Definition und rechtliche Einordnung des Vollrauschs
Der Begriff Vollrausch bezeichnet im deutschen Strafrecht einen Zustand, in dem eine Person aufgrund des Konsums berauschender Mittel – in der Regel Alkohol, vereinzelt auch andere berauschende Substanzen – ihre Steuerungs- und Einsichtsfähigkeit erheblich oder vollständig verliert. Die rechtliche Behandlung des Vollrauschs erfolgt vor allem durch § 323a Strafgesetzbuch (StGB), der das eigenständige Straftatbild des Vollrauschs normiert.
Historische Entwicklung und gesetzgeberischer Hintergrund
Die Norm des § 323a StGB wurde eingeführt, um Strafbarkeitslücken zu schließen, die sich aus der Entschuldigung oder Schuldunfähigkeit durch selbstverschuldeten Rausch ergeben. Traditionell war im deutschen Strafrecht zu beobachten, dass bei Handlungen im Zustand der Schuldunfähigkeit eine Straflosigkeit eintrat, sofern kein Vorsatz oder Fahrlässigkeit für eine Straftat bestand. Insbesondere dann, wenn sich eine Person absichtlich oder leichtfertig in einen tiefen Rauschzustand versetzte, um anschließend eine tatbestandsmäßige Handlung zu begehen, griff der Gesetzgeber mit § 323a StGB ein.
Tatbestand des Vollrauschs nach § 323a StGB
Objektiver Tatbestand
- Versetzen in den Rausch
Die tatbestandliche Handlung besteht darin, dass sich eine Person durch den Genuss alkoholischer Getränke oder anderer berauschender Mittel willentlich in einen schweren Rausch versetzt. Unter berauschenden Mitteln werden neben Alkohol auch Drogen sowie Medikamente mit psychoaktiver Wirkung verstanden.
- Fremdes Strafrechtlich erhebliches Verhalten im Rausch
Im Rauschzustand muss die betroffene Person eine rechtswidrige Tat im Sinne des Strafrechts begehen, auch wenn sie für diese Handlung nicht verantwortlich ist (§ 20 StGB). Die Tatmuster reichen von Körperverletzung bis zu Sachbeschädigung.
Subjektiver Tatbestand
Das Gesetz statuierte ursprünglich eine Vorsatzstrafbarkeit. Nach aktueller Fassung erfasst der Tatbestand jedoch auch die fahrlässige Herbeiführung des Rausches, sofern sich die fahrlässige Begehung einer im Rausch begangenen Straftat andere Normen eröffnen (§ 323a Abs. 2 StGB).
Erforderlich ist daher mindestens das Bewusstsein, sich berauschenden Mitteln auszusetzen, wobei hinsichtlich der im Rausch begangenen Tat kein Vorsatz vorausgesetzt wird. Es genügt, wenn die Möglichkeit des Erreichens eines tiefen Rauschzustandes erkennbar ist.
Rechtsfolge
Wer die Voraussetzungen des § 323a StGB erfüllt, macht sich wegen Vollrauschs strafbar und kann mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft werden. Der Versuch ist nicht strafbar, da es sich um ein echtes Unterlassungsdelikt handelt.
Verhältnis zur Schuldunfähigkeit (§ 20 StGB) und actio libera in causa
Eine Person im Zustand des Vollrauschs ist häufig gemäß § 20 StGB schuldunfähig. Wird allerdings die Betäubung vorsätzlich bzw. in Kenntnis ihrer enthemmenden Wirkung herbeigeführt, um eine spätere Tat zu begehen (sog. actio libera in causa), kommt eine Strafbarkeit wegen der im Rausch begangenen Straftat selbst in Betracht.
§ 323a StGB knüpft in der Praxis daran an, dass der Täter sich schuldhaft in den Rausch versetzt, ohne bereits im Zeitpunkt der Rauscherzeugung die konkret später begangene Straftat zu planen. Wird eine Tat im Rausch vorsätzlich vorbereitet (aus dolus directus), liegt regelmäßig eine Strafbarkeit gemäß derjenigen Tatbestände vor, die im Rausch verwirklicht wurden.
Abgrenzungen und praktische Auswirkungen
Abgrenzung zu anderen Straftatbeständen
- Straftaten im Rausch
Wird eine Straftat im Zustand verminderter Steuerungsfähigkeit (§ 21 StGB) begangen, ohne dass eine vollständige Schuldunfähigkeit erreicht wird, ist regulär nach dem jeweiligen Straftatbestand abzuurteilen.
- Ordnungswidrigkeiten
Ordnungswidriges Verhalten im Zustand des Vollrausches ist regelmäßig im Verwaltungsrecht oder im Rahmen des Bußgeldrechts nach den jeweiligen Vorschriften zu behandeln, sofern die Schwelle zur Strafbarkeit nicht überschritten wird.
