Legal Lexikon

Verfassungskontrolle


Begriff und Bedeutung der Verfassungskontrolle

Die Verfassungskontrolle bezeichnet das rechtliche Verfahren zur Überprüfung staatlichen Handelns auf seine Übereinstimmung mit der Verfassung. Dieses Instrument dient der Sicherung der Verfassungsordnung und der Durchsetzung der Normenhierarchie im Staatsrecht. Die Verfassungskontrolle ist in vielen Staaten ein zentrales Element rechtsstaatlicher Ordnung und gewährleistet, dass Gesetze, Verwaltungshandeln und gerichtliche Entscheidungen nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung verstoßen.

Historische Entwicklung der Verfassungskontrolle

Die institutionalisierte Verfassungskontrolle entwickelte sich ab dem 19. Jahrhundert besonders in den Vereinigten Staaten mit der berühmten Entscheidung Marbury v. Madison (1803), welche die richterliche Überprüfung von Gesetzen an der Verfassung etablierte. In Europa fand dieses Kontrollmodell im 20. Jahrhundert mit der Errichtung spezieller Verfassungsgerichte, besonders nach dem Zweiten Weltkrieg, breite Anwendung. Die Bundesrepublik Deutschland führte 1949 mit dem Grundgesetz das Bundesverfassungsgericht ein, das als eigenständiges Verfassungsorgan ausschließlich mit Fragen der Verfassungskontrolle betraut ist.

Arten der Verfassungskontrolle

Nach dem Zeitpunkt der Kontrolle

a) Abstrakte Verfassungskontrolle

Die abstrakte Verfassungskontrolle ermöglicht die Überprüfung von Gesetzen auf ihre Verfassungsgemäßheit, ohne dass es eines konkreten Anlasses oder Betroffenen bedarf. In Deutschland liegt dieses Verfahren meist in den Händen von Verfassungsorganen wie der Bundesregierung, einer Landesregierung oder einer ausreichenden Anzahl von Abgeordneten des Bundestages.

b) Konkrete Verfassungskontrolle

Die konkrete Verfassungskontrolle ist an einen tatsächlichen Rechtsstreit geknüpft. Gerichte setzen innegehaltene Verfahren aus und legen dem Verfassungsgericht Gesetze zur Überprüfung vor, falls sie von der Verfassungswidrigkeit einer Norm überzeugt sind. So wird gewährleistet, dass nur tatsächlich relevante Rechtsfragen an das Verfassungsgericht herangetragen werden.

Nach dem Adressaten

a) Normenkontrolle

Im Mittelpunkt der Normenkontrolle steht die Überprüfung der Vereinbarkeit von Gesetzen oder Rechtsverordnungen mit der Verfassung. Sie kann sowohl abstrakt als auch konkret erfolgen.

b) Individualrechtsschutz

Im Rahmen der sogenannten Verfassungsbeschwerde können Einzelpersonen und Vereinigungen geltend machen, durch staatliches Handeln in eigenen durch die Verfassung garantierten Rechten verletzt zu sein.

Verfassungsgerichtsbarkeit in Deutschland

Bundesverfassungsgericht

Das Bundesverfassungsgericht ist das zentrale Organ der Verfassungsgerichtsbarkeit in Deutschland. Es entscheidet über:

  • Verfassungsbeschwerden (§§ 90 ff. BVerfGG)
  • Abstrakte Normenkontrollverfahren (§ 76 BVerfGG)
  • Konkrete Normenkontrollverfahren (§ 80 ff. BVerfGG)
  • Organstreitverfahren (§ 63 ff. BVerfGG)
  • Bund-Länder-Streitigkeiten (§ 93 ff. BVerfGG)
  • Parteiverbotsverfahren

Ein Großteil der Verfahren entfällt auf Individualverfassungsbeschwerden, ein wichtiges Instrument des Grundrechtschutzes gegen staatliche Eingriffe.

Landesverfassungsgerichte

Die Verfassungskontrolle findet auch auf Landesebene statt. In jedem Bundesland besteht ein eigenes Verfassungsgericht, das die Einhaltung der jeweiligen Landesverfassung kontrolliert.

Umfang und Grenzen der Verfassungskontrolle

Verfassungskontrolle garantiert den Vorrang der Verfassung, stößt jedoch auf praktische und rechtliche Grenzen. Dazu zählen insbesondere:

  • Der Beurteilungsspielraum des Gesetzgebers bei der Umsetzung verfassungsrechtlicher Vorgaben
  • Das Verhältnismäßigkeitsprinzip bei der Grundrechtsabwägung
  • Die Bindung des Verfassungsgerichts an Gesetz und Recht (Art. 20 Abs. 3 GG)

Nicht sämtliche Akte staatlicher Gewalt sind uneingeschränkt überprüfbar: Politische Handlungen, sogenannte Regierungsakte, fallen mitunter nicht vollständig unter die Verfassungskontrolle.

