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Volkskammer


Begriff und historische Einordnung der Volkskammer

Die Volkskammer war das zentrale, legislative Organ der Deutschen Demokratischen Republik (DDR). Sie stellte bis zur Volkskammerwahl 1990 das formal höchste Organ der Staatsmacht und das Gesetzgebungsorgan im Rahmen des politischen Systems der DDR dar. Die Volkskammer ist damit ein bedeutsames Element im rechtlichen Verständnis des parlamentarischen Systems der DDR und Gegenstand umfangreicher wissenschaftlicher wie auch gesellschaftlicher Analyse.

Verfassungsrechtliche Grundlagen

Stellung im politischen System der DDR

Die rechtliche Grundlage der Volkskammer bildete zunächst die Verfassung der DDR vom 7. Oktober 1949, zuletzt ersetzt und wesentlich verändert durch die Verfassung von 1968 (mit weiteren Änderungen, insbesondere 1974). Gemäß Art. 47 der Verfassung bildete die Volkskammer das oberste Organ der Staatsgewalt und war als einziges, unmittelbar vom Volk gewähltes Verfassungsorgan mit legislativen Befugnissen ausgestattet.

Die Volkskammer hatte das Recht, Gesetze zu beschließen und die Leitlinien für Regierung, Justiz und Verwaltung der DDR festzulegen. Die Gesetzgebungskompetenz erstreckte sich über alle Lebensbereiche, soweit diese nicht kraft Verfassung der Länderkammer (bis 1952) oder anderen staatlichen Organen vorbehalten waren.

Zusammensetzung und Wahl

Die Volkskammer bestand aus 500 Abgeordneten (später variiert), die nach dem Grundsatz der Listenwahl alle fünf Jahre gewählt wurden. Die Wahlen erfolgten jedoch nicht frei, geheim oder gleich – sie waren geprägt vom sogenannten Einheitslisten-System, in dem die „Nationale Front“ eine gemeinsame Wahlliste stellte. Die rechtliche Ausgestaltung des Wahlrechts führte dazu, dass die Abgeordneten der verschiedenen Parteien und Massenorganisationen bereits vor der Wahl feststanden. Erst im Rahmen der Wahl im März 1990 kam es zur Anwendung eines freieren Wahlmodus mit konkurrenzierenden Listen und echter Auswahlmöglichkeit.

Rechtsstellung und Unabhängigkeit der Abgeordneten

Die rechtliche Position der Mitglieder der Volkskammer war formal durch die Verfassung und das Gesetz über die Rechte und Pflichten der Abgeordneten geregelt. Die Mandatsausübung war an Weisungen der jeweiligen Parteien oder Organisationen gebunden (imperatives Mandat), individuelle Gewissensfreiheit in der Parlamentsarbeit sah die Verfassung der DDR nicht explizit vor.

Die Immunität der Abgeordneten war durch Art. 60 Abs. 1 der Verfassung geschützt, ihr Entzug war nur durch die Volkskammer selbst möglich. Die Tätigkeiten der Abgeordneten waren jedoch in der Praxis eng mit dem Willen der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) und den Vorgaben des Staatsrates verflochten.

Gesetzgebungsverfahren

Das Gesetzgebungsverfahren der Volkskammer war in der Verfassung und der Geschäftsordnung geregelt. Gesetzesinitiativen konnten von der Regierung, von Abgeordneten der Volkskammer, vom Staatsrat oder von Ausschüssen der Volkskammer eingebracht werden.

Die Beratung der Gesetzesvorlagen erfolgte in Ausschüssen und in Plenarsitzungen. Die letzte Entscheidung über Gesetzesentwürfe lag stets bei der Abstimmung im Plenum, wobei Änderungen an Vorlagen auch während der Beratungsphasen eingebracht werden konnten. Die Annahme eines Gesetzes erforderte die Mehrheit der anwesenden Abgeordneten.

Nach Annahme wurde das Gesetz durch den Präsidenten der Volkskammer und im Falle von Verfassungsänderungen zusätzlich durch den Staatsrat gegengezeichnet und trat mit Veröffentlichung im Gesetzblatt der DDR in Kraft.

