Begriff und Bedeutung der Verfassungswidrigkeit
Verfassungswidrigkeit bezeichnet den Widerspruch eines staatlichen Handelns oder einer staatlichen Regelung zur geltenden Verfassungsordnung. Gemeint sind Abweichungen von bindenden Grundsätzen und Regeln der Verfassung, etwa bei Erlass, Inhalt oder Anwendung von Normen sowie bei der Ausübung staatlicher Gewalt. Der Begriff ist zentral für die Sicherung des Verfassungsvorrangs: Alle staatlichen Stellen sind an die Verfassung gebunden; kollidierende Maßnahmen sind rechtlich unzulässig und können aufgehoben oder für unanwendbar erklärt werden.
Normenhierarchie und Verfassungsvorrang
Die Verfassung steht an der Spitze der innerstaatlichen Normenhierarchie. Unterhalb folgen Gesetze, Rechtsverordnungen und Satzungen. Aus dem Vorrang der Verfassung ergibt sich: Trifft eine niedrigere Norm oder eine staatliche Maßnahme auf die Verfassung, ist stets der verfassungskonforme Zustand herzustellen. Dieser Vorrang wirkt sowohl gegenüber dem Gesetzgeber als auch gegenüber Verwaltung und Gerichten.
Abgrenzung zur einfachen Rechtswidrigkeit
Rechtswidrigkeit liegt vor, wenn eine Maßnahme gegen einfaches Recht verstößt (z. B. gegen ein Gesetz). Verfassungswidrigkeit geht darüber hinaus: Sie betrifft Verstöße gegen die Verfassung selbst, etwa gegen Grundrechte, gegen das Demokratie- oder Rechtsstaatsprinzip, gegen Zuständigkeitsregeln oder gegen verfassungsrechtliche Verfahren. Nicht jede Rechtswidrigkeit ist verfassungswidrig, aber jede Verfassungswidrigkeit ist auch rechtswidrig.
Arten der Verfassungswidrigkeit
Formelle Verfassungswidrigkeit
Formelle Verfassungswidrigkeit liegt vor, wenn der Erlass einer Norm die verfassungsrechtlich vorgegebenen Zuständigkeiten, Formen oder Verfahren verletzt.
Kompetenzüberschreitung
Ein Gesetz ist formell verfassungswidrig, wenn der zuständige Gesetzgeber überschritten wurde, also Bund oder Länder eine Materie regeln, die ihnen verfassungsrechtlich nicht zugewiesen ist.
Verfahrens- und Formverstöße
Dazu zählen Missachtungen vorgeschriebener Gesetzgebungsverfahren, Transparenz- oder Beteiligungspflichten, Fristen, Öffentlichkeitserfordernisse sowie Formanforderungen wie Ausfertigung und Verkündung.
Materielle Verfassungswidrigkeit
Materielle Verfassungswidrigkeit betrifft den Inhalt einer Norm oder Maßnahme.
Grundrechte und Verhältnismäßigkeit
Eingriffe in Freiheits- und Gleichheitsrechte müssen einem legitimen Zweck dienen, geeignet, erforderlich und angemessen sein. Fehlt es an diesen Voraussetzungen, liegt ein Verstoß gegen den Grundrechtsschutz vor.
Gleichheit und Willkürverbot
Ungleichbehandlungen bedürfen eines sachlichen Grundes. Willkürliche Differenzierungen oder unverhältnismäßige Belastungen sind verfassungswidrig.
Bestimmtheit und Normklarheit
Rechtsnormen müssen so bestimmt und klar gefasst sein, dass Adressierte ihr Verhalten darauf einrichten können. Unklare, widersprüchliche oder übermäßig unbestimmte Regelungen können verfassungswidrig sein.
Staatsstrukturprinzipien
Verstöße gegen tragende Verfassungsprinzipien wie Demokratie, Rechtsstaat, Bundesstaatlichkeit, Sozialstaatlichkeit oder die Bindung der Staatsgewalt an Recht und Gesetz begründen materielle Verfassungswidrigkeit.
Gegenstände der Verfassungswidrigkeit
Gesetze und Rechtsverordnungen
Gesetze und untergesetzliche Normen können formell oder materiell verfassungswidrig sein. Für formelle Gesetze besteht ein zentrales Prüfungs- und Verwerfungsrecht der Verfassungsgerichte.