Internationale Bezüge und Modelle der Verfassungskontrolle

Im internationalen Vergleich bestehen unterschiedliche Modelle der Verfassungskontrolle:

  • Amerikanisches Modell: Allgemeine Gerichte üben im Wege der Inzidentkontrolle die Verfassungskontrolle aus.
  • Kontinentaleuropäisches Modell: Spezielle Verfassungsgerichte sind ausschließlich mit der Verfassungskontrolle befasst (z.B. Deutschland, Italien, Österreich).
  • Gemischte Modelle: In einigen Staaten bestehen sowohl allgemeine, als auch spezialisierte Instanzen (z.B. Frankreich, Spanien).

Auch internationale Institutionen wie der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) oder der Europäische Gerichtshof (EuGH) eröffnen Möglichkeiten der Kontrolle nationaler Gesetze am Maßstab internationaler Grundrechte und Freiheiten.

Bedeutung und Funktion der Verfassungskontrolle

Die Verfassungskontrolle erfüllt mehrere grundlegende Funktionen:

  • Sicherung der Normenhierarchie: Sie garantiert, dass die Verfassung das ranghöchste Recht bleibt.
  • Schutz individueller Freiheiten: Durch Individualrechtsschutzmaßnahmen wie die Verfassungsbeschwerde wird die Einhaltung der Grundrechte überwacht.
  • Stärkung des Rechtsstaats: Die Existenz einer effektiven Verfassungskontrolle ist Voraussetzung für gesicherte demokratische, rechtsstaatliche Verhältnisse und verhindert die Willkür staatlicher Organe.

Literatur und Quellen

Für vertiefende Informationen bieten sich folgende Werke an:

  • Johann Nepomuk Schwabe: „Verfassungsgerichtsbarkeit und Normenkontrolle“
  • Maunz/Dürig, Kommentar zum Grundgesetz, Art. 93
  • BVerfGG (Gesetz über das Bundesverfassungsgericht)

Hinweis: Dieser Artikel fasst die wesentlichen Aspekte der Verfassungskontrolle unter Berücksichtigung der aktuellen Rechtslage und unter besonderer Berücksichtigung des deutschen Rechts umfassend zusammen. Die Ausgestaltung kann sich je nach nationalem Rechtssystem unterscheiden.

Häufig gestellte Fragen

Wer ist in Deutschland zur Verfassungskontrolle befugt?

In Deutschland wird die Verfassungskontrolle maßgeblich durch das Bundesverfassungsgericht ausgeübt. Das Gericht agiert als Hüterin der Verfassung (Grundgesetz, GG) und ist durch Artikel 93 GG sowie das Bundesverfassungsgerichtsgesetz (BVerfGG) mit umfassenden Prüfungsbefugnissen ausgestattet. Zur abstrakten Normenkontrolle sind unter anderem die Bundesregierung, eine Landesregierung sowie ein Viertel der Mitglieder des Bundestages befugt (§ 76 BVerfGG). Die konkrete Normenkontrolle kann von jedem Gericht beantragt werden, wenn es eine Vorschrift für verfassungswidrig hält (§ 100 GG, § 80 BVerfGG). Außerdem können auch einzelne Bürger im Wege der Verfassungsbeschwerde das Bundesverfassungsgericht anrufen, wenn sie durch die öffentliche Gewalt in Grundrechten verletzt werden (§§ 90 ff. BVerfGG). Neben dem Bundesverfassungsgericht existieren in den Ländern auch Landesverfassungsgerichte, die mit der Kontrolle der jeweiligen Landesverfassungen betraut sind.

Welche Arten der Verfassungskontrolle existieren?

Die deutsche Rechtsordnung unterscheidet zwischen der abstrakten und der konkreten Normenkontrolle sowie der Verfassungsbeschwerde. Die abstrakte Normenkontrolle (§ 93 Abs. 1 Nr. 2 GG, §§ 76 ff. BVerfGG) prüft Gesetze unabhängig von einem konkreten Anlass auf ihre Verfassungsmäßigkeit. Die konkrete Normenkontrolle nach Art. 100 GG erfolgt auf Vorlage eines Fachgerichts, das im Rahmen eines anhängigen Verfahrens Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit einer Norm hat. Die Verfassungsbeschwerde (§§ 90 ff. BVerfGG) ermöglicht es jedermann, sich gegen Akte öffentlicher Gewalt zu wehren, sofern eine Grundrechtsverletzung behauptet wird. Darüber hinaus gibt es weitere Verfahren wie das Organstreitverfahren (§ 63 ff. BVerfGG) und Bund-Länder-Streitigkeiten (§ 93 GG).

Wie läuft das Verfahren der konkreten Normenkontrolle ab?

