Begriff und Einordnung
Der Verteidigungswille bezeichnet die innere, auf Abwehr gerichtete Haltung einer Person, die sich gegen einen gegenwärtigen, rechtswidrigen Angriff zur Wehr setzt. Er ist ein persönliches Element der Rechtfertigung und gehört neben den objektiven Voraussetzungen der Verteidigungslage zu den subjektiven Voraussetzungen. Ohne Verteidigungswille liegt trotz objektiv abwehrfähiger Situation keine rechtmäßige Verteidigung vor.
Alltagsverständnis und rechtliche Bedeutung
Im allgemeinen Sprachgebrauch meint Verteidigungswille, dass jemand „sich wehren will“. Rechtlich ist damit genauer gemeint, dass die Handlung bewusst und gewollt der Abwehr eines Angriffs dient. Dieser Zweck muss die Handlung tragen, darf aber von weiteren Beweggründen begleitet sein. Entscheidend ist, dass die Abwehrfunktion nicht völlig in den Hintergrund tritt.
Stellung im System der Rechtfertigung
Der Verteidigungswille spielt vor allem bei der Verteidigung gegen Angriffe auf eigene oder fremde Rechtsgüter eine Rolle. Während die Verteidigungslage objektive Umstände beschreibt (ein Angriff liegt vor), stellt der Verteidigungswille sicher, dass die Handlung subjektiv auf Abwehr gerichtet ist. Erst das Zusammenspiel beider Ebenen führt zur Rechtmäßigkeit der Verteidigung.
Inhalt und Anforderungen an den Verteidigungswillen
Bewusstsein der Angriffslage
Vorausgesetzt wird ein Verständnis der Situation als Angriff. Es genügt, dass die Person die wesentlichen Umstände erfasst: Es wird gegenwärtig in unberechtigter Weise in geschützte Interessen eingegriffen. Ein detailliertes rechtliches Durchdringen ist nicht erforderlich.
Abwehrbezogene Zielrichtung
Die Handlung muss darauf ausgerichtet sein, den Angriff zu beenden, zu erschweren oder abzuwehren. Dies gilt für unmittelbare Gegenwehr ebenso wie für Schutzmaßnahmen (etwa Abschirmung, Blocken, Wegdrängen) oder taktisches Zurückweichen, soweit diese dem Abwehrziel dienen.
Nebenzwecke und Motivlagen
Häufig treten neben den Abwehrzweck weitere Motive. Unschädlich ist, wenn neben der Abwehr auch Ärger, Wut oder der Wunsch nach Durchsetzung eigener Interessen eine Rolle spielen, solange die Abwehrfunktion die Handlung weiterhin prägt. Problematisch wird es, wenn die Motivation im Kern auf Vergeltung, Bestrafung oder Angriffslust gerichtet ist und die Abwehr nur vorgeschoben erscheint. Ein lediglich vorgeschobener Abwehrzweck begründet keinen Verteidigungswillen.
Umfang des subjektiven Elements
Erforderlich ist nicht, dass die Abwehr der alleinige Beweggrund ist. Es reicht aus, wenn die Verteidigung zumindest mitgetragen oder billigend in Kauf genommen wird, solange der Abwehrzweck erkennbar leitend bleibt. Wer hingegen lediglich die Gelegenheit zu einem Angriff nutzt, ohne abwehren zu wollen, handelt ohne Verteidigungswille.
Abgrenzungen und Sonderkonstellationen
Rache, Vergeltung, Angriffslust
Wer nur „heimzahlen“ möchte, handelt nicht in Verteidigungsabsicht. Der Verteidigungswille fehlt insbesondere, wenn der Angriff bereits beendet ist und die Handlung erkennbar auf Bestrafung oder Demütigung gerichtet ist. Umgekehrt ist eine gefasste, überlegte Abwehrhandlung nicht deshalb ausgeschlossen, weil die Person emotional aufgewühlt ist.
Schutzwehr und Trutzwehr
Verteidigung kann defensiv (Schutzwehr) oder offensiv (Trutzwehr) erfolgen. Schutzwehr umfasst etwa das Schützen, Blocken oder Wegschieben; Trutzwehr kann in einem Gegenangriff bestehen. Auch offensive Maßnahmen können vom Verteidigungswillen getragen sein, wenn sie der Abwehr dienen und nicht der bloßen Aggression.
