Begriff und Einordnung des Verletzungsdelikts
Ein Verletzungsdelikt ist eine strafbare Handlung, bei der die Vollendung erst eintritt, wenn ein geschütztes Interesse (Rechtsgut) tatsächlich beeinträchtigt oder verletzt wurde. Maßgeblich ist also nicht nur die Handlung selbst, sondern ein eingetretener nachteiliger Erfolg, etwa eine körperliche Beeinträchtigung, der Verlust einer Sache oder eine Beeinträchtigung der Freiheit oder Ehre. Verletzungsdelikte zählen typischerweise zu den sogenannten Erfolgsdelikten, weil der tatbestandliche Erfolg – die Rechtsgutsverletzung – konstitutiv ist.
Abgrenzung zu Gefährdungs- und Tätigkeitsdelikten
Im Unterschied zu Gefährdungsdelikten genügt bei Verletzungsdelikten nicht, dass ein Risiko geschaffen wird. Es muss eine tatsächliche Beeinträchtigung eingetreten sein. Zu Tätigkeitsdelikten grenzen Verletzungsdelikte dadurch ab, dass bei Tätigkeitsdelikten schon die bloße Handlung untersagt ist, ohne dass ein konkreter Erfolg verlangt wird.
Geschützte Rechtsgüter
Verletzungsdelikte schützen unterschiedlichste Rechtsgüter: die körperliche Unversehrtheit und Gesundheit, das Eigentum und sonstige Vermögensinteressen, die Freiheit der Person, die Ehre sowie die Vertraulichkeit und Integrität bestimmter Lebensbereiche. Welche Rechtsgüter im Einzelfall betroffen sind, ergibt sich aus der jeweiligen Deliktsbeschreibung.
Strukturmerkmale eines Verletzungsdelikts
Objektiver Tatbestand
Erfolgseintritt
Die Vollendung eines Verletzungsdelikts setzt einen Erfolg voraus, der im tatbestandlichen Sinn eine Beeinträchtigung am geschützten Gut darstellt. Dieser Erfolg kann körperlich, sachbezogen, vermögensbezogen oder immateriell (etwa eine Ehrverletzung) sein.
Kausalität und objektive Zurechnung
Zwischen Handlung und Erfolg muss ein ursächlicher Zusammenhang bestehen. Zusätzlich ist eine normative Bewertung erforderlich: Der Erfolg muss der Handlung objektiv zugerechnet werden können, was regelmäßig voraussetzt, dass die Handlung ein rechtlich missbilligtes Risiko geschaffen oder erhöht hat, das sich im Erfolg realisiert hat.
Subjektiver Tatbestand
Vorsatz
Bei vorsätzlichen Verletzungsdelikten muss der Täter den Eintritt der Rechtsgutsverletzung zumindest billigend in Kauf nehmen. Je nach Ausgestaltung kommen verschiedene Vorsatzformen in Betracht, von direktem Wissen und Wollen bis zu bedingtem Vorsatz.
Fahrlässigkeit
Viele Verletzungsdelikte existieren auch in fahrlässiger Form. Dann ist nicht die Absicht, sondern die Sorgfaltspflichtverletzung in einer konkreten Situation maßgeblich, die kausal zu einer Rechtsgutsverletzung führt.
Versuch, Vollendung und Beendigung
Versuch
Der Versuch eines Verletzungsdelikts liegt vor, wenn der Täter zur Tat ansetzt, der tatbestandliche Erfolg jedoch noch nicht eingetreten ist. Die Versuchsstrafbarkeit knüpft daran an, dass bereits die Schwelle zur Ausführung überschritten ist. Beim Versuch bleibt die für Verletzungsdelikte typische Erfolgsverletzung gerade aus.
Vollendung und Beendigung
Vollendung tritt mit Eintritt des tatbestandlichen Erfolgs ein. Beendigung bezeichnet den Zeitpunkt, zu dem die Rechtsgutsbeeinträchtigung abgeschlossen ist. Diese Unterscheidung kann für Fristen, Rücktrittsmöglichkeiten vom Versuch und die Beurteilung von Dauersachverhalten bedeutsam sein.
Begehungsformen
Handeln und Unterlassen
Verletzungsdelikte können durch aktives Tun verwirklicht werden. Möglich ist auch die Begehung durch Unterlassen, wenn eine rechtliche Pflicht zum Handeln besteht und das pflichtwidrige Ausbleiben des Handelns den tatbestandlichen Erfolg herbeiführt. In solchen Fällen werden dem Nichtstun die Wirkungen einer aktiven Schädigung zugerechnet.
Täterschaft und Teilnahme
Verletzungsdelikte können durch Alleintäter, Mittäter oder mittelbare Täter verwirklicht werden. Daneben ist Teilnahme in Form von Anstiftung oder Beihilfe möglich. Für die Zurechnung in mehrgliedrigen Konstellationen ist ausschlaggebend, wer welchen Beitrag zur Verwirklichung des tatbestandlichen Erfolgs geleistet hat.
Rechtfertigung und Schuldausschluss
Einwilligung
Bei disponiblen Rechtsgütern kann eine wirksame Einwilligung die Verletzung rechtfertigen, sofern sie vor der Tat, ernsthaft, frei von Täuschung und bezogen auf den konkreten Eingriff erteilt wurde. Nicht jedes Rechtsgut ist disponibel; bei besonders gewichtigen Gütern bestehen enge Grenzen.
Notwehr und Notstand
In Abwehr akuter Angriffe oder zur Abwendung gegenwärtiger Gefahren können Eingriffe, die an sich eine Rechtsgutsverletzung darstellen, gerechtfertigt sein. In solchen Situationen steht die Verteidigung oder die Gefahrabwendung im Vordergrund, sofern die Voraussetzungen eingehalten sind.