Im Rahmen der konkreten Normenkontrolle kann jedes Gericht, das ein Gesetz bei der Entscheidungsfindung für maßgeblich hält, aber von dessen Verfassungswidrigkeit überzeugt ist, das Verfahren aussetzen und die Frage dem Bundesverfassungsgericht vorlegen (Art. 100 Abs. 1 GG, §§ 80 ff. BVerfGG). Das anfragende Gericht formuliert dabei eine Vorlagefrage und legt ausführlich dar, warum es das Gesetz für verfassungswidrig hält. Das Bundesverfassungsgericht prüft sodann, ob die formellen und materiellen Voraussetzungen des Antrags erfüllt sind. Ist die Norm verfassungswidrig, wird sie für nichtig erklärt. Andernfalls wird das Verfahren wieder an das Gericht zurückverwiesen, das dann auf Grundlage der verfassungsrechtlichen Entscheidung fortfährt.

Welche Wirkungen entfaltet ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts im Rahmen der Verfassungskontrolle?

Die Urteile des Bundesverfassungsgerichts sind in hohem Maße bindend. Nach § 31 BVerfGG binden die Entscheidungen die Verfassungsorgane des Bundes und der Länder sowie alle Gerichte und Behörden. Wird ein Gesetz für nichtig erklärt, verliert es mit der Veröffentlichung der Entscheidung seine Rechtswirkung ex tunc, das heißt rückwirkend auf den Zeitpunkt seiner Verkündung. In einigen Fällen kann das Bundesverfassungsgericht allerdings anordnen, dass Gesetze für eine Übergangszeit weiter gültig bleiben (Fortgeltungsanordnung), um einen rechtsstaatlichen Zustand zu sichern. Ferner sind die Gesetzgeber verpflichtet, binnen einer vom Bundesverfassungsgericht gesetzten Frist eine verfassungsgemäße Neuregelung zu treffen.

Welche Rolle spielen die Landesverfassungsgerichte in der Verfassungskontrolle?

Jedes Bundesland in Deutschland hat eine eigene Verfassung, deren Einhaltung durch ein Landesverfassungsgericht überprüft wird. Diese Gerichte haben ähnliche Aufgaben wie das Bundesverfassungsgericht, sind aber ausschließlich für Streitigkeiten zuständig, die Landesrecht und die jeweilige Landesverfassung betreffen. Die Verfahren orientieren sich an den jeweiligen Landesverfassungen und Landesverfassungsgerichtsgesetzen. Landesverfassungsgerichte können ebenfalls Gesetze für nichtig erklären, sofern sie gegen die Landesverfassung verstoßen. Das Bundesverfassungsgericht bleibt jedoch für bundesrechtliche Normen und für die Auslegung des Grundgesetzes allein zuständig.

Welche Bedeutung hat die Verfassungsbeschwerde im System der Verfassungskontrolle?

Die Verfassungsbeschwerde ist ein wesentliches Element des Individualrechtsschutzes, das es Einzelpersonen ermöglicht, sich gegen Akte öffentlicher Gewalt zu wehren, wenn sie sich in ihren Grundrechten verletzt sehen. Voraussetzung für die Zulässigkeit ist die unmittelbare, persönliche und gegenwärtige Betroffenheit sowie die vorherige Ausschöpfung des Rechtswegs. Die Verfassungsbeschwerde ist kein weiteres Rechtsmittel, sondern ein außerordentlicher Rechtsbehelf, der die Überprüfung der vereinbarten Akte am Maßstab der Grundrechte und grundrechtsähnlichen Rechte des Grundgesetzes ermöglicht. Sie hat durch zahlreiche Leitentscheidungen das deutsche Recht erheblich geprägt und ist ein zentrales Instrument zur Wahrung und Durchsetzung der Grundrechte.

In welchem Verhältnis steht die Verfassungskontrolle zu den europäischen Gerichten?

Die Verfassungskontrolle in Deutschland ist primär Sache des Bundesverfassungsgerichts, jedoch müssen dessen Entscheidungen im Kontext der europäischen Integration betrachtet werden. Das Bundesverfassungsgericht sieht sich im Dialog mit dem Europäischen Gerichtshof (EuGH), dessen Entscheidungen zur Auslegung und Anwendung des europäischen Rechts in Deutschland verbindlich sind. Konflikte ergeben sich insbesondere hinsichtlich des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts gegenüber nationalem Recht. Das Bundesverfassungsgericht hat betont, dass das Grundgesetz Vorrang vor Unionsrecht hat, soweit es um die Identität des Grundgesetzes (Art. 79 Abs. 3 GG – Ewigkeitsklausel) geht. Fällen wie dem berühmten „Solange II“-Beschluss oder den Entscheidungen zur Europäischen Währungsunion kommt hierbei eine besondere Bedeutung zu. Im Bereich der Menschenrechte ist außerdem die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) zu berücksichtigen, deren Entscheidungen im Lichte der deutschen Verfassung interpretiert werden.