Verwaltungsakte und tatsächliches Handeln
Auch individuelle Entscheidungen der Verwaltung sowie faktisches Handeln (etwa polizeiliche Maßnahmen) können verfassungswidrig sein, wenn sie die Verfassung verletzen. Fachgerichte prüfen dies im Einzelfall; verfassungsrechtliche Fragen können den Verfassungsgerichten vorgelegt werden.
Gerichtsentscheidungen
Gerichtsentscheidungen können verfassungswidrig sein, wenn sie verfassungsrechtliche Maßstäbe verkennen, etwa Grundrechte oder den Anspruch auf rechtliches Gehör. Eine verfassungsrechtliche Kontrolle erfolgt in besonderen Verfahren.
Wahlen, Volksentscheide, Haushalte
Auch Akte der politischen Willensbildung und Finanzverfassungsfragen können auf Verfassungswidrigkeit geprüft werden, etwa bei Wahlfehlern, Kompetenzverstößen oder Missachtung verfassungsgebundener Haushaltsregeln.
Feststellung und Kontrolle
Rolle der Verfassungsgerichte
Die zentrale Feststellung von Verfassungswidrigkeit obliegt den Verfassungsgerichten des Bundes und der Länder. Sie wachen über die Einhaltung der Verfassung, klären Streitigkeiten zwischen Staatsorganen und entscheiden über die Verfassungsmäßigkeit von Normen.
Abstrakte und konkrete Normenkontrolle
Bei der abstrakten Kontrolle wird eine Norm losgelöst vom Einzelfall überprüft. Bei der konkreten Kontrolle legt ein Gericht eine entscheidungserhebliche Frage der Verfassungsmäßigkeit vor, wenn es die Norm für verfassungswidrig hält.
Verfassungsbeschwerde
Personen können geltend machen, durch öffentliche Gewalt in verfassungsrechtlich geschützten Positionen verletzt zu sein. Geprüft wird, ob eine Grundrechtsverletzung oder ein anderer Verfassungsverstoß vorliegt.
Organ- und Bund-Länder-Streitigkeiten
Streitigkeiten zwischen Verfassungsorganen oder zwischen Bund und Ländern über Rechte und Pflichten aus der Verfassung werden verfassungsgerichtlich geklärt, einschließlich der Frage der Verfassungswidrigkeit des beanstandeten Handelns.
Kontrolle durch Fachgerichte
Fachgerichte wenden die Verfassung in ihren Verfahren an. Sie können untergesetzliche Normen verwerfen und verfassungskonforme Auslegung vornehmen. Hält ein Gericht ein formelles Gesetz für verfassungswidrig, muss es in der Regel dem zuständigen Verfassungsgericht die Frage vorlegen.
Verwerfungsmonopol und Vorlagepflicht
Die verbindliche Nichtigerklärung von Parlamentsgesetzen obliegt dem zuständigen Verfassungsgericht. Fachgerichte haben eine Vorlagepflicht, wenn die Entscheidung von der Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes abhängt und sie dieses für unvereinbar mit der Verfassung halten.
Rechtsfolgen der Verfassungswidrigkeit
Nichtigkeit, Unanwendbarkeit, Teilnichtigkeit
Wird eine Norm für verfassungswidrig erklärt, kann sie nichtig sein (sie gilt als von Anfang an unwirksam) oder unanwendbar. Teilnichtigkeit betrifft nur bestimmte Regelungsbereiche, wenn der verfassungswidrige Teil abtrennbar ist.
Unvereinbarkeitserklärung und Übergangsregelungen
Verfassungsgerichte können eine Norm als mit der Verfassung unvereinbar einstufen, ihre vorübergehende Anwendung aber anordnen, um Regelungslücken zu vermeiden, bis der Gesetzgeber nachbessert. Dies dient Rechtssicherheit und Funktionsfähigkeit staatlicher Abläufe.
Rückwirkung und Vertrauensschutz
Entscheidungen über Verfassungswidrigkeit berücksichtigen regelmäßig das Vertrauen in bestehende Regelungen und die Stabilität abgeschlossener Rechtsverhältnisse. Ob und in welchem Umfang Wirkungen rückwirkend entfallen, hängt von Abwägungen zwischen Verfassungsschutz und Rechtssicherheit ab.
Verfassungskonforme Auslegung und Normerhalt
Wo möglich, wird eine Norm so ausgelegt, dass sie mit der Verfassung in Einklang steht. Dieses Auslegungsprinzip soll den Normerhalt sichern und die Bindung aller Staatsgewalt an die Verfassung wahren.
