Volkskammer: Begriff und historische Einordnung
Die Volkskammer war das Einkammerparlament der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) von 1949 bis 1990. Formal galt sie als höchstes Organ der staatlichen Ordnung und als zentrale Gesetzgebungsinstanz. In der politischen Praxis war ihre Arbeit jedoch durch das Führungssystem der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) und das Bündnissystem der Nationalen Front geprägt, wodurch die Entscheidungsfindung weitgehend vorstrukturiert wurde. Mit der politischen Wende 1989, den ersten freien Wahlen im März 1990 und dem anschließenden Beitritt der DDR zur Bundesrepublik Deutschland endete die Tätigkeit der Volkskammer am 2. Oktober 1990.
Verfassungsrechtliche Stellung und Aufgaben
Stellung im Staatsaufbau der DDR
Die Volkskammer war im System der DDR als zentrales Organ mit umfassenden Befugnissen vorgesehen. Sie stand über dem Staatsrat (kollektives Staatsoberhaupt seit 1960) und dem Ministerrat (Regierung). Weitere Gremien wie der Nationale Verteidigungsrat wirkten in ihrem Umfeld. Die Volkskammer sollte nach dem verfassungsmäßigen Selbstverständnis den Willen der Bevölkerung in Gesetze umsetzen, die grundlegenden staatlichen Richtungen festlegen und die übrigen Staatsorgane kontrollieren. In der Realität erfolgten wesentliche politische Festlegungen regelmäßig im Vorfeld in den Führungsgremien der herrschenden Partei und der Nationalen Front.
Gesetzgebungsfunktion
Die Volkskammer beschloss Gesetze, Verfassungsgesetze und grundlegende Beschlüsse. Zuständig war sie unter anderem für Haushalts- und Planbeschlüsse, für die Festlegung wirtschaftlicher und sozialer Leitlinien sowie für die Zustimmung zu bedeutenden völkerrechtlichen Vereinbarungen. Gesetzesinitiativen konnten aus dem Kreis der Abgeordneten, durch Ausschüsse, den Ministerrat oder gesellschaftliche Organisationen eingebracht werden. Die Beratung erfolgte in Ausschüssen, gefolgt von Plenarsitzungen und Abstimmungen. Für Änderungen grundlegender Rechtsakte galten erhöhte Mehrheitsanforderungen.
Wahl- und Kontrollfunktion
Die Volkskammer wählte oder bestätigte führende Staatsorgane und Amtsträger, darunter Mitglieder des Staatsrats sowie des Ministerrats. Sie übte formelle Kontrolle über die Regierungstätigkeit aus, etwa durch Berichte, Anfragen und Abberufungen. Die Ausübung dieser Kontrollrechte war vor 1989 in der Praxis eingeschränkt, da politische Entscheidungen häufig außerhalb des Plenums vorab festgelegt wurden. Nach 1989 gewann die parlamentarische Kontrolle spürbar an tatsächlicher Bedeutung.
Zusammensetzung, Wahl und Fraktionen
Wahlrecht und Listenprinzip
Die Volkskammer wurde für gewöhnlich auf fünf Jahre gewählt. Bis 1989 erfolgten die Wahlen im Rahmen der Nationalen Front über Einheitslisten, die eine vorab festgelegte Sitzverteilung zwischen Parteien und Massenorganisationen vorsahen. Zwar war die Stimmabgabe formal geheim, tatsächlich bestand ein erheblicher politischer und sozialer Druck. Die erste freie und wettbewerbliche Wahl fand am 18. März 1990 statt. Sie führte zu einer pluralen Zusammensetzung der 10. Volkskammer und zu einer grundlegenden Veränderung der Arbeitsweise.
