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Verfassungsdurchbrechung


Begriff und Wesen der Verfassungsdurchbrechung

Als Verfassungsdurchbrechung bezeichnet man im deutschen Verfassungsrecht die Durchsetzung von Gesetzen oder Maßnahmen, die im Widerspruch zu bestehenden Verfassungsbestimmungen stehen oder diese ausdrücklich aufheben, ohne dass hierfür das ordentliche Verfahren einer förmlichen Verfassungsänderung eingehalten wird. Die Verfassungsdurchbrechung stellt damit einen Vorgang dar, bei dem die Vorrangstellung der Verfassung vor einfachem Recht missachtet oder gezielt außer Kraft gesetzt wird.

Verfassungsdurchbrechungen können sowohl explizit als auch implizit erfolgen. Explizite Verfassungsdurchbrechungen liegen vor, wenn ein einfaches Gesetz ausdrücklich erklärt, dass bestehende Verfassungsnormen in einem bestimmten Fall oder für einen bestimmten Zeitraum keine Anwendung finden. Implizite Verfassungsdurchbrechungen ergeben sich, wenn das einfache Gesetz entgegen der Verfassungsvorgaben angewendet wird, ohne diesen Widerspruch ausdrücklich zu benennen.

Formen und Erscheinungsformen der Verfassungsdurchbrechung

Gesetzliche Verfassungsdurchbrechung

Häufiger Fall der Verfassungsdurchbrechung ist die Ausnahmegesetzgebung. In der Geschichte des deutschen Verfassungsrechts wurde zu bestimmten Zeiten wiederholt von einfachen Parlamentsgesetzen Gebrauch gemacht, die ausdrücklich gegen einzelne Verfassungsnormen verstießen oder deren Geltung suspendierten. Beispielhaft zu nennen sind etwa sogenannte Ermächtigungsgesetze und Notverordnungen.

Faktische Verfassungsdurchbrechung

Neben der ausdrücklichen gibt es auch die faktische Verfassungsdurchbrechung, bei der der Widerspruch zwischen einfacher Rechtssetzung und Verfassung durch deren Anwendung erst geschaffen wird. Hier handelt es sich um eine Missachtung der verfassungsrechtlichen Schranken, die nicht im Gesetzestext selbst, sondern durch dessen Umsetzung entsteht.

Zeitliche Verfassungsdurchbrechung

Manche Verfassungsdurchbrechungen werden auf bestimmte Zeiträume beschränkt und gelten somit nur temporär. Dies geschieht typischerweise in Ausnahme- oder Notfällen, etwa im Rahmen von Notstandsmaßnahmen.

Rechtsdogmatische Einordnung

Vorrang und Bindungswirkung der Verfassung

Die deutsche Verfassung, das Grundgesetz, beansprucht nach Artikel 20 Absatz 3 GG die bindende Kraft für Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung. Der Vorrang der Verfassung vor dem einfachen Gesetz verlangt, dass alle staatlichen Maßnahmen mit der Verfassung in Einklang stehen müssen (Verfassungsvorrang). Eine Verfassungsdurchbrechung stellt somit grundsätzlich eine Verletzung des Rechtsstaatsprinzips und des Vorrangs der Verfassung dar.

Abgrenzung zur Verfassungsänderung

Eine Verfassungsdurchbrechung ist strikt von der formellen Verfassungsänderung zu trennen. Letztere ist durch das Grundgesetz in Artikel 79 geregelt und bedarf unter anderem einer parlamentarischen Zweidrittelmehrheit. Die Verfassungsdurchbrechung hingegen umgeht diese Vorschriften und geht damit über den Willen des Verfassungsgebers hinweg.

Staatsrechtliche Bewertung

Rechtswissenschaftlich gesehen ist die Verfassungsdurchbrechung kritisch zu betrachten. Sie unterminiert das Prinzip der rechtlichen Bindung staatlichen Handelns an die Verfassung und birgt das Risiko einer schleichenden Aushöhlung verfassungsrechtlicher Garantien. Im deutschen Verfassungsstaat ist sie grundsätzlich unzulässig. Die Konsequenz eines solchen Gesetzes oder einer Maßnahme kann dessen Nichtigkeit auf Grund des Vorrangs der Verfassung nach Artikel 20 Absatz 3 GG sein.

Historische Entwicklung und Beispiele

Weimarer Republik und Nationalsozialismus

Die Weimarer Reichsverfassung wurde häufig durchbrochen, beginnend mit den Notverordnungen des Reichspräsidenten nach Artikel 48 WRV und später in der Zeit des Nationalsozialismus durch das Ermächtigungsgesetz von 1933. Letzteres hob das Prinzip der Gewaltenteilung und der Verfassungsbindung faktisch auf und erlaubte gesetzgeberisches Handeln außerhalb der verfassungsrechtlichen Schranken.

