Legal Lexikon

Wiki»Legal Lexikon»Rechtsbegriffe (allgemein)»Verbindlichkeiten des Reichs

Verbindlichkeiten des Reichs


Begriff und Rechtsgrundlagen der Verbindlichkeiten des Reichs

Definition und Begriffsklärung

Verbindlichkeiten des Reichs sind ein zentraler Begriff der deutschen Staats- und Verfassungsrechtsgeschichte. Sie bezeichnen alle öffentlich-rechtlichen und privatrechtlichen Verpflichtungen, die das Deutsche Reich im Rahmen seiner Existenz als Staatswesen und Rechtssubjekt übernommen hat. Diese Verbindlichkeiten umfassten sowohl Zahlungsverpflichtungen gegenüber Dritten (zum Beispiel Gläubigern, Vertragspartnern) als auch sonstige Leistungsverpflichtungen als Folge von Gesetzen, Verträgen oder gerichtlichen Entscheidungen.

Historischer Kontext

Der Terminus „Verbindlichkeiten des Reichs“ existierte vor allem im Kontext des Deutschen Kaiserreichs (1871-1918), der Weimarer Republik (1919-1933) und während des Nationalsozialismus (1933-1945). Mit der Kapitulation des Deutschen Reichs und der nachfolgenden Besatzungsphase nach 1945 wurden Fragen der Fortgeltung, Übernahme und Abwicklung dieser Reichsverbindlichkeiten zu einem der maßgeblichen Themen in der Nachkriegsordnung. Die Auseinandersetzung mit den Reichsverbindlichkeiten beeinflusste auch die Entwicklung der Bundesrepublik Deutschland und die deutsche Wiedervereinigung.

Arten der Verbindlichkeiten des Reichs

1. Öffentlich-rechtliche Verbindlichkeiten

Unter die öffentlich-rechtlichen Verbindlichkeiten des Reichs fallen insbesondere Verpflichtungen, die sich aus Hoheitsakten, Gesetzen und behördlichen Maßnahmen ergeben. Dazu gehören:

  • Pensionsverpflichtungen gegenüber Reichsbeamten, Soldaten oder deren Hinterbliebenen
  • Entschädigungs- und Wiedergutmachungsleistungen für staatliches Unrecht
  • Staatliche Abgaben, Steuern und Umlagen, die im Namen des Reichs einzuziehen oder weiterzuleiten waren

2. Privatrechtliche Verbindlichkeiten

Das Deutsche Reich konnte auch Träger privatrechtlicher Rechte und Pflichten sein. Zu diesen Verbindlichkeiten zählen etwa:

  • Vertraglich eingegangene Verpflichtungen (z. B. aus Kauf-, Miet- oder Dienstverträgen)
  • Forderungen aus Deliktsrecht (z. B. Schadensersatz)
  • Garantien und Bürgschaften des Reichs gegenüber Dritten

3. Völkerrechtliche Verpflichtungen

Mitgliedschaften in internationalen Organisationen oder Verträgen konnten ebenfalls Völkerrechtsverbindlichkeiten des Reichs begründen, etwa im Zuge von Reparationsleistungen nach dem Ersten und Zweiten Weltkrieg.

Rechtliche Grundlagen und gesetzliche Regelungen

Verfassungsrechtlicher Rahmen

Die deutschen Verfassungen (Reichsverfassung von 1871, Weimarer Reichsverfassung von 1919) definierten das Reich als völkerrechtliches Subjekt mit eigener Rechtsfähigkeit. Die Verbindlichkeiten des Reichs unterlagen dabei der Kontrolle durch die Reichstags- bzw. Reichsregierung und waren im Reichshaushaltsgesetz geregelt.

Spezielle Gesetze und Verordnungen

Mehrere Rechtsakte normierten die Verbindlichkeiten des Reichs näher, darunter:

a) Reichsschuldenordnung

Die Reichsschuldenordnung regelte die Verwaltung der Staatsschulden und die haftungsrechtlichen Folgen von Finanzierungen durch das Reich.

b) Übergangsgesetze nach 1945

Mit Kriegsende und Auflösung der Reichsorgane entstand die Frage nach der Überleitung und staatlicher Kontinuität der Reichsverbindlichkeiten auf Rechtsnachfolger (insbesondere die Bundesrepublik Deutschland und die DDR). Relevante Rechtsgrundlagen hierfür waren das Gesetz zur Überleitung von Lasten und Verbindlichkeiten des Reichs sowie Vorschriften im Rahmen des Londoner Schuldenabkommens von 1953.