Irrtümer und Schuld
Ein Irrtum über tatsächliche Umstände kann den Vorsatz entfallen lassen. Ein unvermeidbarer Irrtum über die rechtliche Bewertung kann die persönliche Vorwerfbarkeit mindern. Der Schuldvorwurf hängt von der individuellen Erkenntnis- und Steuerungsfähigkeit in der konkreten Situation ab.
Konkurrenzen und besondere Konstellationen
Mehrfache Verletzungen
Verursacht eine Handlung mehrere Verletzungen, stellt sich die Frage nach Tatmehrheit oder Tateinheit. Maßgeblich ist, ob eine einheitliche Handlung vorliegt, die mehrere Erfolge herbeiführt, oder mehrere selbständige Handlungen. Dies beeinflusst die Zusammenfassung oder Addition der ahndbaren Taten.
Erfolgsqualifizierte Delikte
Bei erfolgsqualifizierten Delikten führt ein besonders schwerer tatbestandlicher Erfolg zu einer erheblichen Verschärfung. Die Grundhandlung kann bereits eine eigenständige Rechtsgutsverletzung darstellen; die schwerere Folge verlangt mindestens Fahrlässigkeit im Hinblick auf den eingetretenen schwerwiegenden Erfolg.
Praxisrelevanz und Beweisfragen
Feststellung des tatbestandlichen Erfolgs
In der Praxis ist zu klären, ob und in welchem Umfang das geschützte Rechtsgut tatsächlich beeinträchtigt wurde. Bei körperlichen Beeinträchtigungen sind medizinische Feststellungen häufig zentral; bei Vermögensnachteilen sind Bewertung und Kausalzusammenhänge zu klären; bei Ehreingriffen sind Kontext und Wirkung maßgeblich.
Kausalitäts- und Zurechnungsfragen
Besondere Aufmerksamkeit erfordern mehrgliedrige Kausalverläufe, Vorbelastungen oder Mitverursachungsbeiträge. Entscheidend bleibt, ob sich im Erfolg gerade das verbotene Risiko der Handlung realisiert hat und ob atypische, eigenständige Zwischenursachen den Zurechnungszusammenhang unterbrechen.
Abgrenzungs- und Einordnungsbeispiele
Typische Verletzungsdelikte sind solche, bei denen eine Person eine körperliche Beeinträchtigung erleidet, eine Sache beschädigt wird, jemand in seiner Bewegungsfreiheit unzulässig beschränkt oder die persönliche Ehre durch Kundgabe herabsetzender Tatsachen beeinträchtigt wird. Demgegenüber stehen Konstellationen, in denen bereits die Schaffung einer Gefahr ausreicht, ohne dass es zu einem Schaden kommt; dort handelt es sich nicht um Verletzungs-, sondern um Gefährdungstatbestände.
Häufig gestellte Fragen (FAQ) zum Verletzungsdelikt
Was ist ein Verletzungsdelikt?
Ein Verletzungsdelikt ist eine strafbare Handlung, die erst dann vollendet ist, wenn ein geschütztes Interesse tatsächlich beeinträchtigt wurde. Maßgeblich ist der Eintritt eines tatbestandlichen Erfolgs, etwa eine körperliche, vermögensbezogene oder immaterielle Schädigung.
Worin unterscheidet sich ein Verletzungsdelikt vom Gefährdungsdelikt?
Beim Verletzungsdelikt muss ein Schaden oder eine Beeinträchtigung tatsächlich eintreten. Beim Gefährdungsdelikt genügt, dass ein verbotenes Risiko geschaffen wird; ein Schaden ist nicht erforderlich.
Kann ein Verletzungsdelikt auch durch Unterlassen begangen werden?
Ja. Bleibt ein gebotenes Handeln aus und führt dieses Unterlassen zum tatbestandlichen Erfolg, kann ein Verletzungsdelikt auch durch Unterlassen verwirklicht werden, soweit eine rechtliche Pflicht zum Handeln bestand.
Wann ist ein Verletzungsdelikt vollendet?
Die Vollendung tritt mit Eintritt des tatbestandlichen Erfolgs ein, also wenn die Rechtsgutsverletzung tatsächlich realisiert ist. Zuvor kommt nur der Versuch in Betracht.
Ist der Versuch eines Verletzungsdelikts möglich?
Ja. Der Versuch liegt vor, wenn bereits zur Tat angesetzt wurde, der tatbestandliche Erfolg jedoch noch nicht eingetreten ist. Ob der Versuch gesondert geahndet wird, richtet sich nach den allgemeinen Regeln zur Versuchsstrafbarkeit.
Welche Rolle spielt die Einwilligung des Betroffenen?
Bei disponiblen Rechtsgütern kann eine wirksame Einwilligung einen an sich tatbestandsmäßigen Eingriff rechtfertigen. Die Einwilligung muss vor der Tat, freiwillig und in Kenntnis der Tragweite erteilt worden sein. Für besonders gewichtige Rechtsgüter bestehen Grenzen der Disponibilität.
Wie wird Kausalität bei Verletzungsdelikten beurteilt?
Entscheidend ist ein ursächlicher Zusammenhang zwischen Handlung und Erfolg und die objektive Zurechnung. Der Erfolg muss Ausdruck des verbotenen Risikos der Handlung sein; atypische Zwischenursachen können den Zusammenhang unterbrechen.
Gibt es Verletzungsdelikte auch in fahrlässiger Form?
Ja. Viele Verletzungsdelikte existieren neben der vorsätzlichen auch in einer fahrlässigen Variante. Hier steht die Verletzung von Sorgfaltspflichten im Vordergrund, die zur Rechtsgutsbeeinträchtigung führt.