Legal Lexikon

Wiki»Legal Lexikon»Strafrecht»Verfolgung, Absehen von (Straf-)

Verfolgung, Absehen von (Straf-)


Absehen von Verfolgung (Straf-): Rechtliche Bedeutung und Anwendungsbereiche

Das Absehen von Verfolgung im Strafrecht bezeichnet einen rechtsförmlichen Verzicht der Strafverfolgungsbehörden darauf, ein bereits bekannt gewordenes strafbares Verhalten strafrechtlich weiter zu verfolgen oder ein Ermittlungsverfahren einzuleiten. Dieser Vorgang beruht auf gesetzlichen Regelungen, die unter bestimmten Voraussetzungen die Beendigung oder das Unterlassen einer Strafverfolgung ermöglichen. Die zugrundeliegenden Vorschriften finden sich im deutschen Strafprozessrecht insbesondere in der Strafprozessordnung (StPO).

Allgemeine Grundlagen

Das Strafverfahren dient grundsätzlich der Sachverhaltsaufklärung und Ahndung strafbarer Handlungen. Das Legalitätsprinzip verpflichtet die Strafverfolgungsbehörden grundsätzlich zur Verfolgung von Straftaten. Dennoch sieht das Gesetz Fallgruppen vor, in denen im Interesse der Verhältnismäßigkeit, des öffentlichen Interesses oder aus Gründen der Entlastung der Justiz von einer Verfolgung abgesehen werden kann oder muss.

Rechtsgrundlagen des Absehens von Verfolgung im deutschen Strafrecht

§§ 153 ff. StPO – Absehen von der Verfolgung im Ermittlungsverfahren

Die Strafprozessordnung regelt in mehreren Vorschriften die Möglichkeit, von einer Strafverfolgung abzusehen:

  • § 153 StPO: Geringfügigkeit

Ermittlungsverfahren können eingestellt werden, wenn die Schuld des Täters als gering anzusehen wäre und kein öffentliches Interesse an der Strafverfolgung besteht. Diese Vorschrift erfasst insbesondere Bagatelldelikte. Die Entscheidung trifft in der Regel die Staatsanwaltschaft.

  • § 153a StPO: Einstellungen gegen Auflagen und Weisungen

Ermittlungsverfahren bei Vergehen können mit Zustimmung des zuständigen Gerichts unter Erteilung bestimmter Auflagen und Weisungen vorläufig eingestellt werden. Nach vollständiger Erfüllung der Auflagen erfolgt endgültige Einstellung.

  • § 153b StPO: Verfahren gegen im Ausland begangene Straftaten

Bei Straftaten, die ganz oder teilweise im Ausland begangen wurden, kann von der Verfolgung abgesehen werden, etwa wenn der Täter im Ausland wegen derselben Tat bereits verfolgt und bestraft wurde.

  • § 154 StPO: Absehen wegen anderer Straftaten

Die Strafverfolgung kann zurückgestellt oder ganz eingestellt werden, wenn bereits wegen anderer Tatvorwürfe ein Verfahren betrieben wird und eine zusätzliche Verfolgung nicht ins Gewicht fallen würde.

  • § 154b StPO: Strafrestverzicht

Unter bestimmten Voraussetzungen, etwa wenn ein Auslieferungsverfahren ins Ausland vorgesehen ist, kann das Strafverfahren eingestellt werden.

  • § 376 StPO in Verbindung mit § 74d GVG: Absehen im Zusammenhang mit Verfolgungsverjährung

Eine Einstellung kommt ebenfalls in Betracht, wenn Verfolgungsverjährung eingetreten ist oder bevorsteht.

Dispositionsmaxime und Legalitätsgrundsatz

Abgesehen werden kann in der Regel nur im Bereich von Vergehen mit niedrigem Unrechtsgehalt; schwere Straftaten (Verbrechen) sind meistens vom Absehen ausgeschlossen. Die Entscheidungsbefugnis liegt primär bei der Staatsanwaltschaft, bei einzelnen Verfahrensarten ist die Zustimmung des Gerichts erforderlich.

