Begriff und Bedeutung der Verfassungswidrigkeit
Der Begriff Verfassungswidrigkeit bezeichnet im Verfassungsrecht die Rechtswidrigkeit eines staatlichen Handelns aufgrund eines Verstoßes gegen die jeweilige Verfassung. In Deutschland bezieht sich dies hauptsächlich auf das Grundgesetz (GG), das als oberstes Gesetz die rechtlichen und politischen Grundsätze sowie die staatliche Ordnung bestimmt. Liegt eine Verfassungswidrigkeit vor, bedeutet dies, dass Normen, Maßnahmen oder Akte der Staatsgewalt nicht mit den Vorschriften und Grundsätzen der Verfassung in Einklang stehen.
Formen der Verfassungswidrigkeit
Normverfassungswidrigkeit
Unter Normverfassungswidrigkeit versteht man Rechtsvorschriften (Gesetze, Rechtsverordnungen oder Satzungen), die gegen höherrangiges Verfassungsrecht verstoßen. Solche Normen können beispielsweise gegen Grundrechte, Staatsstrukturprinzipien oder Verfahrensvorschriften der Verfassung verstoßen.
Beispiel:
Ein Bundesgesetz, das das Gleichheitsgebot (Art. 3 GG) deutlich missachtet, wäre verfassungswidrig.
Maßnahmeverfassungswidrigkeit
Die Maßnahmeverfassungswidrigkeit betrifft Einzelakte der Staatsgewalt, insbesondere Verwaltungsakte oder Urteile. Sie liegt vor, wenn konkrete Maßnahmen nicht mit der Verfassung vereinbar sind. Dies kann etwa zutreffen, wenn durch einen Verwaltungsakt ein Grundrecht unverhältnismäßig eingeschränkt wird.
Verfassungswidrigkeit von Verfassungsänderungen
Auch Verfassungsänderungen selbst können verfassungswidrig sein, wenn sie gegen die sogenannten Ewigkeitsklauseln des Grundgesetzes (Art. 79 Abs. 3 GG) verstoßen, die bestimmte grundlegende Prinzipien (z.B. die Unantastbarkeit der Menschenwürde, Demokratie- und Rechtsstaatsprinzip) vor Veränderung schützen.
Feststellung der Verfassungswidrigkeit
Prüfungsinstanzen
Die Feststellung, ob ein Gesetz oder eine Maßnahme verfassungswidrig ist, obliegt in Deutschland in erster Linie dem Bundesverfassungsgericht sowie den Verfassungsgerichten der Länder. Normen sind so lange verbindlich, wie sie nicht durch Urteil des zuständigen Gerichts für nichtig erklärt wurden.
Verfahren zur Feststellung
Konkrete Normenkontrolle (§ 100 GG)
Entscheidungen über die Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes werden durch das Bundesverfassungsgericht unter anderem im Rahmen einer sogenannten konkreten Normenkontrolle getroffen, wenn Gerichte im laufenden Verfahren Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit einer Norm äußern.
Abstrakte Normenkontrolle (§ 93 GG)
Eine abstrakte Normenkontrolle kann durch bestimmte Verfassungsorgane oder eine Landesregierung beim Bundesverfassungsgericht angestrengt werden, wenn grundsätzliche Zweifel an der Verfassungskonformität eines Gesetzes bestehen.
Verfassungsbeschwerde (Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG)
Jede Person kann sich durch eine Verfassungsbeschwerde gegen Maßnahmen oder Gesetze wenden, von denen sie sich in ihren Grundrechten verletzt sieht. Das Bundesverfassungsgericht prüft die Verfassungswidrigkeit und kann ggf. die Maßnahme oder das Gesetz außer Kraft setzen.
Rechtsfolgen der Verfassungswidrigkeit
Nichtigkeit und Unanwendbarkeit
Wenn ein Gesetz, eine Maßnahme oder eine Verfassungsänderung als verfassungswidrig festgestellt wird, kann dies je nach Umstand unterschiedliche Rechtsfolgen haben:
- Nichtigkeit: Gesetze, die für nichtig erklärt werden, gelten rückwirkend als von Anfang an unwirksam.
- Unanwendbarkeit: Urteile und Verwaltungsakte, die auf einer verfassungswidrigen Rechtsgrundlage beruhen, sind aufzuheben oder abzuändern.
