Legal Lexikon

Wiki»Legal Lexikon»Rechtsbegriffe (allgemein)»Verfassungsmäßige Ordnung

Verfassungsmäßige Ordnung


Begriff und Bedeutung der Verfassungsmäßigen Ordnung

Die verfassungsmäßige Ordnung ist ein zentraler Begriff im deutschen Staats- und Verfassungsrecht. Sie beschreibt die Gesamtheit aller Rechtsnormen, die in Übereinstimmung mit der Verfassung (insbesondere dem Grundgesetz) stehen und die konkrete Ausgestaltung des staatlichen und gesellschaftlichen Zusammenlebens regeln. Die verfassungsmäßige Ordnung stellt nicht nur ein fundamentales Element des freiheitlichen demokratischen Grundstaats dar, sondern ist auch wichtiger Maßstab und Schranke für staatliches Handeln und individuelle Grundrechtsausübung.


Historische Entwicklung

Ursprung und Entstehung

Die Idee einer verfassungsmäßigen Ordnung entwickelte sich im Zuge der konstitutionellen Bewegungen des 18. und 19. Jahrhunderts und erlangte mit dem Inkrafttreten des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland am 23. Mai 1949 besondere Bedeutung. Ziel war es, staatliche Gewalt und Gesetzgebung an eine als legitim anerkannte, höherrangige Rechtsordnung – die Verfassung – zu binden.

Entwicklung im Grundgesetz

Das deutsche Grundgesetz verwendet den Begriff „verfassungsmäßige Ordnung“ an mehreren zentralen Stellen. Die Begriffsprägung und genaue Ausgestaltung geht dabei insbesondere auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zurück, das die Einzelheiten und Maßstäbe entwickelt und fortentwickelt hat.


Systematische Einordnung und Rechtsquellen

Stellung im Grundgesetz

Das Grundgesetz spricht vor allem in den folgenden Vorschriften von der verfassungsmäßigen Ordnung:

  • Art. 2 Abs. 1 GG (allgemeine Handlungsfreiheit): „Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt.“
  • Art. 8 Abs. 2 GG (Versammlungsfreiheit): „Für Versammlungen unter freiem Himmel kann dieses Recht durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes beschränkt werden.“
  • Art. 9 Abs. 2 GG (Vereinigungsfreiheit): „Vereinigungen, deren Zwecke oder deren Tätigkeit den Strafgesetzen zuwiderlaufen oder die sich gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder gegen den Gedanken der Völkerverständigung richten, sind verboten.“

Bedeutung im einfachen Recht

Im einfachen Gesetzesrecht finden sich zahlreiche Verweisungen und Konkretisierungen des Begriffs, beispielsweise im Polizeirecht der Länder oder im Vereinsgesetz. Hier dient „verfassungsmäßige Ordnung“ oftmals als rechtlicher Standard für Eingriffs- und Schrankenbestimmungen.


Inhalt und Umfang der Verfassungsmäßigen Ordnung

Definition und Abgrenzung

Grundsatz

Unter der verfassungsmäßigen Ordnung ist die Gesamtheit der formellen und materiellen Normen zu verstehen, die in Form und Inhalt mit der Verfassung im Einklang stehen. Hierauf nimmt insbesondere die Rechtsprechung Bezug:

„Die verfassungsmäßige Ordnung im Sinne der Grundrechte ist die gesamte Rechtsordnung, die formell und materiell mit der Verfassung im Einklang steht, d. h. alle Normen, die mit dem Grundgesetz vereinbar sind.“

(BVerfGE 6, 32 ff.)

Abgrenzung: Öffentliche Ordnung und Sittengesetz

„Verfassungsmäßige Ordnung“ ist enger als der Begriff „öffentliche Ordnung“, die einen unbestimmteren, allgemeinen Rechts- und Sittenbegriff meint, aber weiter als rein formelle Rechtmäßigkeit. Die verfassungsmäßige Ordnung ist eine objektive Wertordnung und steht hierarchisch unter der Verfassung, aber über dem einfachen Gesetz.


Funktion und Bedeutung

Bindungswirkung für Gesetzgeber und Verwaltung

Der Grundsatz der Bindung an die verfassungsmäßige Ordnung verpflichtet alle Staatsorgane (Legislative, Exekutive und Judikative), im Rahmen und unter Achtung der Verfassung zu handeln. Jede Maßnahme, Entscheidung oder Handlung, die im Widerspruch zur verfassungsmäßigen Ordnung steht, ist rechtswidrig und kann im Wege der Verfassungsbeschwerde überprüft werden.