Nachkriegszeit und Grundgesetz

Das Grundgesetz versucht, Verfassungsdurchbrechungen durch eine rigide Regelung der Verfassungsänderung und eine starke Kontrolle durch das Bundesverfassungsgericht (insbesondere nach Artikel 93 GG) zu verhindern. Dennoch sind Versuche oder Diskussionen über faktische Verfassungsdurchbrechungen etwa in Krisenzeiten auch in der Bundesrepublik bekannt.

Rechtliche Kontrolle und Reaktionsmöglichkeiten

Rolle des Bundesverfassungsgerichts

Das zentrale Instrument zur Überprüfung und Sanktionierung von Verfassungsdurchbrechungen ist die verfassungsgerichtliche Kontrolle. Das Bundesverfassungsgericht entscheidet über die Vereinbarkeit von Gesetzen und sonstigen Hoheitsakten mit dem Grundgesetz. Ein Gesetz, das die Verfassung durchbricht, kann im Wege der Verfassungsbeschwerde oder Normenkontrolle für nichtig erklärt werden (Artikel 100 GG).

Verfassungsprinzip der Ewigkeitsklausel

Artikel 79 Absatz 3 GG (Ewigkeitsklausel) schützt fundamentale Prinzipien, wie die Gliederung des Bundes in Länder oder die Menschenwürdegarantie, vor jeder Änderung. Damit ist eine Verfassungsdurchbrechung in diesen Bereichen sowohl formell wie materiell ausgeschlossen.

Gesetzgebung und Staatsnotstand

Ausnahmen im Rahmen eines Staatsnotstandes (Notstandsverfassung, Artikel 115ff. GG) sind streng verfahrensgebunden und unterliegen hohen Hürden, um missbräuchlichen Verfassungsdurchbrechungen vorzubeugen.

Internationale Einordnung und Rechtsvergleich

Auch in anderen Staaten wird das Phänomen der Verfassungsdurchbrechung thematisiert, insbesondere in Verfassungen mit striktem Änderungs- und Überprüfungsregiment. Die Unterscheidung zwischen konstitutionellem Ausnahmezustand und unzulässiger Verfassungsdurchbrechung findet sich häufig in angelsächsischen und kontinentaleuropäischen Systemen.

Literatur und weiterführende Quellen

  • Maunz/Dürig, Grundgesetz-Kommentar, Art. 20 GG
  • Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Band II
  • Klein, Das Verbot der Verfassungsdurchbrechung, JuristenZeitung
  • Bundesverfassungsgericht, Entscheidungen und Leitsätze
  • Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Band 3

Mit seiner detaillierten Darstellung dient dieser Lexikoneintrag als umfassende Informationsquelle zum Begriff der Verfassungsdurchbrechung und beleuchtet alle maßgeblichen rechtlichen Aspekte und Implikationen dieses staatsrechtlichen Fachbegriffs.

Häufig gestellte Fragen

Wann spricht man aus rechtlicher Sicht von einer zulässigen Verfassungsdurchbrechung?

Eine zulässige Verfassungsdurchbrechung liegt immer dann vor, wenn die Verfassung selbst explizit Möglichkeiten eröffnet, von bestimmten ihrer Regelungen unter definierten Voraussetzungen abzuweichen. Dies geschieht beispielsweise durch sogenannte Ewigkeitsklauseln oder qualifizierte Gesetzesvorbehalte, die in manchen Verfassungen – wie etwa im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland – spezielle Verfahren oder qualifizierte Mehrheiten für Änderungen oder das Außerkraftsetzen gewisser Verfassungsnormen vorsehen. Im Vergleich zur unzulässigen Verfassungsdurchbrechung, die einen Verstoß gegen grundsätzliche Verfassungsprinzipien ohne verfassungsrechtliche Grundlage darstellt, basiert die zulässige Durchbrechung stets auf einer verfassungsrechtlichen Legitimationsgrundlage, beispielsweise durch im Text selbst vorgesehene Ausnahme- oder Änderungsmechanismen.

Welche Rolle spielen Verfassungsgerichte bei der Kontrolle von Verfassungsdurchbrechungen?

Verfassungsgerichte, vor allem das Bundesverfassungsgericht in Deutschland, nehmen eine zentrale Rolle bei der Kontrolle von Verfassungsdurchbrechungen ein. Sie überprüfen, ob Gesetze und staatliches Handeln mit der Verfassung im Einklang stehen und bewerten insbesondere, ob eine Ausnahme von einer verfassungsrechtlichen Norm gerechtfertigt und zulässig ist. Im Falle einer mutmaßlichen Verfassungsdurchbrechung analysiert das Gericht sorgfältig, ob das infrage stehende Gesetz auf einer legitimen Ermächtigung der Verfassung beruht oder ob es sich um eine unzulässige Missachtung verfassungsrechtlicher Bindungen handelt. Das Verfassungsgericht kann entsprechende Gesetze für nichtig erklären, wenn die Durchbrechung nicht verfassungsgemäß ist.