Das Spannungsverhältnis zwischen Legalitätsgrundsatz und Opportunitätsprinzip spiegelt sich in diesen Normen wider: Während der Legalitätsgrundsatz die Strafverfolgungsbehörden zur Ahndung aller verfolgbaren Straftaten anhält, eröffnet das Gesetz über das Opportunitätsprinzip im Einzelfall flexible Handhabungen im Interesse der Gerechtigkeit und der verfahrensökonomischen Erwägungen.

Praktische Bedeutung

Das Absehen von Strafverfolgung dient mehreren Zielen:

  • Entlastung der Justiz

Einstellung aufgrund geringer Schuld oder fehlenden öffentlichen Interesses verhindert eine übermäßige Belastung der Gerichte mit Bagatellsachen.

  • Verhältnismäßigkeit und Friedenswahrung

In Einzelfällen ist die Fortsetzung der Strafverfolgung nicht angezeigt, etwa wenn außerhalb strafrechtlicher Sanktionen bereits eine ausreichende Wiedergutmachung stattgefunden hat.

  • Opfer-Täter-Ausgleich

Durch Auflagen und Weisungen kann durch das Absehen von Verfolgung im Vorfeld des Hauptverfahrens eine einvernehmliche Lösung zwischen Geschädigten und Beschuldigten gefördert werden.

Verfahren und Abläufe

Entscheidungsbefugnis und Ablauf

Die Entscheidung über das Absehen von Strafverfolgung trifft zunächst die Staatsanwaltschaft. Bei bestimmten Einstellungen, beispielsweise nach § 153a StPO, wird die Zustimmung des zuständigen Gerichts benötigt. Die Entscheidung wird dem Angeschuldigten bekannt gegeben; in einzelnen Fällen ist auch der Verletzte zu informieren.

Folgen der Einstellung

Kommt es zu einer endgültigen Einstellung ohne Auflagen, ist das Verfahren für den Beschuldigten abgeschlossen und gilt nicht als Schuldspruch. Einstellungen gegen Auflagen werden erst wirksam, wenn der Beschuldigte die vereinbarten Leistungen vollständig erbracht hat. Die Entscheidung ist im Regelfall nicht mit Rechtsmitteln anfechtbar.

Besondere Fallgruppen und Abgrenzungen

Absehen von Verfolgung bei Jugendlichen

Im Jugendstrafrecht (§ 45 JGG) ist das Absehen von Verfolgung besonders geregelt. Hier sind Einstellungen aus pädagogischen Gründen häufiger und dienen der schnellen Wiedereingliederung statt Sanktionierung.

Absehen von Verfolgung ausländischer Straftaten

Nach § 153b StPO kann auch auf die Verfolgung verzichtet werden, wenn bereits eine ausländische Bestrafung stattgefunden hat, um Doppelverfolgungen zu vermeiden.

Abgrenzung: Verfahrenseinstellungen nach §§ 170 Abs. 2, 206a StPO

Nicht zu verwechseln ist das Absehen von Verfolgung mit der Einstellung mangels hinreichenden Tatverdachts oder aus verfahrensrechtlichen Gründen wie Verfahrenshindernissen (z.B. Verjährung).

Literatur und Weblinks

  • Gesetzestexte (Strafprozessordnung, Jugendgerichtsgesetz)
  • Kommentarliteratur und Handbücher zu den o.g. Vorschriften
  • Justizstatistiken und Veröffentlichungen öffentlicher Stellen

Fazit: Das Absehen von Strafverfolgung ist ein wichtiger Teil des Strafprozessrechts, der es ermöglicht, genaue Interessenabwägungen zu treffen und die Ressourcen der Strafjustiz auf schwerwiegende Fälle zu konzentrieren. Die damit verbundene rechtsstaatliche Kontrolle gewährleistet, dass milde Reaktionen auf geringfügige oder bereits anderweitig geahndete Straftaten gesetzlich klar geregelt und nachvollziehbar bleiben.

