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Völkerrechtliches Unrecht

Völkerrechtliches Unrecht: Begriff, Struktur und Rechtsfolgen

Völkerrechtliches Unrecht bezeichnet eine rechtswidrige Handlung im Sinne des Völkerrechts. Gemeint ist ein Verhalten, das einer Völkerrechtsperson – in der Regel einem Staat, seltener einer internationalen Organisation – rechtlich zugerechnet werden kann und gegen eine völkerrechtliche Verpflichtung verstößt. Es geht damit nicht um moralische oder politische Wertungen, sondern um die Verletzung einer rechtlich verbindlichen Norm der internationalen Ordnung. Der Begriff umfasst sowohl Handlungen als auch Unterlassungen.

Rechtsquellen und Bindungsgrundlagen

Völkerrechtliche Verpflichtungen können aus unterschiedlichen Quellen stammen. Dazu zählen völkerrechtliche Verträge, das Völkergewohnheitsrecht, allgemeine Rechtsgrundsätze sowie in bestimmten Konstellationen verbindliche einseitige Erklärungen. Auch Beschlüsse zwischenstaatlicher Gremien können, sofern sie Bindungswirkung entfalten, Verpflichtungen konkretisieren. Ob eine Pflicht besteht, richtet sich nach Inhalt, Reichweite und Geltung der jeweiligen Norm.

Bindung von Staaten und internationalen Organisationen

Staaten sind Träger der meisten völkerrechtlichen Pflichten. Internationale Organisationen können ebenfalls verpflichtet sein, wenn sie über eigene Rechtspersönlichkeit verfügen und die betreffende Norm auf sie anwendbar ist. Deren Verantwortung folgt vergleichbaren Grundsätzen, jedoch zugeschnitten auf ihre Strukturen und Zuständigkeiten.

Voraussetzungen völkerrechtlichen Unrechts

Für die Einordnung eines Verhaltens als völkerrechtliches Unrecht werden zwei Kernelemente geprüft: Zurechnung und Pflichtverletzung. Ein Verschulden im Sinne einer subjektiven Vorwerfbarkeit ist grundsätzlich nicht erforderlich; maßgeblich ist die objektive Verletzung einer bestehenden Pflicht.

Zurechnung

Zugerechnet wird grundsätzlich das Verhalten von Staatsorganen in ihren amtlichen Funktionen, unabhängig davon, ob sie ihre Befugnisse ordnungsgemäß ausüben. Gleiches gilt für Personen oder Einrichtungen, die hoheitliche Aufgaben wahrnehmen. Ebenfalls zurechenbar sind Handlungen privater Akteure, wenn sie unter der tatsächlichen Leitung oder Kontrolle eines Staates erfolgen oder wenn der Staat die Handlung nachträglich als eigene anerkennt. Bei internationalen Organisationen kommen Handlungen ihrer Organe oder ihnen zugeordneten Einheiten in Betracht.

Pflichtverletzung

Eine Pflichtverletzung liegt vor, wenn das Verhalten nicht mit einer bestehenden völkerrechtlichen Verpflichtung vereinbar ist, die zum Zeitpunkt des Handelns bereits galt. Die konkrete Pflicht kann Handlungen gebieten, bestimmte Ergebnisse verlangen oder Unterlassungen erfordern. Es wird zwischen punktuellen Verstößen und fortdauernden Pflichtverletzungen unterschieden.

Sorgfaltspflichten

Einige Normen begründen Sorgfaltspflichten: Staaten müssen dabei angemessene Maßnahmen ergreifen, um vorhersehbare Schäden zu verhindern oder zu begrenzen. Eine volle Erfolgspflicht besteht in solchen Konstellationen nicht, gleichwohl kann Untätigkeit zum Unrecht führen.

Zeitliche Einordnung und zusammengesetzte Handlungen

Fortdauernde Verstöße bestehen an jedem Tag der Nichtbeachtung fort. Zusammengesetzte Handlungen setzen sich aus einer Abfolge einzelner Akte zusammen, die erst in ihrer Gesamtheit die Pflicht verletzen.

Umstände, die die Rechtswidrigkeit ausschließen

Bestimmte Ausnahmetatbestände können die Rechtswidrigkeit einer an sich pflichtwidrigen Handlung ausschließen. Sie sind eng auszulegen und an Voraussetzungen gebunden.

Einwilligung

Hat der betroffene Staat vorab wirksam und im Rahmen seiner Verfügungsbefugnis eingewilligt, entfällt die Rechtswidrigkeit für den Umfang dieser Zustimmung.

