist, obwohl alle zumutbaren Beweismittel ausgeschöpft wurden.
Wie wirkt sich die wahlweise Verurteilung auf die Strafe aus?
Die Strafe wird am milderen der betroffenen Alternativen ausgerichtet. So wird sichergestellt, dass keine strengere Rechtsfolge verhängt wird, als sie in jeder der beiden Alternativen zulässig wäre.
Ist eine wahlweise Verurteilung mit der Unschuldsvermutung vereinbar?
Ja, sofern feststeht, dass eine strafbare Tat begangen wurde, und nur die rechtliche Einordnung zwischen vergleichbaren Alternativen unklar bleibt. Bestehen Zweifel bereits an der Strafbarkeit als solcher, ist eine Verurteilung ausgeschlossen.
Worin liegt der Unterschied zur unzulässigen Wahrscheinlichkeitsverurteilung?
Die wahlweise Verurteilung setzt Gewissheit über die Tat voraus und belässt nur die rechtliche Alternative offen. Eine Wahrscheinlichkeitsverurteilung würde auf bloßen Verdacht gestützt und ist unzulässig.
Kann nach einer wahlweisen Verurteilung nochmals wegen einer der Alternativen verfolgt werden?
In der Regel nicht. Der abgeurteilte Lebenssachverhalt ist durch den Schuldspruch insgesamt erfasst, sodass eine erneute Verfolgung wegen derselben Tat ausgeschlossen ist.
Gibt es die wahlweise Verurteilung auch außerhalb des Strafrechts?
Ihr Anwendungsbereich liegt im Strafverfahren. In anderen Rechtsgebieten gelten abweichende Strukturen und Beweismaßstäbe, die eine solche Form des Schuldspruchs regelmäßig nicht vorsehen.