Medizinisch-psychologische Aspekte
Die Feststellung eines Vollrauschs erfordert regelmäßig medizinische und psychologische Gutachten. Die Rechtsprechung betrachtet einen Blutalkoholgehalt von etwa 3,0 Promille als Richtwert für das Vorliegen einer absoluten Schuldfähigkeit bei alkoholbedingtem Rausch.
Strafzumessung und rechtliche Folgen
Im Rahmen der Strafzumessung bei Vollrausch wird das Maß der Eigenverantwortlichkeit, das Ausmaß des Rauschzustandes und die persönliche Verantwortung für den Zustand des Vollrausches bewertet. Wiederholungsdelikte oder ein besonders grober Unrechtsgehalt können strafschärfend wirken.
Neben der Strafe nach § 323a StGB kann in Einzelfällen eine Unterbringung nach Maßregeln der Besserung und Sicherung (insbesondere Entzug nach § 64 StGB) angeordnet werden, sofern Anhaltspunkte für eine Suchterkrankung bestehen.
Vollrausch im Jugendstrafrecht
Für Heranwachsende und Jugendliche gilt § 323a StGB prinzipiell gleichermaßen, allerdings ist hier eine besondere Berücksichtigung der persönlichen Entwicklung und der Erziehungsbedürftigkeit vorzunehmen. Im Jugendstrafrecht spielt die Frage nach der Verantwortlichkeit häufig eine herausgehobene Rolle.
Internationales Recht und vergleichbare Regelungen
Auch in anderen Rechtsordnungen finden sich strafrechtliche Regelungen, die das Verhalten im selbstverschuldeten Rausch sanktionieren. Die Einzelheiten variieren allerdings nach Land und Rechtstradition. Im Kontext internationaler Vergehen und Taten im Ausland können verschiedene Zuständigkeiten und Rechtsfolgen relevant werden.
Bedeutung in der Rechtsprechung und Praxis
Die deutsche Rechtsprechung setzt den Tatbestand des Vollrausches restriktiv ein: Der Vorsatz zur Tathandlung im Rausch steht regelmäßig der Anwendung des § 323a StGB entgegen, sodass dieser nur bei tatsächlichen Straffreiheiten aus Schuldunfähigkeit greift. In der Praxis ist § 323a StGB vor allem bei schweren Ausmaßen alkoholbedingter beziehungsweise drogenbedingter Ausfälle einschlägig.
Literaturhinweise und weiterführende Informationen
Der Vollrausch bleibt ein zentrales Thema im Strafrecht, insbesondere im Spannungsfeld von Schuldprinzip und Eigenverantwortung. Für vertiefende Betrachtungen sind Kommentarwerke zum StGB und einschlägige Handbücher zur Rauschmittelproblematik heranzuziehen.
Hinweis: Dieser Artikel bietet einen strukturierten Überblick zu den rechtlichen Grundlagen des Vollrausches und berücksichtigt die wesentlichen Aspekte für die Strafrechtsanwendung und Praxis.
Häufig gestellte Fragen
Welche rechtlichen Konsequenzen drohen bei einer Straftat im Zustand des Vollrausches?
Wer im Zustand des Vollrausches (gemäß § 323a StGB) eine Straftat begeht, kann sich strafbar machen, auch wenn er im Moment der Tat schuldunfähig ist. Der Gesetzgeber sieht den Vollrausch als eigenständiges Gefährdungsdelikt an. Wer sich wissentlich oder fahrlässig bis zur Schuldunfähigkeit oder erheblichen Verminderung der Schuldfähigkeit in einen Rausch versetzt und in diesem Zustand eine rechtswidrige Tat begeht, kann unabhängig von der eigentlichen Tatbestandsverwirklichung bestraft werden. Die Strafe orientiert sich an dem Strafrahmen der im Rausch begangenen Tat, jedoch ist sie auf fünf Jahre Freiheitsstrafe oder Geldstrafe beschränkt. Außerdem ist Voraussetzung, dass der Täter nicht bestraft werden kann, weil er wegen des Rausches schuldunfähig war; nur dann kommt eine Verurteilung wegen Vollrausches in Betracht (sog. Auffangcharakter des § 323a StGB).
Welche Voraussetzungen müssen vorliegen, damit § 323a StGB Anwendung findet?
Für die Anwendung des § 323a StGB müssen mehrere Voraussetzungen erfüllt sein: Zunächst muss sich eine Person durch alkoholische oder andere berauschende Mittel in einen Zustand versetzen, durch den entweder schuldunfähig (§ 20 StGB) oder erheblich vermindert schuldfähig (§ 21 StGB) gemacht wird. Die Rauscheinwirkung kann sowohl vorsätzlich als auch fahrlässig herbeigeführt werden. Während des Rausches muss die Person eine rechtswidrige Tat begehen. Die Schuldunfähigkeit im Zeitpunkt der Tatbegehung muss existent und nachweisbar sein. Es dürfen keine sonstigen Gründe für ein schuldhaftes Verhalten des Täters vorliegen, wie z. B. Steuerungsfähigkeit trotz Alkoholisierung.