Abgeordnete, Fraktionen und Ausschüsse
Die Volkskammer setzte sich aus Abgeordneten zusammen, die Parteien und gesellschaftliche Organisationen repräsentierten. Vor 1990 waren sogenannte Blockparteien sowie Massenorganisationen institutionell eingebunden. Die Abgeordneten bildeten Fraktionen und arbeiteten in ständigen und temporären Ausschüssen, etwa zu Recht, Haushalt, Wirtschaft, Außenpolitik oder Arbeit und Soziales. Charakteristisch für die DDR war das Prinzip der Abberufbarkeit von Abgeordneten durch die Wählenden oder entsendende Organisationen, was das klassische freie Mandat einschränkte.
Arbeitsweise und Verfahren
Sitzungen und Präsidium
Die Arbeit der Volkskammer wurde durch das Präsidium geleitet. Die eigentlichen Sitzungen des Plenums fanden in periodischen Abständen statt, während die inhaltliche Vorarbeit meist in Ausschüssen und Fraktionen erfolgte. Vorlagen wurden in Ausschüssen beraten, im Plenum eingebracht und dort debattiert und beschlossen. Die Tagesordnungen orientierten sich häufig an staatlichen Planvorgaben und politisch vorab abgestimmten Schwerpunkten.
Normsetzungsverfahren und Rechtsakte
Die Volkskammer erließ Gesetze, Verfassungsgesetze und Beschlüsse. Nach der Beschlussfassung wurden die Rechtsakte im Gesetzblatt veröffentlicht und traten zu festgelegten Zeitpunkten in Kraft. Daneben bestanden untergesetzliche Normen der Regierung und anderer Organe, deren rechtliche Grundlage und Kontrolle in der Normenhierarchie vorgesehen waren. Die Volkskammer konnte bestehende Normen ändern, aufheben oder neue Grundlagen schaffen.
Verhältnis zu Parteien und Massenorganisationen
Die politische Willensbildung war vor 1989 stark durch die führende Rolle der SED und die Nationalen Front-Strukturen geprägt. Fraktionen folgten zumeist vorab abgestimmten Positionen. Damit war die Volkskammer zwar formal das zentrale Gesetzgebungsorgan, die tatsächliche Entscheidungsfindung erfolgte jedoch in einem politisch eng koordinierten Rahmen. Mit der politischen Wende vollzog sich ein Übergang zu offener parlamentarischer Debatte, Opposition und echten Mehrheitsentscheidungen.
Entwicklungen 1989/1990 und Auflösung
Politische Wende und freie Wahl 1990
Im Zuge der Friedlichen Revolution wurden grundlegende Verfassungsgrundsätze neu ausgerichtet. Die besondere Führungsrolle der SED entfiel, das Wahlrecht wurde pluralisiert, und am 18. März 1990 fand eine frei und fair abgehaltene Volkskammerwahl statt. Die 10. Volkskammer beschloss zentrale gesetzliche Grundlagen für den politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Übergang sowie für die staatliche Vereinigung Deutschlands.
Beendigung der Tätigkeit
Die Volkskammer stimmte den maßgeblichen Grundlagen des Vereinigungsprozesses zu und beschloss den Beitritt der DDR zur Bundesrepublik Deutschland. Mit dem Wirksamwerden des Beitritts endete die Tätigkeit der Volkskammer am 2. Oktober 1990. Teile des in der DDR geltenden Rechts wurden übergangsweise fortgeführt und später schrittweise angepasst oder ersetzt.
Rechtliche Einordnung und Bedeutung
Vergleich mit anderen Parlamenten
Im Unterschied zu pluralistisch-demokratischen Parlamenten mit ausgeprägter Gewaltenteilung war die Volkskammer bis 1989 in ein politisches System eingebettet, in dem zentrale Entscheidungen vorab koordiniert wurden. Sie war eine Einkammerinstitution ohne zweite Kammer. Das Mandat war nicht in der Weise frei, wie es in vielen heutigen parlamentarischen Systemen üblich ist, da das Abberufungsprinzip und die Bindung an vorgegebene Listenstrukturen eine wichtige Rolle spielten.