In welchen historischen Zusammenhängen spielte die Verfassungsdurchbrechung eine zentrale Rolle?

Historisch betrachtet spielte die Verfassungsdurchbrechung insbesondere in Krisenzeiten eine zentrale Rolle. Ein prominentes Beispiel sind die Notverordnungen der Weimarer Republik, bei denen das Reichspräsidentenamt weitgehende Befugnisse erhielt, Grundrechte außer Kraft zu setzen. Auch während autoritärer und totalitärer Regime, wie etwa im Nationalsozialismus, wurden Verfassungen über sogenannte Ermächtigungsgesetze de facto ausgehebelt. In der Geschichte des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland hat sich die Rechtsprechung maßgeblich mit dem Thema beschäftigt, etwa bei Notstandsgesetzen oder der Diskussion um die Grenzen verfassungsändernder Gesetzgebung durch den Gesetzgeber.

Wie verhält sich eine Verfassungsdurchbrechung zu Verfassungsänderungen?

Verfassungsdurchbrechungen unterscheiden sich grundlegend von formellen Verfassungsänderungen. Während bei einer Verfassungsänderung die entsprechenden Verfahren und Mehrheiten der Verfassung eingehalten werden (z.B. Zwei-Drittel-Mehrheit im deutschen Bundestag und Bundesrat gemäß Art. 79 GG), stellt die Verfassungsdurchbrechung eine Durchsetzung eines Gesetzes oder einer Maßnahme entgegen der Verfassungsnormen oder unter bewusster Missachtung verfassungsrechtlicher Bindungen dar. Eine zulässige Verfassungsdurchbrechung kann jedoch Teil des Änderungsverfahrens sein, sofern dieses ausdrücklich in der Verfassung vorgesehen ist. Die Grenze ist dort erreicht, wo die sogenannte Ewigkeitsklausel (Art. 79 Abs. 3 GG) bestimmte Verfassungsgrundsätze jeglicher Änderung und damit auch Durchbrechung entzieht.

Welche verfassungsrechtlichen Leitentscheidungen gibt es zum Thema Verfassungsdurchbrechung?

Zentrale Leitentscheidungen stammen in Deutschland vom Bundesverfassungsgericht, das häufig in seiner Rechtsprechung betonte, dass die Verfassung auch dem Gesetzgeber Schranken setzt und Durchbrechungen nur im Rahmen der verfassungsrechtlich vorgesehenen Möglichkeiten zulässig sind. Insbesondere das Lüth-Urteil (BVerfGE 7, 198), das Urteil zum Radikalenerlass, sowie zahlreiche Entscheidungen zu Notstandsgesetzen und dem Grundrechtsschutz bilden den Kern der verfassungsgerichtlichen Auseinandersetzung mit dem Thema. Grundlegend ist hierbei stets die Prüfung, ob die Durchbrechung im Rahmen der Verfassung erfolgt, ob sie temporär ist und ob ein übergeordnetes verfassungsrechtliches Interesse besteht.

Welche Bedeutung haben Bestimmungen wie die Ewigkeitsklausel im Zusammenhang mit der Verfassungsdurchbrechung?

Bestimmungen wie die Ewigkeitsklausel (z.B. Art. 79 Abs. 3 GG) sind von entscheidender Bedeutung, da sie zentrale Grundsätze der Verfassung explizit jeder Änderung oder Durchbrechung entziehen. Dazu zählen in Deutschland insbesondere die Unantastbarkeit der Menschenwürde, das Demokratieprinzip, die Rechtsstaatlichkeit und die föderale Struktur. Diese Prinzipien dürfen auch durch förmliche Verfassungsänderungen nicht angetastet werden, womit jede Durchbrechung – sei sie gesetzlich, exekutiv oder legislativ – in diesen Bereichen strikt unzulässig ist. Ewigkeitsklauseln dienen somit als ultima ratio des verfassungsrechtlichen Schutzmechanismus gegen Aushöhlung und Machtmissbrauch.

Welche Folgen hat eine unzulässige Verfassungsdurchbrechung für den Gesetzgeber und betroffene Normen?

Wird eine unzulässige Verfassungsdurchbrechung festgestellt, kann dies erhebliche Konsequenzen für den Gesetzgeber und die betroffenen Normen haben. Im deutschen Recht führt dies in der Regel zur Nichtigkeit des betreffenden Gesetzes, festgestellt durch das Bundesverfassungsgericht. Rechtswidrig erlangte Rechtspositionen können für nichtig erklärt oder anderweitig korrigiert werden. Für den Gesetzgeber ergibt sich daraus die Verpflichtung, zukünftige Gesetzgebung strikt an den Vorgaben der Verfassung auszurichten, anderenfalls droht regelmäßig die Überprüfung und Sanktionierung durch das Verfassungsgericht sowie erheblicher politischer und gesellschaftlicher Vertrauensverlust.