Besteht bei einem Vollrausch immer Strafbarkeit oder gibt es Ausnahmen?
Es gibt Ausnahmen: Wer beispielsweise eine Straftat im Zustand des Vollrausches begeht, aber aufgrund einer psychischen Erkrankung bereits unabhängig vom Alkoholgenuss schuldunfähig ist, unterliegt nicht der Strafbarkeit nach § 323a StGB. Zudem ist die Tat nicht strafbar, wenn sie nicht rechtswidrig ist oder kein Straftatbestand erfüllt wird. Ebenso ist der § 323a StGB keine Grundlage für Ordnungswidrigkeiten oder reines Fehlverhalten ohne Gefährdung geschützter Rechtsgüter. Ein weiteres Beispiel ist die eigenverantwortliche Selbstgefährdung, die nicht von der Vorschrift erfasst wird.
Inwieweit spielt das Maß der Alkoholisierung eine Rolle bei der rechtlichen Bewertung des Vollrausches?
Das Maß der Alkoholisierung spielt eine entscheidende Rolle. Die Rechtsprechung zieht hierbei sogenannte BAK-Grenzen (Blutalkoholkonzentration) heran, um die Schuld(un)fähigkeit festzustellen. Schuldunfähigkeit wird in der Regel ab 3,0 Promille angenommen, bei Tötungsdelikten schon ab 2,2 Promille. Ab einer BAK von 2,0 Promille prüft das Gericht regelmäßig eine erhebliche Verminderung der Schuldfähigkeit. Allerdings sind stets die persönlichen Umstände zu berücksichtigen, wie Alkoholtoleranz oder Mischkonsum mit anderen berauschenden Mitteln. Die genaue Einordnung bleibt letztlich eine Frage des Einzelfalls und erfordert häufig ein rechtsmedizinisches Gutachten.
Kann der Täter auch dann belangt werden, wenn er bereits vorher wusste, dass er im berauschten Zustand Straftaten begehen könnte?
Ja, ein sogenannter „Vorbereiteter Vollrausch“ kann strafrechtlich relevant sein. Wer vorsätzlich oder zumindest fahrlässig in Kauf nimmt, im Zustand des Rausches zum Straftäter zu werden, unterliegt ebenso der Strafbarkeit nach § 323a StGB. Das bedeutet, wer etwa von seiner Neigung zu Gewaltexzessen bei Alkoholgenuss weiß und sich trotz dieses Wissens betrinkt, muss sich die folgenden Straftaten im Vollrausch zurechnen lassen.
Wie wird die Strafe beim Vollrausch bemessen?
Die Strafe richtet sich nach dem Strafrahmen der im Rausch begangenen Tat, ist jedoch nach oben hin auf fünf Jahre Freiheitsstrafe oder Geldstrafe beschränkt. Bei der Festlegung der Strafe werden Tatfolgen, die Tatschuld und das Maß der Alkoholisierung berücksichtigt. Die Höchststrafe kann nicht überschritten werden, auch wenn das Delikt im nüchternen Zustand schwerere Strafen nach sich gezogen hätte. Mildernd wirkt sich in der Regel aus, dass der Täter im Zustand des Rausches handelte und somit schulderleichternde Umstände vorliegen können.
Welche Rolle spielt die Eigenverantwortung beim Vollrausch?
Die Eigenverantwortung steht im Mittelpunkt der rechtlichen Bewertung des Vollrausches. Das Gesetz sieht § 323a StGB ausdrücklich als Auffangtatbestand für Fälle vor, in denen sich der Täter eigenverantwortlich in den Rausch versetzt hat, d. h. ohne Zwang und mit dem Bewusstsein, sich in einen solchen Zustand zu bringen. Handelt es sich hingegen um eine unfreiwillige oder durch Dritte herbeigeführte Berauschung, ist die Strafbarkeit nach § 323a StGB grundsätzlich ausgeschlossen, da die Eigenverantwortung fehlt.
Welche Bedeutung hat der Vollrausch im Jugendstrafrecht?
Im Jugendstrafrecht gilt § 323a StGB grundsätzlich nur eingeschränkt. Jugendliche im Alter von 14 bis 17 Jahren können nur dann nach § 323a StGB bestraft werden, wenn ihnen ein ausreichendes Maß an Einsicht- oder Steuerungsfähigkeit zugeschrieben wird. In der Praxis nehmen Gerichte bei jugendlichen oder heranwachsenden Tätern häufig eine besonders sorgfältige Prüfung vor, ob die Voraussetzungen der Eigenverantwortung und der möglicherweise herabgesetzten Reife gegeben sind. Oft wird statt einer Strafverfolgung nach § 323a StGB auf erzieherische Maßnahmen gemäß Jugendgerichtsgesetz zurückgegriffen.