- Beseitigungspflicht: Gesetzgeber oder Verwaltung können verpflichtet werden, verfassungswidrige Zustände zu beheben, etwa durch neue Gesetzgebung.
Wirkungskraft der Entscheidung
Die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts entfalten Bindungswirkung für alle Staatsorgane (§ 31 BVerfGG). Die Verfassungswidrigkeit einer Norm oder Maßnahme betrifft damit nicht nur das konkrete Verfahren, sondern hat weitreichende Auswirkungen auf Verwaltung und Rechtsprechung.
Abgrenzung: Formelle und materielle Verfassungswidrigkeit
Formelle Verfassungswidrigkeit
Formelle Verfassungswidrigkeit liegt vor, wenn bei der Erlassung eines Gesetzes oder einer Maßnahme gegen verfassungsrechtlich vorgeschriebene Verfahren oder Zuständigkeiten verstoßen wurde, unabhängig vom Inhalt der Norm.
Materielle Verfassungswidrigkeit
Materielle Verfassungswidrigkeit bezieht sich demgegenüber auf den Inhalt der Norm oder Maßnahme. Ist dieser mit materiellen Verfassungsvorgaben (insbesondere Grundrechte und Staatsprinzipien) unvereinbar, liegt eine materielle Verfassungswidrigkeit vor.
Verfassungswidrigkeit und ihre Bedeutung im Rechtsstaat
Die konsequente Feststellung und Beseitigung von verfassungswidrigen Normen oder Maßnahmen ist ein zentrales Element der Kontrolle staatlichen Handelns. Sie dient dem Schutz der Bürgerrechte, der Gewaltenteilung sowie der Sicherung der Verfassungsordnung und des demokratischen Rechtsstaates. Die Möglichkeit, staatliches Handeln auf seine Verfassungskonformität überprüfen zu lassen, ist ein grundlegendes Merkmal moderner Rechtsstaatlichkeit.
Literatur und weiterführende Informationen
- Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland (GG)
- Bundesverfassungsgerichtsgesetz (BVerfGG)
- Bundesverfassungsgericht – Informationen zu Verfahren und Entscheidungen
- Maunz/Dürig: Grundgesetz-Kommentar
- Schneider: Staatsrecht I – Grundlagen, Verfassung, Organe, Staatsfunktionen
Diese umfassende Darstellung des Begriffs Verfassungswidrigkeit bietet einen Überblick über Definition, Formen, Feststellungsverfahren und Rechtsfolgen. Die Einhaltung verfassungsrechtlicher Vorgaben ist wesentlicher Bestandteil eines funktionierenden und gerechten Rechtsstaats.
Häufig gestellte Fragen
Wer kann die Verfassungswidrigkeit eines Gesetzes feststellen?
Die Feststellung der Verfassungswidrigkeit eines Gesetzes obliegt in Deutschland grundsätzlich dem Bundesverfassungsgericht. Dieses besitzt das alleinige Prüfungs- und Entscheidungsermessen darüber, ob ein Gesetz gegen das Grundgesetz verstößt. Zwar können auch andere Gerichte im Rahmen einer sogenannten konkreten Normenkontrolle (§ 100 GG, § 80 BVerfGG) Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes äußern, sie müssen in einem solchen Fall jedoch das Verfahren aussetzen und dem Bundesverfassungsgericht zur Entscheidung vorlegen. Auch im Wege der abstrakten Normenkontrolle, initiiert etwa durch Bundesregierung, eine Landesregierung oder ein Viertel der Mitglieder des Bundestages, prüft ausschließlich das Bundesverfassungsgericht, ob ein Bundes- oder Landesgesetz mit dem Grundgesetz vereinbar ist. Nur das Urteil dieses Gerichts entfaltet bindende Wirkung für alle staatlichen Organe.
Welche rechtlichen Folgen hat die Feststellung der Verfassungswidrigkeit?
Der entscheidende rechtliche Effekt der Feststellung der Verfassungswidrigkeit durch das Bundesverfassungsgericht besteht darin, dass das betreffende Gesetz mit der Verkündung des Urteils entweder für nichtig erklärt wird oder seine Anwendbarkeit eingeschränkt wird. Die Nichtigkeit wirkt grundsätzlich ex tunc, d.h., das Gesetz gilt als von Anfang an unwirksam. In einigen Fällen kann das Bundesverfassungsgericht die Anwendung des Gesetzes auch lediglich für unvereinbar mit dem Grundgesetz erklären und dem Gesetzgeber eine Frist zu dessen Überarbeitung setzen (sogenannte „Fortgeltungsanordnung“). Zudem ist die Entscheidung bindend für sämtliche Gerichte und Behörden (Art. 31 BVerfGG). Ansprüche auf Rückabwicklung oder Wiedergutmachung können sich je nach Einzelfall und betroffener Norm aus der Nichtigkeit ergeben.