Rechtsnachfolge und Abwicklung der Reichsverbindlichkeiten

Rechtsnachfolger des Reichs

Mit der Gründung der Bundesrepublik Deutschland 1949 stellte sich die Herausforderung, wie mit den verbliebenen Reichsverbindlichkeiten umzugehen war. Das Grundgesetz regelte die Rechtsnachfolge nicht ausdrücklich, dennoch wurde die Bundesrepublik Deutschland als teilweiser Rechtsnachfolger des Deutschen Reichs angesehen, insbesondere bezüglich der Übernahme staatlicher Verbindlichkeiten und damit verbundener Ansprüche und Pflichten.

Gesetzliche Erfüllung und Nachwirkungen

Die Verbindlichkeiten des Reichs wurden im Rahmen der Haushalts- und Finanzverwaltung aufgelöst, reguliert bzw. bedient. Dies schloss u. a. folgende Maßnahmen ein:

  • Abwicklung offener Staatsschulden und Verbindlichkeiten durch die Bundeswertpapierverwaltung
  • Berücksichtigung von Ansprüchen ehemaliger Reichsbediensteter
  • Regulierung von Entschädigungsleistungen gemäß dem Entschädigungs- und Lastenausgleichsgesetz

Internationale Abkommen

Ein bedeutsamer Aspekt war die Behandlung der aus dem Zweiten Weltkrieg resultierenden Reparationsforderungen und Auslandsschulden. Hierfür schufen internationale Vereinbarungen, wie das Londoner Schuldenabkommen, verbindliche Regelungen zur (Teil-)Erfüllung, Stundung und Tilgung.

Streitfragen und aktuelle Bedeutung

Fortgeltung und Haftung

Die Frage, inwieweit die Bundesrepublik für alle Verbindlichkeiten des Reichs uneingeschränkt einsteht, ist weiterhin von rechtlicher Bedeutung. Der Grundsatz der Staatskontinuität führte zu einer weitgehenden, jedoch nicht vollständigen Übernahme. Bestimmte Verbindlichkeiten – vor allem solche mit eindeutig völkerrechtlichem Bezug – wurden fallweise durch internationale Abkommen, teils aber auch durch gerichtliche Entscheidungen geregelt.

Vermögens- und Rückgabeansprüche

Im Zusammenhang mit der Wiedervereinigung Deutschlands und der Rückübertragung von Vermögenswerten (z. B. bei Enteignungen) kommen teilweise noch Altforderungen aus Reichszeiten zur Geltung. Die Gerichte prüfen in Einzelfällen, ob und inwieweit Ansprüche heute noch durchsetzbar oder bereits verjährt sind.

Bedeutung im heutigen Rechtssystem

Verbindlichkeiten des Reichs sind vornehmlich ein Thema der Rechts- und Verwaltungsgeschichte. Ihre rechtlichen Folgen wirken jedoch bis heute in bestimmten Bereichen fort, beispielsweise bei staatlichen Restitutionsansprüchen, Pensionsansprüchen ehemaliger Reichsbediensteter, oder bei international-rechtlichen Fragen der Nachkriegsordnung.

Literatur und Quellen

Kapp, Ernst: Die deutschen Reichsverbindlichkeiten. Eine rechts- und wirtschaftsgeschichtliche Studie, Berlin 1920.
BVerfGE 36, 1 (Bundesverfassungsgericht zur Rechtsnachfolge des Deutschen Reichs).
Geiger, Rudolf: Die völkerrechtlichen Verbindlichkeiten des Deutschen Reichs und ihre Behandlung nach 1945. In: Archiv des Völkerrechts, 1986.
Gesetz zur Überleitung von Lasten und Verbindlichkeiten des Reichs (1949).
* Londoner Schuldenabkommen von 1953.


Hinweis: Der Begriff „Verbindlichkeiten des Reichs“ bleibt ein unverzichtbarer Teil des Verständnisses deutscher Staatsfinanzgeschichte und ihrer Fortentwicklung im aktuellen Rechtssystem.