Häufig gestellte Fragen

In welchen Fällen kann von der Strafverfolgung gemäß § 153 StPO abgesehen werden?

Gemäß § 153 der Strafprozessordnung (StPO) kann die Staatsanwaltschaft bei Vergehen, deren Folgen gering sind und bei denen kein öffentliches Interesse an der Strafverfolgung besteht, von der Verfolgung absehen. Voraussetzung hierfür ist, dass es sich um eine Tat handelt, die nach ihrer Bedeutung als geringfügig einzustufen ist und dass kein überwiegendes Interesse der Allgemeinheit an einer gerichtlichen Ahndung der Tat besteht. In der Praxis betrifft das meist erstmalige oder minderschwere Delikte wie kleinere Diebstähle, Beleidigungen oder Sachbeschädigungen. Zudem muss eine Einzelfallprüfung erfolgen, bei der insbesondere die Person des Täters, sein Vorverhalten, der Tathergang und die Schadenshöhe berücksichtigt werden. Das Absehen von Verfolgung durch die Staatsanwaltschaft ist jedoch ausgeschlossen, wenn der Verletzte der Einstellung widerspricht, sofern ein solches Widerspruchsrecht im Einzelfall besteht.

Welche Bedeutung hat das Opportunitätsprinzip für das Absehen von Strafverfolgung?

Im deutschen Strafprozess steht das Legalitätsprinzip grundsätzlich im Vordergrund, was bedeutet, dass die Strafverfolgungsbehörden bei Anfangsverdacht verpflichtet sind, ein Ermittlungsverfahren einzuleiten. Das Opportunitätsprinzip bildet davon eine Ausnahme und erlaubt den Behörden, insbesondere bei Vergehen von geringfügiger Bedeutung oder unter bestimmten im Gesetz genannten Voraussetzungen, von einer Strafverfolgung abzusehen oder das Verfahren einzustellen. Das Opportunitätsprinzip dient unter anderem der Entlastung der Justiz und der gezielten Ressourcensteuerung durch Konzentration auf gravierende Delikte. Beispiele hierfür finden sich unter anderem in § 153 StPO (Absehen bei Geringfügigkeit), § 153a StPO (Einstellung gegen Auflagen und Weisungen) sowie in den Vorschriften zu Bagatelldelikten.

Welche Rolle spielt das Interesse des Geschädigten beim Absehen von Strafverfolgung?

Das Interesse des Geschädigten ist ein wesentliches Kriterium, das die Staatsanwaltschaft im Rahmen ihrer Ermessenserwägungen berücksichtigen muss. Gemäß § 153 Abs. 1 S. 2 StPO kann die Einstellung regelmäßig nicht erfolgen, wenn ein besonderes öffentliches Interesse an der Strafverfolgung besteht oder der Geschädigte ein berechtigtes Interesse an der strafrechtlichen Verfolgung darlegt und gegebenenfalls auch von einem Widerspruchsrecht Gebrauch macht. Bei Privatklagedelikten hat das Interesse des Geschädigten ein besonders hohes Gewicht. In solchen Fällen kann die Einstellung des Verfahrens sogar ausschließlich mit Zustimmung des Opfers erfolgen (§ 374 StPO), sodass die Belange des Geschädigten die Entscheidung wesentlich mitbestimmen.

Inwieweit kann von der Verfolgung bei Jugendstraftaten abgesehen werden?

