Wahlfeststellung im deutschen Strafrecht
Die Wahlfeststellung stellt einen bedeutsamen Begriff im deutschen Strafrecht dar. Sie beschreibt eine prozessuale Entscheidungstechnik in Fällen, in denen ein Gericht sich nicht sicher festlegen kann, welche von mehreren rechtlichen Möglichkeiten tatsächlich verwirklicht wurde, jedoch sicher ist, dass mindestens eine strafbare Handlung begangen wurde. Die Wahlfeststellung ermöglicht es dem Gericht, einen Schuldspruch trotz bestehender Unsicherheiten im Tatgeschehen oder hinsichtlich der rechtlichen Qualifikation zu fällen. Im Folgenden werden die rechtlichen Grundlagen, Anwendungsbereiche sowie die dogmatischen und praktischen Implikationen der Wahlfeststellung umfassend dargestellt.
Begriff und rechtliche Einordnung
Die Wahlfeststellung kommt zum Tragen, wenn das Gericht zwischen mehreren in Betracht kommenden Straftaten oder Begehungsweisen nicht eindeutig entscheiden kann. Dabei muss jedoch ausgeschlossen sein, dass beide Alternativen zugleich verwirklicht wurden (sog. „entweder-oder“-Konstellation). Sie wird unterschieden in die sogenannte echte Wahlfeststellung und unechte Wahlfeststellung.
Echte Wahlfeststellung
Die echte Wahlfeststellung liegt vor, wenn sich Zweifel lediglich auf die tatsächlichen, nicht jedoch auf die rechtlichen Grundlagen beziehen. Das Gericht weiß sicher, dass eine strafbare Handlung begangen wurde, aber nicht, welche von zwei sich gegenseitig ausschließenden Tatvarianten vorliegt. Klassisches Beispiel ist die Unklarheit darüber, ob eine Person einen Diebstahl oder eine Unterschlagung begangen hat.
Unechte Wahlfeststellung
Von einer unechten Wahlfeststellung spricht man, wenn sich die Unsicherheit nicht auf die Tatsachen, sondern im Wesentlichen auf die rechtliche Subsumtion bezieht. Es ist also eindeutig, welcher Sachverhalt vorliegt, jedoch nicht, unter welchen Straftatbestand dieser zu subsumieren ist. Diese Form ist verfassungsrechtlich problematisch, da sie den Schuldgrundsatz berühren kann und deshalb nach herrschender Meinung unzulässig ist.
Voraussetzungen und Grenzen der Wahlfeststellung
Die Anwendung der Wahlfeststellung unterliegt strikten Voraussetzungen. Die Rechtsprechung hat hierzu folgende Kriterien entwickelt:
- Unvereinbarkeit der Alternativen: Die in Betracht kommenden Handlungsweisen müssen sich gegenseitig ausschließen (Entweder-Oder).
- Sicherer Nachweis einer Straftat: Das Gericht muss überzeugt sein, dass mindestens eine strafbare Handlung vorliegt.
- Keine Strafbarkeitsverschärfung: Die Strafandrohung darf sich durch die Wahlfeststellung gegenüber den Einzelfällen nicht erhöhen.
- Keine Anwendung bei Qualifikationen: Es darf nicht offenbleiben, ob ein Grundtatbestand oder ein mit erhöhter Strafe belegter Qualifikationstatbestand verwirklicht wurde.
- Keine Ungewissheit hinsichtlich der Täterschaft: Die Täterschaft muss sicher feststehen.
Die sogenannten „sukzessiven“ Wahlfeststellungen, bei denen das Gericht nicht entscheiden kann, ob eine Person eine Tat als Täter oder Teilnehmer begangen hat, sind unzulässig, da sie mit den Anforderungen des Schuldprinzips kollidieren.
Praktische Bedeutung und Anwendungsfälle
Die Wahlfeststellung hat insbesondere in Bereichen eine praktische Bedeutung, in denen eine vollständige Rekonstruktion des Tatgeschehens nicht möglich ist, die Beweislage aber zweifelsfrei für eine strafbare Handlung spricht. Typische Anwendungsfälle finden sich etwa im Vermögensstrafrecht und im Bereich von Eigentumsdelikten.
Fallbeispiel
Ein typischer Fall aus der Rechtsprechung: Es besteht kein Zweifel, dass ein Wertgegenstand abhanden gekommen ist und der Beschuldigte diesen in Besitz hatte. Es bleibt aber unklar, ob er ihn an sich genommen (Diebstahl) oder sich rechtswidrig angeeignet hat, nachdem der Gegenstand ihm anvertraut worden war (Unterschlagung). In solchen Fällen kann eine Wahlfeststellung zwischen Diebstahl und Unterschlagung erfolgen.
Bedeutung für die Rechtsfolgenseite
Die Wahlfeststellung darf den Angeklagten nicht in eine schlechtere Rechtsposition versetzen, als wenn das Gericht sich eindeutig auf eine Variante festgelegt hätte. Insbesondere darf keine Strafverschärfung eintreten; die Sanktion bemisst sich nach dem milderen der in Betracht kommenden Tatbestände gem. § 354 Abs. 1a StPO.