Schranke und Schutznorm der Grundrechte

Viele Grundrechte sind durch die sogenannte „verfassungsmäßige Ordnung“ einschränkbar, zum Beispiel die allgemeine Handlungsfreiheit nach Art. 2 Abs. 1 GG. Eingriffe sind nur zulässig, wenn und soweit sie aufgrund von Gesetzen erfolgen, die ihrerseits mit dem Grundgesetz und damit der verfassungsmäßigen Ordnung in Einklang stehen.

Maßstab für die Einschränkung von Vereinigungen und Organisationen

Vereinigungen, die sich gegen die verfassungsmäßige Ordnung richten, können nach Art. 9 Abs. 2 GG verboten werden. Hier wird die verfassungsmäßige Ordnung zu einer zentralen Grundlage für die Abwehr und Bekämpfung verfassungsfeindlicher Bestrebungen.


Rechtsprechung und Auslegung

Bundesverfassungsgericht als Hüterin der Verfassungsmäßigen Ordnung

Das Bundesverfassungsgericht nimmt eine zentrale Rolle bei der Interpretation, Konkretisierung und Durchsetzung der verfassungsmäßigen Ordnung ein. Es entscheidet über die Zulässigkeit und Verfassungskonformität von Gesetzen und hoheitlichen Maßnahmen; es prüft, ob staatliche Eingriffe dem Maßstab der verfassungsmäßigen Ordnung genügen.

Entwicklung der Rechtsprechung

Die Auslegung der verfassungsmäßigen Ordnung unterliegt einem Wandel und wird dynamisch an veränderte gesellschaftliche, politische und rechtliche Rahmenbedingungen angepasst. Wesentliche Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE 6, 32; BVerfGE 39, 334) haben den Anwendungsbereich und die Bedeutung der verfassungsmäßigen Ordnung zunehmend präzisiert.


Verfassungsmäßige Ordnung im internationalen Kontext

Vergleich mit anderen Rechtsordnungen

Der Begriff der verfassungsmäßigen Ordnung findet sich in ähnlicher Form auch in anderen Staaten mit kodifizierter Verfassung, etwa als „constitutional order“ im angloamerikanischen Rechtskreis. Die spezielle Ausgestaltung und Funktion unterscheidet sich jedoch erheblich, insbesondere im Verhältnis zur Durchsetzbarkeit und gerichtlicher Kontrolle.

Bedeutung für Völkerrecht und Europarecht

Im Bereich des Völkerrechts und des Unionsrechts findet sich der Begriff ebenfalls, wenngleich mit abweichender Tragweite. So unterliegt etwa die Übertragung nationalstaatlicher Kompetenzen auf internationale Organisationen dem Vorbehalt einer Wahrung der verfassungsmäßigen Ordnung.


Kritische Würdigung und aktuelle Entwicklungen

Spannungsverhältnisse und Diskussionen

Die Reichweite und der Inhalt der verfassungsmäßigen Ordnung sind häufig Gegenstand verfassungsrechtlicher Diskussion. Kritisch diskutiert werden insbesondere die unbestimmte Reichweite des Begriffs, die Einbindung politischer Wertentscheidungen und die Rolle des Bundesverfassungsgerichts als letzte Autorität für seine Interpretation.

Entwicklungstendenzen

Aktuelle gesellschaftliche und rechtspolitische Herausforderungen – etwa Digitalisierung, Migration oder innere Sicherheit – führen fortlaufend zu Anpassungs- und Auseinandersetzungsprozessen mit dem Begriff der verfassungsmäßigen Ordnung im Rechtssystem der Bundesrepublik Deutschland.


Fazit

Die verfassungsmäßige Ordnung ist ein zentraler Maßstab und Referenzpunkt des deutschen Verfassungsrechts. Sie sichert die Bindung staatlicher Macht, dient als Grundlage für die Einschränkung von Grundrechten und ist Maßstab für den Schutz vor verfassungsfeindlichen Bestrebungen. Ihre genaue Ausgestaltung und Auslegung sind Teil eines dynamischen gesellschaftlichen und rechtlichen Prozesses und werden maßgeblich durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bestimmt. Als unabdingbares Fundament der freiheitlich-demokratischen Grundordnung bleibt die verfassungsmäßige Ordnung ein Dauergegenstand der wissenschaftlichen, politischen und praktischen Auseinandersetzung im Rechtsstaat.