Nach dem Jugendgerichtsgesetz (JGG) gibt es besondere Regelungen, die bei Straftaten junger Menschen das Absehen von Verfolgung erleichtern. § 45 JGG sieht z.B. die Möglichkeit vor, vom förmlichen Verfahren abzusehen, wenn die Erziehungsmaßregeln oder andere Maßnahmen als ausreichend angesehen werden, um auf den Jugendlichen einzuwirken. Dies dient dem Grundsatz des Erziehungsgedankens im Jugendstrafrecht, der vor allem auf Prävention und Resozialisierung, weniger auf Bestrafung abzielt. Noch weitergehend ermöglicht § 47 JGG eine Einstellung sogar nach Anklageerhebung, sofern das öffentliche Interesse an der Verfolgung nicht gegeben ist und das Gericht dies bejaht. Die Entscheidung darüber trifft jedoch die Staatsanwaltschaft bzw. das Jugendgericht nach sorgfältiger Prüfung aller Umstände, einschließlich des Entwicklungsstandes des Jugendlichen und der Art der Tat.

Welche verfahrensrechtlichen Folgen hat das Absehen von (Straf-)Verfolgung?

Das Absehen von der Strafverfolgung führt in der Regel dazu, dass das Ermittlungs- oder Strafverfahren eingestellt wird. Die Einstellung erfolgt entweder durch einen Beschluss, eine Verfügung der Staatsanwaltschaft oder des Gerichts. Dies hat zur Folge, dass keine weiteren Ermittlungen getätigt werden und der Betroffene nicht als vorbestraft gilt, sofern die Einstellung nicht mit einem Strafvorbehalt verbunden ist (wie etwa bei § 153a StPO). In bestimmten Fällen ist die Einstellung widerrufbar, etwa wenn Auflagen und Weisungen nicht erfüllt werden. Wird das Verfahren eingestellt, können in der Regel keine strafprozessualen Zwangsmaßnahmen mehr gegen den Beschuldigten verhängt werden und er kann sein Eigentum (zum Beispiel beschlagnahmte Gegenstände) zurückverlangen.

Gibt es Möglichkeiten, gegen das Absehen von Strafverfolgung vorzugehen?

Das Absehen von der Strafverfolgung durch die Staatsanwaltschaft ist grundsätzlich eine Ermessensentscheidung, gegen die der Beschuldigte regelmäßig kein Rechtsmittel hat. Für das Opfer bzw. den Geschädigten gibt es jedoch in bestimmten Konstellationen ein Beschwerderecht gemäß § 172 StPO (sog. Klageerzwingungsverfahren). Dieses ermöglicht es dem Geschädigten bei bestimmten Delikten – insbesondere bei schweren Straftaten – die gerichtliche Überprüfung der staatsanwaltschaftlichen Einstellungsentscheidung einzufordern. Andernfalls ist die Entscheidung rechtlich bindend, solange nicht neue Tatsachen oder Beweise ein weiteres Vorgehen rechtfertigen.

Wie unterscheidet sich das Absehen von Strafverfolgung von der Einstellung des Verfahrens nach § 170 Abs. 2 StPO?

Das Absehen von Strafverfolgung gemäß §§ 153 ff. StPO erfolgt trotz festgestellten Tatverdachts, während die Einstellung nach § 170 Abs. 2 StPO den Fall betrifft, dass kein hinreichender Tatverdacht gegen den Beschuldigten besteht. Der zentrale Unterschied liegt also darin, dass bei § 153 StPO zwar grundsätzlich ein Anfangsverdacht vorliegt, aber aus Opportunitätsgründen – etwa infolge Geringfügigkeit – auf eine Strafverfolgung verzichtet wird. Bei § 170 Abs. 2 StPO hingegen fehlt ein hinreichender Tatverdacht, so dass die Behörde bereits mangels Tatnachweises das Verfahren beendet. Die juristischen und praktischen Auswirkungen sind in beiden Fällen unterschiedlich: Die Einstellung mangels Tatverdachts signalisiert ein unbewiesenes oder nicht nachweisbares Fehlverhalten, das Absehen von Verfolgung gemäß § 153 ff. hingegen ein nachgewiesenes, aber geringfügiges Vergehen ohne öffentliches Interesse an der Strafverfolgung.