Rechtsprechung und Literatur
Das Bundesverfassungsgericht sowie der Bundesgerichtshof haben die Zulässigkeit und die Grenzen der Wahlfeststellung mehrfach betont und präzisiert. Entscheidende Maßstäbe wurden insbesondere im Hinblick auf den Bestimmtheitsgrundsatz (Art. 103 Abs. 2 GG) sowie das Schuldprinzip entwickelt.
Grundsatzurteile
- Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 26.06.1979, 2 BvR 645/78: Das Gericht stellte klar, dass echte Wahlfeststellungen verfassungsrechtlich zulässig sind, sofern hinreichende Sicherheit über eine Straftat besteht und keine unsichere Rechtsfolge für den Angeklagten resultiert.
- Bundesgerichtshof, Beschluss vom 14.12.2000 – 4 StR 367/00: Der BGH betonte die restriktive Anwendung der Wahlfeststellung und die Notwendigkeit klarer alternativer Sachverhalte.
Abgrenzung zu verwandten Begriffen
Die Wahlfeststellung ist von anderen strafprozessualen Entscheidungsformen abzugrenzen, insbesondere von der Tatmehrheit und der Besinnung auf die alternativ zur Anklage stehenden Tatbestände. Anders als bei der Tatmehrheit fehlt bei der Wahlfeststellung die eindeutige Feststellung mehrerer selbstständiger Handlungen.
Rechtsdogmatische Einordnung
Die Wahlfeststellung wirft bedeutende Fragen im Hinblick auf das verfassungsrechtliche Schuldbewusstsein und das strafprozessuale Bestimmtheitsgebot auf. Es muss stets gesichert sein, dass die Ungewissheit in rechtlich zulässiger Weise und unter Ausschluss belastender Konsequenzen für Betroffene geklärt wird.
Fazit
Die Wahlfeststellung stellt ein bedeutendes Instrument im deutschen Strafprozessrecht dar, das eine Balance zwischen dem kriminalpolitischen Interesse an der Ahndung strafbaren Verhaltens und den verfassungsrechtlichen Garantien für Beschuldigte herstellt. Die gewissenhafte Anwendung und die strikte Beachtung ihrer Voraussetzungen sind unverzichtbar, um den Anforderungen des Rechtsstaatsprinzips sowie dem Gebot der materiellen Gerechtigkeit zu genügen.
Weiterführende Literatur
- Roxin, Claus: Strafrecht, Allgemeiner Teil, Band I, § 13 Rn. 16 ff.
- Schönke/Schröder, Strafgesetzbuch, Kommentar, § 261 Rn. 17.
- Karlsruher Kommentar zur Strafprozessordnung, § 261 StPO.
Diese lexikalische Darstellung der Wahlfeststellung dient der vertieften Information innerhalb eines Rechtslexikons und gibt den aktuellen Stand zu Definition, rechtlichen Grundlagen und Anwendungspraxis im deutschen Strafrecht umfassend wieder.
Häufig gestellte Fragen
Wann und durch wen erfolgt die Wahlfeststellung im Strafverfahren?
Die Wahlfeststellung erfolgt im Strafverfahren grundsätzlich durch das erkennende Gericht, also durch das Amts-, Land- oder Oberlandesgericht, das über die Straftatsache entscheidet. Der Zeitpunkt der Wahlfeststellung liegt meist am Ende der Beweisaufnahme im Urteil, wenn das Gericht zu dem Schluss kommt, dass sich der Angeklagte zwar zweifelsfrei strafbar gemacht hat, aber nicht festzustellen ist, welche von mehreren rechtlich strafbaren Handlungen er tatsächlich begangen hat. Die Wahlfeststellung ist somit eine gerichtliche Entscheidung, die insbesondere dann relevant wird, wenn alternative Geschehensabläufe zwar bewiesen, aber keiner von ihnen sicher ausgeschlossen werden kann. Bei der Urteilsfindung muss das Gericht aber sicher sein, dass jede der zur Wahl stehenden Tathandlungen den Tatbestand des in Rede stehenden Delikts erfüllt und diese tatbestandlich gleichwertig zueinander stehen.
Welche rechtlichen Voraussetzungen müssen für eine Wahlfeststellung erfüllt sein?
Für die rechtmäßige Anwendung der Wahlfeststellung müssen bestimmte rechtliche Voraussetzungen erfüllt sein. Zunächst muss ein sogenannter Sachverhaltsalternativität vorliegen, das heißt, es gibt mehrere feststehende, sich gegenseitig ausschließende Geschehensalternativen, zwischen denen das Gericht nicht mit der für eine Verurteilung erforderlichen Sicherheit entscheiden kann. Jede der zur Auswahl stehenden Alternativen muss für sich genommen eine strafbare Handlung darstellen. Weiter verlangt die Rechtsprechung, dass die Alternativen rechtsethisch und strafrechtlich gleichwertig sind, sodass keine von ihnen ein schwereres oder ein milderes Unrecht ausmacht als die andere(n) und keine mit jeweils unterschiedlichen Strafen bedroht ist. Die Wahlfeststellung darf außerdem nicht darauf hinauslaufen, dass dem Angeklagten im Ergebnis mehrere Taten vorgeworfen oder gar bestraft werden, es muss sich also um eine sog. echte Alternativität und nicht um eine Kumulierung handeln.