Häufig gestellte Fragen

Welche Bedeutung hat die verfassungsmäßige Ordnung im Zusammenhang mit Grundrechten?

Die verfassungsmäßige Ordnung stellt einen zentralen Maßstab für die Schranken der Grundrechte im deutschen Rechtssystem dar. Nach Art. 2 Abs. 1 GG und in ähnlicher Form bei anderen Grundrechten dient die verfassungsmäßige Ordnung als Grenze der allgemeinen Handlungsfreiheit. Unter der verfassungsmäßigen Ordnung wird die Gesamtheit aller Normen verstanden, die formell und materiell im Einklang mit dem Grundgesetz stehen. Hierzu zählen alle geschriebenen und ungeschriebenen Rechtsnormen auf Bundes- und Landesebene, sofern sie im Einklang mit dem Grundgesetz stehen, jedoch keine verfassungswidrigen Gesetze. Bei Eingriffen in Grundrechte wird stets geprüft, ob diese mit der verfassungsmäßigen Ordnung im Gleichklang stehen, wobei Gerichte insbesondere die Vereinbarkeit mit den Grundwerten des Grundgesetzes prüfen. Die verfassungsmäßige Ordnung schützt somit die Integrität der Grundrechte und begrenzt die Eingriffsbefugnisse von Legislative, Exekutive und Judikative.

Wer ist für die Wahrung der verfassungsmäßigen Ordnung in Deutschland verantwortlich?

Die Wahrung der verfassungsmäßigen Ordnung obliegt in Deutschland mehreren Organen und Institutionen. Primär sind der Bundestag, die Bundesregierung sowie die Gerichte (insbesondere das Bundesverfassungsgericht) für die Sicherstellung der Einhaltung und Durchsetzung aller mit dem Grundgesetz in Einklang stehenden Normen verantwortlich. Das Bundesverfassungsgericht kommt dabei eine Schlüsselrolle zu, da es befugt ist, Gesetze und Rechtsakte auf ihre Verfassungsmäßigkeit zu überprüfen und im Falle einer Unvereinbarkeit für nichtig zu erklären. Daneben tragen auch die Landesparlamente und Landesregierungen Verantwortung für die Umsetzung und Beachtung der verfassungsmäßigen Ordnung im jeweiligen Bundesland. Die föderale Struktur Deutschlands sorgt zudem für eine ständige Kontrolle auf verschiedenen Ebenen und schützt so vor einer Konzentration von Macht, welche die verfassungsmäßige Ordnung gefährden könnte.

Wie wird die verfassungsmäßige Ordnung im Rahmen der sogenannten „Streitbare Demokratie“ geschützt?

Die bundesdeutsche Verfassung ist als „streitbare Demokratie“ ausgestaltet, um die verfassungsmäßige Ordnung vor Angriffen durch demokratiefeindliche Kräfte zu schützen. Dies geschieht durch eine Reihe von spezifischen Mechanismen, die im Grundgesetz verankert sind. Dazu zählt insbesondere das Parteienverbot gemäß Art. 21 Abs. 2 GG, wonach Parteien, die darauf ausgerichtet sind, die freiheitlich demokratische Grundordnung zu beseitigen, vom Bundesverfassungsgericht verboten werden können. Weiterhin gibt es die Möglichkeit, Vereinigungen zu verbieten (Art. 9 Abs. 2 GG) und das Grundrecht auf freie Meinungsäußerung einzuschränken, soweit diese gegen die verfassungsmäßige Ordnung gerichtet ist. Überdies ermöglicht Art. 18 GG den Grundrechtsverwirkung bei Missbrauch zum Kampf gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung. Der sogenannte Widerstandsartikel (Art. 20 Abs. 4 GG) räumt allen Deutschen das Recht ein, gegen jeden, der es unternimmt, die verfassungsmäßige Ordnung zu beseitigen, Widerstand zu leisten, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist. Die Kombination dieser Instrumente bildet einen besonderen Schutzwall gegen Gefahren für die verfassungsmäßige Ordnung.

Inwiefern ist die verfassungsmäßige Ordnung Gegenstand von Überprüfungen durch das Bundesverfassungsgericht?