Sonderfall: Gesetzgebungsverfahren nach der Wende (1989/90)

Im Zuge der politischen Umbruchphase (Friedliche Revolution) wurden die Geschäftsordnung und die Gesetzgebungsverfahren angepasst. Die Volkskammer, gewählt im März 1990, verabschiedete zahlreiche Rechtsakte zur Wiederherstellung rechtsstaatlicher Strukturen und als Voraussetzung für die deutsche Einheit – unter anderem das Gesetz über die Bildung privater Unternehmen und die Überleitung bundesdeutschen Rechts auf das Gebiet der DDR.

Organe und Arbeitsweise der Volkskammer

Präsident und Präsidium

Der Präsident der Volkskammer leitete die Sitzungen, vertrat die Volkskammer nach außen und unterlag besonderen rechtlichen Regelungen hinsichtlich seiner Amtsführung. Unterstützt wurde er durch das Präsidium, dem Abgeordnete verschiedener Fraktionen angehörten.

Ausschüsse

Die Volkskammer bildete ständige Ausschüsse, die für spezifische Rechtsgebiete (z.B. Staat und Recht, Verteidigung, Haushalt) zuständig waren. Aufgabe der Ausschüsse war die fachliche Vorbereitung der Beratungen im Plenum, die Ausarbeitung von Gesetzesentwürfen und die Kontrolle der Exekutive.

Rechte und Pflichten

Abgeordnete der Volkskammer hatten das Recht auf Information, Aussprache und Antragstellung. Sie waren verpflichtet, ihre Tätigkeit gewissenhaft und im Interesse des Volkes auszuüben. Die Teilnahme an den Sitzungen sowie die Mitarbeit in den Ausschüssen war obligatorisch.

Verhältnis der Volkskammer zu anderen Staatsorganen

Exekutive

Die Volkskammer wählte den Vorsitzenden des Ministerrates (vergleichbar mit einem Ministerpräsidenten) und die Mitglieder der Regierung. Sie konnte die Regierung durch das Misstrauensvotum nach Art. 56 der Verfassung abberufen. Formal bestand damit eine parlamentarische Kontrolle der Exekutive; praktisch jedoch lag die politische Entscheidungsbefugnis weitgehend bei der SED und dem Staatsrat.

Staatsrat der DDR

Der Staatsrat galt seit 1960 als kollektives Staatsoberhaupt und wurde durch die Volkskammer gewählt. Seine Befugnisse umfassten u.a. Erlass von Rechtsverordnungen, die Ausfertigung und Verkündung der Gesetze sowie das Recht auf Begnadigung. Die Volkskammer konnte den Staatsrat kontrollieren und abberufen, was jedoch in der Geschichte der DDR nie vorkam.

Nationale Front und Blockparteien

Die Volkskammer war nach Prinzipien der Nationalen Front strukturiert, einer Einheitsliste verschiedener Parteien und Massenorganisationen unter Führungsrolle der SED. Obwohl der Anschein eines Mehrparteiensystems gewahrt wurde, war die Volkskammer faktisch ein Instrument der Umsetzung politischer Vorgaben der SED-Führung.

Bedeutung im Vereinigungsprozess

Nach den ersten freien Wahlen zur Volkskammer am 18. März 1990 wurde das Parlament zu einem zentralen Akteur des Vereinigungsprozesses mit der Bundesrepublik Deutschland. Es beschloss maßgebliche Gesetze wie das Staatsvertrag-Überleitungsgesetz und das Einigungsvertragsgesetz, welche die Wiederherstellung der deutschen Einheit auf rechtlicher Ebene möglich machten.

Mit Vollzug der deutschen Wiedervereinigung am 3. Oktober 1990 endete die Existenz der Volkskammer. Die rechtlichen Akte dieser letzten Volkskammer haben bis heute Bedeutung für Übergangsfälle und die Bewertung der Rechtskontinuität in Ostdeutschland.

Zusammenfassung und Rechtswirkung

Die Volkskammer war in der DDR das zentrale, formal demokratisch legitimierte, aber tatsächlich weitgehend durch die SED gesteuerte gesetzgebende Organ. Wesentliche Rechte, Aufgaben und Beschlussfassungsmodalitäten waren in der Verfassung geregelt, wurden in Praxis jedoch durch die politische Lenkung eingeschränkt. Im Zuge der Wiedervereinigung wandelte sich die Volkskammer kurzzeitig in ein entscheidungsfähiges Parlament im modernen Sinne und legte mit ihren Beschlüssen den Grundstein für das Inkrafttreten des Grundgesetzes in den neuen Bundesländern.