Flucht, Ausweichen, Verfolgen
Flucht und Ausweichen können Ausdruck des Verteidigungswillens sein, wenn sie die Angriffswirkung reduzieren oder beenden sollen. Das kurzfristige Verfolgen eines Angreifers kann der Sicherung der Abwehr dienen (etwa um einen weiteren Zugriff zu verhindern), verliert den Verteidigungsbezug jedoch, wenn es in bloße Verfolgung oder Bestrafung umschlägt.
Putativnotwehr und Irrtümer
Wer irrtümlich eine Angriffslage annimmt und in Abwehrabsicht handelt, hat einen Verteidigungswillen bezogen auf die vorgestellte Lage. Objektiv liegt dann keine rechtfertigende Verteidigung vor; rechtliche Folgen betreffen die Bewertung des Irrtums. Der Verteidigungswille als innerer Faktor ist gleichwohl gegeben, wenn die Abwehrvorstellung ernsthaft bestand.
Notwehrprovokation
Wer eine Konfliktlage gezielt herbeiführt, um einen Angriff zu provozieren, handelt zwar möglicherweise mit Verteidigungswille, stößt aber auf sozialethische Einschränkungen. Das Abwehrrecht kann in solchen Fällen beschränkt sein; verlangt werden können mildere Mittel oder Ausweichen. Bei lediglich leichtfertiger Verursachung einer Eskalation können abgestufte Beschränkungen gelten. Der Verteidigungswille bleibt dabei als subjektives Element eigenständig zu prüfen.
Nothilfe zugunsten Dritter
Der Verteidigungswille kann sich auf die Abwehr eines Angriffs gegen eine andere Person richten. Erforderlich ist dann, dass die Abwehrhandlung erkennbar dem Schutz des angegriffenen Dritten dient. Auch hier sind objektive und subjektive Voraussetzungen getrennt zu prüfen.
Einsatz von Gegenständen, Tieren oder Hilfspersonen
Wird zur Abwehr ein Gegenstand, ein Tier oder die Hilfe Dritter eingesetzt, muss der Einsatz auf Abwehr zielen. Der Verteidigungswille richtet sich in diesen Fällen auf die Abwehrwirkung durch das gewählte Mittel. Dessen Einsatz ist nur im Rahmen der rechtlichen Grenzen zulässig; die subjektive Zielrichtung ändert daran nichts.
Unterlassen als Verteidigung
Ausnahmsweise kann auch ein Unterlassen der Abwehr dienen, etwa wenn es den Angriff sicher beendet oder entschärft. Auch hier ist wesentlich, ob die innere Willensrichtung auf Abwehr gerichtet ist. Reines Untätigbleiben aus Gleichgültigkeit trägt keinen Verteidigungswillen.
Erforderlichkeit und Gebotenheit im Verhältnis zum Verteidigungswillen
Erforderlichkeit
Selbst bei eindeutigem Verteidigungswillen muss die gewählte Maßnahme zur Abwehr geeignet und erforderlich sein. Erforderlich ist eine Handlung, die den Angriff wirksam beendet oder zumindest abschwächt und unter mehreren gleich wirksamen Optionen eine relativ mildere darstellt. Der Verteidigungswille ersetzt diese objektiven Grenzen nicht.
Gebotenheit und sozialethische Grenzen
Unabhängig vom Verteidigungswillen bestehen sozialethische Grenzen. In Konstellationen mit Angriffsprovokation, krassem Missverhältnis, engen persönlichen Beziehungen oder erheblicher Gefährdung Unbeteiligter kann die Verteidigung eingeschränkt sein. Der Verteidigungswille rechtfertigt keine Maßnahmen, die außerhalb dieser Grenzen liegen.
Beweis und Feststellung des Verteidigungswillens
Innere Tatsache und äußere Indizien
Der Verteidigungswillen ist eine innere Tatsache und wird aus äußeren Umständen erschlossen. Indizien sind etwa verbale Abwehräußerungen, Abwehrbewegungen, Wahl schonender Mittel, Abbruch der Handlung nach Beendigung des Angriffs oder die situative Dynamik. Auch vorherige Abläufe können auf die Zielrichtung schließen lassen.
Zeitlicher Bezug
Der Verteidigungswille muss zum Zeitpunkt der Abwehrhandlung bestehen. Wechselt die Motivation während des Geschehens, ist der jeweilige Abschnitt gesondert zu bewerten. Handlungen vor Entstehen oder nach Ende des Angriffs sind keine Abwehr, auch wenn sie subjektiv so empfunden werden.