Das Bundesverfassungsgericht ist das höchste Gericht für Verfassungsfragen in Deutschland und nimmt eine zentrale Kontrollfunktion hinsichtlich der verfassungsmäßigen Ordnung ein. Es überprüft im Rahmen von Verfassungsbeschwerden, Organstreitigkeiten, abstrakten und konkreten Normenkontrollen, ob Gesetze, Verordnungen oder staatliche Handlungen im Einklang mit der verfassungsmäßigen Ordnung stehen. Wird festgestellt, dass eine Norm der verfassungsmäßigen Ordnung widerspricht, kann das Gericht diese Norm für nichtig erklären. Das bedeutet, die verfassungsmäßige Ordnung bildet sowohl materiell als auch prozessual den wichtigsten Prüfungsmaßstab für alle Akte der öffentlichen Gewalt, wobei insbesondere die Freiheitsrechte der Bürger und die Gewaltenteilung beachtet werden müssen.

Welche Rolle spielt die verfassungsmäßige Ordnung bei der Einschränkung von Meinungsfreiheit?

Die Meinungsfreiheit ist eines der zentralen Grundrechte in Deutschland (Art. 5 Abs. 1 GG), jedoch nicht schrankenlos gewährleistet. Sie findet ihre Schranken in den Vorschriften der allgemeinen Gesetze, den gesetzlichen Bestimmungen zum Schutze der Jugend und im Recht der persönlichen Ehre, vor allem aber „in der verfassungsmäßigen Ordnung“. Unter der verfassungsmäßigen Ordnung sind alle wesentlichen materiellen und formellen Prinzipien des Grundgesetzes zu verstehen, einschließlich Menschenwürde, Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und Gewaltenteilung. So darf beispielsweise Propaganda oder der öffentliche Aufruf zu verfassungswidrigen Handlungen nicht durch das Grundrecht geschützt sein. Gesetzliche Einschränkungen der Meinungsfreiheit müssen ihrerseits immer im Einklang mit der verfassungsmäßigen Ordnung stehen, das heißt, sie dürfen diese nicht unterminieren oder aushöhlen. Das Bundesverfassungsgericht hat hierzu eine umfangreiche Rechtsprechung entwickelt, die sicherstellt, dass Eingriffe in die Meinungsfreiheit nur auf einer verfassungsgemäßen gesetzlichen Grundlage erfolgen dürfen.

Kann die verfassungsmäßige Ordnung selbst geändert werden?

Die verfassungsmäßige Ordnung kann grundsätzlich durch Änderungen des Grundgesetzes beeinflusst werden. Allerdings sind dem durch Art. 79 Abs. 3 GG, die sogenannte „Ewigkeitsklausel“, enge Grenzen gesetzt. Nach dieser Vorschrift dürfen bestimmte Grundprinzipien, insbesondere die Gliederung des Bundes in Länder, die grundsätzliche Mitwirkung der Länder bei der Gesetzgebung sowie die in Art. 1 und Art. 20 GG niedergelegten Grundsätze (darunter die Menschenwürde, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Sozialstaatlichkeit), nicht einmal durch ein formelles Verfassungsänderungsverfahren angetastet werden. Somit ist ein Kernbestand der verfassungsmäßigen Ordnung dauerhaft geschützt und bildet das unveränderliche Fundament des deutschen Staatswesens.

Wie unterscheidet sich die verfassungsmäßige Ordnung von ähnlichen Begriffen wie „öffentliche Ordnung“ oder „Rechtsordnung“?

Die verfassungsmäßige Ordnung ist im Sinne des Grundgesetzes ein enger gefasster Begriff im Vergleich zur allgemeinen „Rechtsordnung“ oder „öffentlichen Ordnung“. Während die Rechtsordnung die Gesamtheit der geltenden Rechtsnormen (einschließlich aller verfassungsmäßigen und einfachen Gesetze) bezeichnet und die öffentliche Ordnung das Zusammenleben innerhalb eines Staates nach den geschriebenen und ungeschriebenen Regeln der Gesellschaft beschreibt, nimmt die verfassungsmäßige Ordnung ausschließlich auf die Gesamtheit der mit dem Grundgesetz im Einklang stehenden grundlegenden Normen Bezug. Die verfassungsmäßige Ordnung stellt damit einen besonders hohen und durch das Grundgesetz geschützten Regelungsbereich dar, der nicht durch einfaches Gesetz umgangen werden kann. Entscheidungen, die sich auf die Einschränkung von Grundrechten berufen, müssen sich stets an der verfassungsmäßigen Ordnung orientieren und dürften nicht bloß an das Interesse der öffentlichen Ordnung oder die allgemeine Rechtsordnung anknüpfen.