Selbstverteidigung

Maßnahmen zur Selbstverteidigung gegen einen bewaffneten Angriff können die Rechtswidrigkeit ausschließen, sofern sie notwendig und verhältnismäßig sind und die einschlägigen formellen Anforderungen beachten.

Gegenmaßnahmen

Gegenmaßnahmen sind zeitweilige, sonst rechtswidrige Handlungen, die ein verletzter Staat gegenüber einem verantwortlichen Staat ergreift, um die Einhaltung des Rechts herbeizuführen. Sie unterliegen strengen Grenzen: Sie müssen verhältnismäßig sein, auf Beendigung des Unrechts zielen, grundsätzlich reversibel sein und bestimmte geschützte Pflichten unangetastet lassen.

Höhere Gewalt, Notstand und Notlage

Unvorhersehbare, unabwendbare Ereignisse, die die Vertragserfüllung unmöglich machen (höhere Gewalt), sowie Situationen akuter Notlage oder überwiegenden Notstands können ausnahmsweise die Rechtswidrigkeit ausschließen. Diese Gründe greifen nur, wenn der Staat die Lage nicht selbst verursacht hat und grundlegende Pflichten nicht beeinträchtigt werden.

Grenzen der Rechtfertigung

Schwerwiegende Verstöße gegen zwingendes Völkerrecht (zwingende Normen) können nicht gerechtfertigt werden. Ein Rechtfertigungsgrund heilt zudem nicht mögliche Folgen in anderen Rechtsbereichen.

Rechtsfolgen völkerrechtlichen Unrechts

Die Verantwortlichkeit hat Konsequenzen für den verletzenden Staat bzw. die internationale Organisation sowie für andere betroffene Akteure.

Beendigung und Unterlassung

Zunächst besteht die Pflicht zur unverzüglichen Beendigung des rechtswidrigen Verhaltens und zur Unterlassung künftiger Verstöße. Gegebenenfalls sind Zusicherungen und Garantien der Nichtwiederholung zu geben.

Wiedergutmachung

Es besteht die Pflicht zur vollständigen Wiedergutmachung des verursachten Schadens, soweit er zurechenbar ist. Die Formen sind abgestuft: Naturalrestitution (Wiederherstellung des rechtmäßigen Zustands), Entschädigung (finanzieller Ausgleich für nicht rückgängig zu machende Schäden) und Genugtuung (etwa förmliche Anerkenntnisse oder Erklärungen). Kombinationen sind möglich, soweit dies zur vollständigen Wiedergutmachung erforderlich ist.

Mehrfachverantwortlichkeit und Beitrag

Verursachen mehrere Staaten gemeinsam eine Pflichtverletzung, kann jeder nach seinem Beitrag verantwortlich sein. Unterstützt ein Staat bewusst eine Pflichtverletzung eines anderen, kann er für die Beihilfe einstehen.

Schwerwiegende Verstöße gegen zwingende Normen

Bei gravierenden Verletzungen zwingender Normen treffen alle anderen Staaten besondere Pflichten: die rechtswidrige Situation nicht anzuerkennen, nicht bei der Aufrechterhaltung mitzuwirken und im Rahmen ihrer Möglichkeiten zusammenzuarbeiten, um der Verletzung ein Ende zu setzen.

Durchsetzung und Geltendmachung

Die Durchsetzung völkerrechtlicher Verantwortlichkeit erfolgt über zwischenstaatliche und institutionelle Mechanismen.

Geltendmachung durch verletzte und andere Staaten

Primär macht der unmittelbar verletzte Staat Ansprüche geltend. Bei Verstößen gegen Pflichten gegenüber der Staatengemeinschaft als Ganzes können auch nicht unmittelbar betroffene Staaten bestimmte Ansprüche zur Einhaltung grundlegender Normen unterstützen.

Diplomatische und friedliche Mittel

Verhandlungen, Vermittlung, Vergleich, Untersuchungskommissionen und Schiedsverfahren dienen der einvernehmlichen Klärung. Streitbeilegung vor internationalen Gerichten und Tribunalen ist in vielen Bereichen vorgesehen, soweit Zuständigkeiten akzeptiert wurden.

Gegenmaßnahmen und kollektive Reaktionen

Gegenmaßnahmen sind an strenge Voraussetzungen geknüpft und dürfen insbesondere das Gewaltverbot nicht verletzen. Kollektive Organe können, im Rahmen ihrer Befugnisse, Maßnahmen beschließen, die auf die Wahrung oder Wiederherstellung des Rechts zielen.