Wie unterscheidet sich die Wahlfeststellung von der alternativen oder kumulativen Verurteilung?
Die Wahlfeststellung ist klar abzugrenzen von anderen Methoden der strafrechtlichen Urteilsfindung, insbesondere von der alternativen oder kumulativen Verurteilung. Bei der Wahlfeststellung liegt eine sog. echte (oder „alternative“) Konkurrenz mehrerer, sich gegenseitig ausschließender Tathandlungen vor, bei denen das Gericht nicht mit letzter Sicherheit sagen kann, welche durchgeführt wurde, aber in jedem Fall eine strafbare Handlung. Eine alternative Verurteilung („entweder … oder …“) wäre hingegen unzulässig, weil das Schuldprinzip verlangt, dass eine strafbare Handlung dem Angeklagten ohne Zweifel zugeordnet werden kann. Die kumulative Verurteilung (Annahme mehrerer Taten zugleich) ist rechtswidrig, wenn diese sich gegenseitig ausschließen. Die Wahlfeststellung ist damit ein Mittel, dem Schuldprinzip Rechnung zu tragen und trotzdem eine Verurteilung zu ermöglichen, wenn feststeht, dass jedenfalls eine der gleichwertigen Handlungen begangen wurde.
Welche Bedeutung hat der Grundsatz „in dubio pro reo“ bei der Wahlfeststellung?
Der Grundsatz „in dubio pro reo“ (Im Zweifel für den Angeklagten) spielt auch bei der Wahlfeststellung eine zentrale Rolle. Er besagt, dass der Angeklagte im Zweifel frei zu sprechen ist, wenn die Überzeugung von seiner Schuld nicht mit der notwendigen Sicherheit getroffen werden kann. Bei der Wahlfeststellung ist diese Sicherheit jedoch insoweit gegeben, als feststeht, dass der Angeklagte jedenfalls eine von mehreren bestimmten, strafbaren Handlungen (alternativ) begangen hat. Unzulässig wird die Wahlfeststellung nur dann, wenn begründete Zweifel bezüglich der Tat oder der Alternativen bestehen, das heißt, wenn nicht sicher festgestellt werden kann, dass mindestens eine der in Betracht kommenden Möglichkeiten den gesetzlichen Tatbestand erfüllt. Bestehen solche Zweifel an der Tatbestandsmäßigkeit oder Strafbarkeit sämtlicher Alternativen, ist der Angeklagte freizusprechen.
Wie wirkt sich eine Wahlfeststellung auf den Schuldspruch und die Strafzumessung aus?
Bei einer Wahlfeststellung muss im Schuldspruch das in allen Alternativen Gemeinsame festgestellt werden, da nicht sicher ist, welche der Alternativen tatsächlich vorliegt. Das Urteil enthält deshalb im Tenor keine Formulierung wie „wegen tatbestandlicher Wahlfeststellung“ oder „wegen einer der folgenden Alternativen“, sondern benennt das einschlägige Delikt (zum Beispiel „wegen Diebstahls“). In den Urteilsgründen ist aber detailliert darzulegen, wegen welcher voneinander unabhängigen, aber alternativ zur Wahl stehenden Sachverhalte eine Verurteilung erfolgt und warum keine dieser Alternativen mit der erforderlichen Sicherheit ausgeschlossen werden kann. Für die Strafzumessung ist zu beachten, dass keine der Alternativen zu einer schwereren Strafe führen darf, als sie für jede einzelne in Betracht kommende Handlung zulässig wäre. Das Gericht muss also darauf achten, dass der Angeklagte bei der Strafzumessung nicht schlechter gestellt wird, als wenn nur eine Alternative feststände.
Welche Grenzen setzt die Rechtsprechung der Wahlfeststellung?
Die Rechtsprechung setzt der Wahlfeststellung enge Grenzen. Insbesondere ist sie unzulässig, wenn die Alternativen nicht rechtsethisch und tatbestandlich gleichwertig sind, das heißt, wenn sie zu unterschiedlich schweren Unrechts- bzw. Schuldvorwürfen führen würden oder unterschiedlich hohe Strafrahmen bedingen. Wahlfeststellung ist auch ausgeschlossen, wenn die Alternativen zu unterschiedlichen Rechtsfolgen (z.B. Vergehen und Verbrechen) führen oder unterschiedliche Beteiligungsformen (z.B. Täterschaft und Teilnahme) betreffen. Ebenso darf keine Wahlfeststellung getroffen werden, wenn jedenfalls eine der Alternativen mit Strafausschließungs- oder Strafaufhebungsgründen belastet ist oder wenn Zweifel an der Identität des Täters bestehen. Schließlich sind Wahlfeststellungen im Zusammenhang mit bestimmten spezifischen Delikten, die eine besonders präzise Tatbeschreibung verlangen (wie Urkundendelikte), besonders zurückhaltend anzuwenden.