Quellenlage und Nachwirkungen im Recht
Von der Volkskammer beschlossene Rechtsakte sind historisch und für bestimmte Übergangsfragen rechtlich relevant. Viele Normen wurden nach 1990 abgelöst oder angepasst, einzelne Regelungen behielten jedoch vorübergehend Geltung, soweit sie vereinbar waren und nicht ersetzt wurden. Die Dokumentation der Arbeit der Volkskammer ist in Archiven und amtlichen Veröffentlichungen überliefert und bildet eine wichtige Quelle für das Verständnis des DDR-Staats- und Verfassungswesens.
Häufig gestellte Fragen
War die Volkskammer ein Parlament im heutigen Sinne?
Formal war die Volkskammer das zentrale Gesetzgebungsorgan der DDR. Inhaltlich unterschied sie sich bis 1989 deutlich von modernen, pluralen Parlamenten, da politische Entscheidungen regelmäßig vorab in Parteigremien und Bündnisstrukturen abgestimmt wurden. Erst die 10. Volkskammer 1990 entsprach weitgehend einem frei gewählten, parlamentarischen Modell mit offener Debatte und Mehrheitsentscheidungen.
Wer konnte in der Volkskammer Gesetzesinitiativen einbringen?
Gesetzesvorlagen konnten von Abgeordneten, Fraktionen, Ausschüssen, dem Ministerrat sowie gesellschaftlichen Organisationen eingebracht werden. Die detaillierte Ausgestaltung erfolgte üblicherweise in den Ausschüssen, bevor die Vorlagen im Plenum beraten und beschlossen wurden.
Wie verliefen die Wahlen zur Volkskammer vor 1990?
Bis 1989 erfolgten die Wahlen auf Basis einer Einheitsliste der Nationalen Front, die Sitzverteilungen zwischen Parteien und Organisationen vorab festlegte. Die Stimmabgabe war formal geheim, stand jedoch unter erheblichem politischen und sozialen Druck. Erst 1990 fanden wettbewerbliche, freie Wahlen mit konkurrierenden Listen statt.
Welche Funktionen hatte die Volkskammer gegenüber Staatsrat und Ministerrat?
Die Volkskammer wählte oder bestätigte leitende Staatsorgane, überwachte die Regierungstätigkeit und setzte den rechtlichen Rahmen für die Arbeit von Staatsrat und Ministerrat. In der Praxis war die Kontrolle bis 1989 eingeschränkt, da die politische Willensbildung stark vorstrukturiert war. 1990 gewann die parlamentarische Kontrolle spürbar an Gewicht.
Gab es in der Volkskammer ein freies Mandat?
Ein freies Mandat im Sinne moderner parlamentarischer Systeme war nicht prägend. Charakteristisch war vielmehr die Abberufbarkeit von Abgeordneten sowie die Einbindung in Listen- und Organisationsstrukturen. Dies begrenzte die individuelle Unabhängigkeit der Mandatsausübung, insbesondere vor 1989.
Welche Rolle spielte die Volkskammer beim Vereinigungsprozess 1990?
Die 10. Volkskammer fasste die zentralen Beschlüsse, die den politischen, wirtschaftlichen und rechtlichen Übergang zur deutschen Einheit ermöglichten. Dazu gehörten wesentliche Grundlagenakte, die den Beitritt der DDR zur Bundesrepublik und die Anpassung der Rechtsordnung vorbereiteten und umsetzten.
Gelten von der Volkskammer beschlossene Gesetze heute noch?
Zahlreiche DDR-Normen wurden nach 1990 aufgehoben oder ersetzt. Einige Regelungen blieben übergangsweise in Kraft, wenn sie vereinbar waren und keine ablösenden Regelungen bestanden. Der heutige Rechtsstand ergibt sich aus den nach der Vereinigung geltenden Gesetzen und deren fortschreitender Harmonisierung.