Wer ist zur Beantragung der Überprüfung eines Gesetzes auf Verfassungswidrigkeit berechtigt?
Es gibt unterschiedliche Antragsberechtigte je nach Art des Verfahrens vor dem Bundesverfassungsgericht. Bei der abstrakten Normenkontrolle nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG sind dies die Bundesregierung, eine Landesregierung oder ein Viertel der Mitglieder des Bundestages. Im Wege der konkreten Normenkontrolle kann jedes Gericht ein Gesetz dem Bundesverfassungsgericht vorlegen, sofern es dieses für verfassungswidrig hält und dessen Entscheidung für den Rechtsstreit entscheidungserheblich ist. Einzelpersonen können im Rahmen der Verfassungsbeschwerde (§ 93 BVerfGG) gegen Gesetze und sonstige Hoheitsakte vorgehen, sofern sie selbst, gegenwärtig und unmittelbar in eigenen Grundrechten betroffen sind.
Gibt es einen Unterschied zwischen der formellen und der materiellen Verfassungswidrigkeit?
Ja, im deutschen Verfassungsrecht unterscheidet man zwischen formeller und materieller Verfassungswidrigkeit. Formelle Verfassungswidrigkeit liegt vor, wenn ein Gesetz unter Verstoß gegen vorgeschriebene Gesetzgebungsverfahren oder Kompetenzen zustande gekommen ist, also z. B. nicht die erforderlichen Mehrheiten im Bundestag oder Bundesrat erreicht wurden oder das Initiativrecht missachtet wurde. Materielle Verfassungswidrigkeit bezieht sich hingegen auf den Inhalt des Gesetzes, d.h., ob es mit inhaltlichen Vorgaben des Grundgesetzes wie den Grundrechten oder dem Sozialstaatsprinzip in Einklang steht. Beide Arten der Verfassungswidrigkeit können zur Nichtigerklärung des Gesetzes führen.
Kann auch Verwaltungshandeln als verfassungswidrig eingestuft werden?
Ja, neben Gesetzen kann auch Verwaltungshandeln – also Akte der Exekutive wie Verordnungen, Verwaltungsakte oder schlichtes Verwaltungshandeln – auf seine Vereinbarkeit mit dem Grundgesetz überprüft werden. Für Individualrechtsschutz gibt es hierzu die Verfassungsbeschwerde nach Art. 93 GG. Verwaltungshandeln muss den Bindungen des Art. 1 Abs. 3 GG standhalten und kann, soweit es gegen Grundrechte oder andere Verfassungsnormen verstößt, für verfassungswidrig erklärt werden. Solche Feststellungen erfolgen ebenfalls durch das Bundesverfassungsgericht; im Einzelfall können auch Fachgerichte, insbesondere Verwaltungsgerichte, Grundrechtsverletzungen feststellen und entsprechende Maßnahmen zur Wiederherstellung rechtmäßiger Zustände anordnen.
Welche Bedeutung hat die Verfassungswidrigkeit für laufende Verfahren?
Wird in laufenden gerichtlichen oder behördlichen Verfahren die Verfassungswidrigkeit einer Norm geltend gemacht oder festgestellt, hat dies unmittelbaren Einfluss auf die Entscheidung im Streitfall. Bestehen beispielsweise Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit eines anzuwendenden Gesetzes, muss das Gericht das Verfahren aussetzen und dem Bundesverfassungsgericht zur Prüfung vorlegen (konkrete Normenkontrolle). Bis zur Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts wird das Verfahren ruhend gestellt. Wird das Gesetz für nichtig erklärt, dürfen die Gerichte es nicht weiter anwenden und müssen den Einzelfall auf der Basis der dann geltenden Rechtslage entscheiden. Bereits ergangene Entscheidungen, die auf der nichtigen Norm beruhen, werden dadurch allerdings nicht automatisch rückwirkend aufgehoben; hierzu bedarf es häufig gesonderter rechtlicher Schritte.