Heilbarkeit von Verfahrensfehlern
Bestimmte formelle Mängel können durch spätere Verfahren geheilt werden, sofern die Verfassung dies zulässt und der Kern verfassungsrechtlicher Anforderungen gewahrt bleibt. Nicht heilbar sind Verstöße gegen grundlegende Verfahrensgarantien.
Zeitliche und föderale Bezüge
Bund und Länder
Im föderalen System gilt der Vorrang der Verfassung für Bund und Länder gleichermaßen. Landesverfassungsgerichte prüfen die Vereinbarkeit landesrechtlicher Normen mit den jeweiligen Landesverfassungen, das Bundesverfassungsgericht die Übereinstimmung mit der Bundesverfassung.
Verhältnis zum Unionsrecht und Völkerrecht
Die Verfassung ordnet das Verhältnis zu überstaatlichen Rechtsordnungen. Unionsrecht beansprucht Geltungsvorrang gegenüber einfachem nationalem Recht. Die Verfassung bleibt Maßstab für die innerstaatliche Rechtsordnung; Konflikte werden in abgestimmten Kontrollmaßstäben gelöst, die sowohl Verfassungstreue als auch Bindungen an überstaatliche Vorgaben berücksichtigen.
Beweis- und Prüfungsmaßstäbe
Prüfungsdichte und Einschätzungsprärogative
Die Kontrolle verfassungsrechtlicher Maßstäbe erfolgt je nach Regelungsbereich mit unterschiedlicher Tiefe. Dem Gesetzgeber steht bei komplexen Prognosen ein Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsspielraum zu; er endet dort, wo die Verfassung klare Grenzen zieht.
Übermaß- und Untermaßkontrolle
Bei Schutzpflichten prüft die Kontrolle, ob der Staat Mindestanforderungen erfüllt (Untermaß). Bei Eingriffen wird kontrolliert, ob der Staat zu stark belastet (Übermaß). Beide Prüfungen dienen der Balance zwischen Freiheitsschutz, Gleichheit und Gemeinwohl.
Häufig gestellte Fragen zur Verfassungswidrigkeit
Was bedeutet Verfassungswidrigkeit im Kern?
Verfassungswidrigkeit liegt vor, wenn staatliche Normen oder Maßnahmen gegen bindende Vorgaben der Verfassung verstoßen. Dies betrifft sowohl den Weg ihres Zustandekommens als auch ihren Inhalt und ihre Anwendung.
Worin unterscheidet sich Verfassungswidrigkeit von einfacher Rechtswidrigkeit?
Einfach rechtswidrig ist, was gegen unterhalb der Verfassung stehende Regeln verstößt. Verfassungswidrig ist, was mit der Verfassung selbst unvereinbar ist. Letzteres hat regelmäßig weiterreichende Folgen für Geltung und Anwendung.
Wer stellt verbindlich fest, dass ein Gesetz verfassungswidrig ist?
Die verbindliche Feststellung obliegt den zuständigen Verfassungsgerichten. Fachgerichte können Zweifel äußern und Fragen vorlegen, die Entscheidung über Nichtigkeit oder Unvereinbarkeit trifft das Verfassungsgericht.
Welche Rechtsfolgen hat die Feststellung der Verfassungswidrigkeit?
In Betracht kommen Nichtigkeit, Unanwendbarkeit, Teilnichtigkeit oder eine Unvereinbarkeitserklärung mit befristeter Weitergeltung. Die konkrete Rechtsfolge richtet sich nach Erforderlichkeiten von Verfassungsschutz, Rechtssicherheit und Funktionsfähigkeit.
Können Verfahrensfehler im Gesetzgebungsverfahren geheilt werden?
Manche Verfahrensmängel sind heilbar, wenn die Verfassung dies zulässt und der Schutzzweck der Vorgabe gewahrt bleibt. Grundlegende Verstöße gegen konstitutive Verfahrensanforderungen sind nicht heilbar.
Gilt Verfassungswidrigkeit auch für Verwaltungsakte und Gerichtsentscheidungen?
Ja. Auch individuelle Verwaltungsakte und gerichtliche Entscheidungen können verfassungswidrig sein, wenn sie verfassungsrechtliche Maßstäbe missachten. Sie unterliegen entsprechender Kontrolle und können aufgehoben werden.
Welche Rolle spielt das Verhältnis zum Unionsrecht bei der Verfassungswidrigkeit?
Unionsrecht beansprucht Vorrang gegenüber einfachem nationalem Recht. Verfassungsrechtliche Kontrolle berücksichtigt diese Bindungen und stellt zugleich sicher, dass verfassungsrechtliche Kernanforderungen gewahrt bleiben.