Beweiswürdigung
Die Feststellung erfolgt nach den allgemeinen Grundsätzen freier Beweiswürdigung. Widerspruchsfreie, lebensnahe Gesamtbetrachtung und die Berücksichtigung von Stress- und Ausnahmesituationen spielen eine Rolle. Bestehen nicht auflösbare Zweifel, gelten im Strafverfahren die zugunsten der beschuldigten Person wirkenden Grundsätze.
Beispiele und Grenzfälle
Abwehr trotz Wut
Eine Person wird geschlagen, blockt den Schlag ab und stößt den Angreifer zurück. Obwohl sie wütend ist, trägt die Abwehr die Handlung: Verteidigungswille liegt vor.
Nachträgliche Vergeltung
Nach einem beendeten Angriff sucht die betroffene Person den Angreifer auf, um „eine Lektion zu erteilen“. Das ist keine Abwehr mehr; Verteidigungswille fehlt.
Irrtum über Angriff
Jemand hält eine hastige Armbewegung irrtümlich für einen Schlagversuch und reißt die Person zu Boden, um den vermeintlichen Angriff abzuwehren. Subjektiv besteht Verteidigungswille, objektiv liegt keine Verteidigungslage vor; der Irrtum ist gesondert rechtlich zu würdigen.
Provokationslage
Eine Person legt es durch aggressives Verhalten auf eine Eskalation an. Kommt es zum Angriff, mag die Gegenhandlung dem Abwehrzweck dienen, ist aber an gesteigerte Grenzen gebunden. Der Verteidigungswille ändert daran nichts.
Verhältnis zu anderen Rechtfertigungsgründen
Bei anderen Rechtfertigungsgründen steht oft die objektive Gefahrenlage oder ein rechtlicher Erlaubnistatbestand im Vordergrund. Teilweise wird eine auf Rettung oder Gefahrenabwendung gerichtete Motivation verlangt, teils genügt das objektive Vorliegen der Voraussetzungen. Der spezifische Verteidigungswille ist kennzeichnend für die Abwehr gegen Angriffe und die Hilfe zugunsten Angegriffener.
Häufig gestellte Fragen
Was bedeutet Verteidigungswille?
Verteidigungswille ist die innere Ausrichtung einer Handlung auf die Abwehr eines gegenwärtigen, unberechtigten Angriffs. Er verlangt Bewusstsein der Angriffslage und den Willen, den Angriff zu beenden oder zu erschweren.
Reicht es aus, die Abwehr lediglich in Kauf zu nehmen?
Ja, es genügt, wenn die Abwehr zumindest mitgetragen oder billigend in Kauf genommen wird, solange sie die Handlung maßgeblich prägt. Die Abwehr darf nicht nur ein Vorwand sein.
Liegt Verteidigungswille auch vor, wenn gleichzeitig Rachemotive bestehen?
Nebenzwecke wie Ärger oder Vergeltungsgefühle sind unschädlich, solange die Handlung vorrangig der Abwehr dient. Überwiegt der Vergeltungszweck, fehlt Verteidigungswille.
Muss sich der Verteidigungswille auf ein bestimmtes Mittel richten?
Nein. Er muss sich auf die Abwehr als solche richten. Das gewählte Mittel muss allerdings objektiv geeignet und innerhalb der rechtlichen Grenzen liegen.
Welche Rolle spielt der Verteidigungswille bei Nothilfe zugunsten Dritter?
Bei Nothilfe richtet sich der Verteidigungswille auf den Schutz eines angegriffenen Dritten. Erforderlich ist, dass die Handlung erkennbar dem Abwehrzweck zugunsten dieser Person dient.
Wie wird der Verteidigungswille festgestellt?
Als innere Tatsache wird er aus äußeren Indizien erschlossen, etwa aus dem Ablauf des Geschehens, verbalen Äußerungen, der Wahl der Mittel und dem Verhalten nach Ende des Angriffs. Maßgeblich ist eine Gesamtbetrachtung.
Gibt es Verteidigungswillen bei Putativnotwehr?
Ja. Wer irrtümlich eine Angriffslage annimmt und in Abwehrabsicht handelt, hat Verteidigungswillen bezogen auf die vorgestellte Lage. Die objektive Rechtfertigung fehlt jedoch; die rechtlichen Folgen betreffen den Irrtum.