Literatur und weiterführende Quellen

  • Verfassung der DDR (1949, 1968, 1974)
  • Geschäftsordnung der Volkskammer der DDR
  • Einigungsvertrag vom 31. August 1990
  • Bundeszentrale für politische Bildung: System und Struktur der DDR
  • Michael Richter: Die Volkskammer der DDR 1949-1990
  • Deutscher Bundestag: Dokumentation zur Volkskammer und zur Wiedervereinigung

Hinweis: Dieser Artikel stellt die rechtlichen Grundlagen, die verfassungsmäßige Stellung, die verfahrenstechnische Arbeitsweise und die historische Entwicklung der Volkskammer der DDR umfassend dar und bietet eine tiefe Einordnung zur Bedeutung des Begriffs im rechtsgeschichtlichen Kontext.

Häufig gestellte Fragen

Welche rechtlichen Grundlagen regelten die Zusammensetzung der Volkskammer?

Die Zusammensetzung der Volkskammer war im Wesentlichen durch die Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) geregelt. Ursprünglich sah die Verfassung von 1949 eine Wahl der Abgeordneten auf der Grundlage eines Einheitswahlvorschlags der Nationalen Front vor. Spätere Gesetzesänderungen und insbesondere die Verfassungsreform von 1968 bestätigten dieses Modell, wobei die Zahl der Abgeordneten insgesamt sowie ihre Verteilung auf verschiedene Parteien und Massenorganisationen durch das „Gesetz über die Wahlen zur Volkskammer“ konkretisiert wurde. Trotz formal demokratischer Bestimmungen waren die Listen durch die Vorbestimmung der Kandidaten und die fehlende Wahlalternative faktisch nicht frei wählbar. Letztlich wurden die rechtlichen Vorgaben zur Zusammensetzung konsequent durch das politische System der DDR, insbesondere durch die führende Rolle der SED, bestimmt, die auch verfassungsrechtlich verankert war.

In welchem rechtlichen Rahmen wurden die Wahlen zur Volkskammer durchgeführt?

Die rechtlichen Rahmenbedingungen für die Wahlen zur Volkskammer wurden in verschiedenen Gesetzen und Rechtsverordnungen der DDR festgelegt. Das maßgebliche Regelwerk war das „Gesetz über die Wahlen zur Volkskammer“, das detaillierte Vorschriften zu Wahlberechtigung, Wahlordnung, Stimmabgabe und Auswertung enthielt. Gemäß diesen Vorschriften fanden die Wahlen regelmäßig alle vier Jahre statt, wobei alle wahlberechtigten Bürger der DDR das aktive und passive Wahlrecht hatten. Die Ausgestaltung als Listenwahl, bei der die Wähler nur über die Annahme oder Ablehnung der durch die Nationale Front aufgestellten Einheitsliste entscheiden konnten, war gesetzlich festgelegt. Eine rechtliche Grundlage für die freie Bildung von Oppositionslisten existierte nicht, was die faktische Kontrolle der Wahlergebnisse durch die herrschende Partei bedeutete. Verstöße gegen Wahlvorschriften konnten, gemäß den gesetzlichen Bestimmungen, mit Sanktionen belegt werden.

Welche Kompetenzen wurden der Volkskammer verfassungsrechtlich zugewiesen?

Nach der DDR-Verfassung war die Volkskammer als das oberste Organ der Staatsgewalt vorgesehen und besaß umfassende gesetzgeberische, haushaltspolitische und teilweise auch exekutive Kompetenzen. Ihr standen insbesondere das Recht der Gesetzgebung, die Beschlussfassung über den Staatshaushalt, die Ratifizierung von Staatsverträgen und die Kontrolle der anderen Staatsorgane formell zu. Außerdem wählte und kontrollierte sie das Staatsoberhaupt (Präsident bis 1960, danach Vorsitzender des Staatsrates), den Ministerrat sowie weitere zentrale Institutionen. Die Verfassung statuierte eine weitgehende Unabhängigkeit der Volkskammer; tatsächlich war ihre Tätigkeit jedoch durch den Führungsanspruch der SED parteipolitisch stark gelenkt. Die rechtliche Absicherung dieser Aufgaben beruhte vorrangig auf den Artikeln 47 bis 51 der DDR-Verfassung von 1968.

Welche Rolle spielte die Verfassung der DDR bezüglich der Gesetzgebungskompetenz der Volkskammer?