Abgrenzungen

Staatenverantwortlichkeit vs. individuelle Strafbarkeit

Völkerrechtliches Unrecht betrifft die Verantwortung von Staaten und internationalen Organisationen. Davon zu unterscheiden ist die individuelle Verantwortlichkeit natürlicher Personen für internationale Kernverbrechen. Beide Ebenen können parallel bestehen, ohne einander zu ersetzen.

Vertragsverletzung und Unrecht

Jede Verletzung einer völkerrechtlichen Pflicht – vertraglich, gewohnheitsrechtlich oder anderweitig – begründet Verantwortlichkeit. Innervertragliche Reaktionsrechte (wie Suspendierung) bestehen unabhängig von der allgemeinen Staatenverantwortlichkeit, können aber mit ihr zusammenwirken.

Typische Konstellationen

Häufige Erscheinungsformen sind etwa Grenz- und Luftraumverletzungen, unzulässige Anwendung oder Androhung von Gewalt, Beeinträchtigungen diplomatischer und konsularischer Schutzgüter, grenzüberschreitende Umweltbeeinträchtigungen, Verletzungen menschenrechtlicher Mindeststandards oder Verstöße gegen Verpflichtungen im See- und Welthandelsverkehr.

Entwicklung und Systematik

Die Grundsätze der Staaten- und Organisationsverantwortlichkeit sind durch Praxis, zwischenstaatliche Übereinkünfte und die Arbeit internationaler Gremien verdichtet worden. Sie bilden ein kohärentes System: Zurechnung und Pflichtverletzung als Tatbestandsseite, Rechtfertigungsgründe als Korrektiv und Wiedergutmachung als Rechtsfolge. Dieses System wird fortlaufend durch Entscheidungen internationaler Instanzen und die Staatenpraxis konkretisiert.

Häufig gestellte Fragen zum völkerrechtlichen Unrecht

Was bedeutet „völkerrechtliches Unrecht“ in einfachen Worten?

Es bezeichnet eine rechtlich vorwerfbare Handlung eines Staates oder einer internationalen Organisation, die gegen eine verbindliche Regel des Völkerrechts verstößt und diesem Akteur zugerechnet werden kann. Es geht um objektive Rechtsverletzungen, nicht um moralische Bewertungen.

Wer kann völkerrechtliches Unrecht begehen?

Vor allem Staaten; unter bestimmten Voraussetzungen auch internationale Organisationen. Handlungen von Amtsträgern, Behörden, militärischen Einheiten oder beauftragten Privaten werden dem Staat zugerechnet, wenn sie hoheitlich handeln oder unter dessen Kontrolle stehen.

Welche Voraussetzungen müssen vorliegen?

Erforderlich sind die Zurechnung des Verhaltens zu einem Völkerrechtssubjekt und die Verletzung einer zu diesem Zeitpunkt geltenden völkerrechtlichen Pflicht. Ein besonderes Verschulden ist in der Regel nicht notwendig, es sei denn, die betroffene Norm verlangt es ausdrücklich.

Welche Folgen hat völkerrechtliches Unrecht?

Der verantwortliche Akteur muss das rechtswidrige Verhalten beenden, Wiederholungen verhindern und den Schaden vollständig wiedergutmachen, etwa durch Wiederherstellung, Entschädigung oder Genugtuung. Bei besonders schweren Verstößen treffen auch andere Staaten Pflichten, die rechtswidrige Situation nicht anzuerkennen und nicht zu unterstützen.

Gibt es Gründe, die die Rechtswidrigkeit ausschließen?

Ja. In eng umgrenzten Fällen können Einwilligung, Selbstverteidigung, zulässige Gegenmaßnahmen, höhere Gewalt, Notlage oder Notstand die Rechtswidrigkeit ausschließen. Diese Gründe sind an strenge Voraussetzungen geknüpft und erfassen keine Verletzungen zwingender Normen.

Wie wird völkerrechtliches Unrecht durchgesetzt?

Durch Verhandlungen, vermittelnde Verfahren, internationale Schieds- und Gerichtsverfahren sowie – unter Beachtung der Voraussetzungen – durch Gegenmaßnahmen. Kollektive Organe können Maßnahmen zur Wahrung oder Wiederherstellung des Rechts beschließen, soweit dies in ihrem Mandat liegt.

Worin liegt der Unterschied zum Völkerstrafrecht?

Völkerrechtliches Unrecht betrifft die Verantwortlichkeit von Staaten oder internationalen Organisationen und deren Pflicht zur Wiedergutmachung. Das Völkerstrafrecht richtet sich an natürliche Personen und ahndet besonders schwere Taten mit persönlichen Strafen. Beide Bereiche können parallel Anwendung finden.