Die Verfassung der DDR wies der Volkskammer das alleinige Recht zur Gesetzgebung auf gesamtstaatlicher Ebene zu. Nach den verfassungsrechtlichen Vorgaben konnten Gesetze nur durch die Volkskammer erlassen, geändert oder aufgehoben werden. Zudem hatte die Volkskammer das Haushaltsrecht und die Befugnis, grundlegende Staatsverträge zu bestätigen. Initiativrecht für Gesetzesvorhaben hatten nicht nur die Abgeordneten der Volkskammer, sondern auch der Ministerrat und andere verfassungsmäßig festgelegte Organe. Die Verfassung (insbesondere Artikel 51) spezifizierte dabei die Verfahren und die Voraussetzungen für das Zustandekommen und die Verabschiedung von Gesetzen. Trotz dieser umfassenden Kompetenzen existierten in der Praxis zahlreiche formale und informelle Mechanismen, die die tatsächliche Gesetzgebungsmacht auf die politischen Vorgaben der SED beschränkten.

Wie wurde die Volkskammer rechtlich gegenüber anderen Staatsorganen abgegrenzt?

Die rechtliche Stellung der Volkskammer im Staatsgefüge der DDR war präzise in der Verfassung und in weiteren organisatorischen Gesetzen bestimmt. Die Volkskammer wurde als höchstes Organ der Staatsgewalt postuliert und war damit Staatsorgan erster Ordnung. Im Verhältnis zu den übrigen Organen (Ministerrat, Staatsrat, Nationale Verteidigungsrat usw.) stand ihr die Oberhoheit zu. Sie wählte und kontrollierte diese Organe nach in der Verfassung festgelegten Verfahren und konnte sie im Rahmen der gesetzlichen Bestimmungen abberufen. Während damit eine klare Hierarchie vorgegeben war, wurden die Kompetenzen der Volkskammer durch das politische System der Einheitsliste faktisch eingeschränkt; die tatsächliche Willensbildung erfolgte überwiegend außerhalb der verfassungsmäßigen Institutionen, etwa auf Ebene des Politbüros der SED.

Welche rechtlichen Bestimmungen gab es hinsichtlich der Immunität und Rechte der Abgeordneten der Volkskammer?

Abgeordnete der Volkskammer genossen nach den gesetzlichen Bestimmungen der DDR Immunität, d. h., sie konnten während der Ausübung ihres Mandats wegen einer mit ihrer Tätigkeit zusammenhängenden Handlung nur mit Zustimmung des Präsidiums der Volkskammer strafrechtlich verfolgt oder anderweitig zur Verantwortung gezogen werden. Die einschlägigen Vorschriften hierzu fanden sich im Abgeordnetengesetz bzw. in den Geschäftsordnungen der Volkskammer. Des Weiteren war das freie Mandat der Abgeordneten formal garantiert – sie sollten ihr Mandat nach bestem Wissen und Gewissen führen. Auch war ihnen das Recht zugesichert, Anträge zu stellen, Fragen an die Regierung zu richten sowie an den Ausschüssen und Arbeitsgruppen mitzuarbeiten. Die praktische Wirksamkeit dieser Rechte war jedoch durch die parteipolitische Kontrolle und die Fraktionsdisziplin erheblich eingeschränkt.

Welche Regelungen galten für das Zustandekommen und die Bearbeitung von Gesetzesinitiativen in der Volkskammer?

Der rechtliche Ablauf für das Zustandekommen von Gesetzen in der Volkskammer war in der Verfassung und den Geschäftsordnungen niedergelegt. Gesetzesinitiativen konnten von der Regierung, von Abgeordneten oder Ausschüssen eingebracht werden. Nach der Einbringung wurde der Gesetzentwurf in einer ersten Lesung behandelt und dann meist an die entsprechenden Ausschüsse zur Beratung überwiesen. Nach Abschluss der Ausschussberatung erfolgte die zweite und ggf. dritte Lesung im Plenum, ehe über den Gesetzentwurf abgestimmt wurde. Die Details der Beratungs- und Abstimmungsmodalitäten ergaben sich aus der Geschäftsordnung der Volkskammer. Die eigentlichen Entscheidungsprozesse waren jedoch häufig durch vorab gefasste Beschlüsse der SED-Fraktionsführung sowie durch die Nationale Front politisch festgelegt, was den rechtlich vorgesehenen parlamentarischen Verfahren ihren demokratischen Gehalt weitgehend nahm.