Häufig gestellte Fragen

Wer haftet heute für die Verbindlichkeiten des Deutschen Reichs im rechtlichen Sinne?

Die Rechtsfrage der Haftung für Verbindlichkeiten des Deutschen Reichs ist komplex und wurde wiederholt durch Gerichte, insbesondere den Bundesgerichtshof (BGH) und das Bundesverfassungsgericht (BVerfG), sowie durch völkerrechtliche Vereinbarungen behandelt. Nach herrschender Meinung besteht das Deutsche Reich als Völkerrechtssubjekt fort (sog. „Identitätsthese“), ist aber als nicht handlungsfähig anzusehen. Mit Gründung der Bundesrepublik Deutschland 1949 wurde diese als Teilrechtsnachfolger und im Umfang der übernommenen Rechte und Pflichten identifiziert, was auch im sogenannten „Drei-Staaten-Urteil“ des BVerfG bestätigt wurde. Grundsätzlich haftet die Bundesrepublik nur für jene Verbindlichkeiten, die ausdrücklich durch Rechtsakte, Verträge (etwa der Überleitungsvertrag von 1952), oder durch Anerkenntnis übernommen wurden. Nicht übernommene Verbindlichkeiten fallen rechtlich mangels anderer juristischer Personen oder Organe ins Leere, da das handlungsunfähige Deutsche Reich keine Vertretung mehr besitzt. Spezifische Regelungen (etwa Reparationen, Vermögensfragen) wurden in internationalen Abkommen gesondert behandelt.

Können ehemalige Gläubiger des Reichs noch Forderungen geltend machen?

Ehemalige Gläubiger des Deutschen Reichs können ihre Forderungen nur dann erfolgreich geltend machen, wenn hierfür nach 1945 eine spezifische völker- oder innerstaatliche Regelung getroffen wurde. Nach dem Überleitungsvertrag (1952) wurden viele Ansprüche gegen das Reich geregelt, zum Teil auch ausgeschlossen oder auf Abkommen mit dem Ausland beschränkt. Zudem unterliegen die meisten Ansprüche heute zwingenden Ausschluss- und Verjährungstatbeständen, weil das Schuldverhältnis entweder als erloschen oder von keinem haftungsfähigen Subjekt mehr gedeckt angesehen wird. Insbesondere vermögensrechtliche Ansprüche, die nicht im Rahmen des Lastenausgleichsgesetzes, des Entschädigungsrechts oder im Kontext der Rückerstattungsgesetzgebung geregelt wurden, sind rechtlich fast ausnahmslos ausgeschlossen.

Welche Gesetze regeln die Abwicklung der Reichsverbindlichkeiten?

Der rechtliche Rahmen zur Abwicklung von Reichsverbindlichkeiten wird durch eine Vielzahl von Gesetzen und Staatsverträgen bestimmt. Zentral sind das Gesetz zur Regelung offener Vermögensfragen (Vermögenregelungsgesetz), der Überleitungsvertrag als Teil der Pariser Verträge von 1952/53 sowie nationale Ausführungsgesetze wie das Lastenausgleichsgesetz (LAG) und das Reichsvermögenüberleitungsgesetz. Hinzu kommen spezifisch völkerrechtliche Verträge wie der Vertrag über die abschließende Regelung in Bezug auf Deutschland (sogenannter Zwei-plus-Vier-Vertrag, 1990), der nochmals endgültig offene Fragen im Kontext der Wiedervereinigung geklärt hat.

Gibt es noch Behörden oder Institutionen, die Reichsverbindlichkeiten verwalten?

Im rechtlichen Sinne gibt es weder eine Behörde noch eine eigene Institution, die heutzutage explizit mit der Verwaltung von Reichsverbindlichkeiten betraut ist. Übernommen wurden relevante Teile in die Zuständigkeit verschiedener Bundesministerien, vorrangig des Bundesministeriums der Finanzen, das im Rahmen der Nachlassverwaltung, Rückerstattung und Entschädigungsleistungen agiert. Teilweise liegen spezifische Aufgaben auch bei den Länderbehörden bzw. nachgeordneter Verwaltungseinheiten, wenn residuale vermögensrechtliche Klärungen erforderlich sind.

Wie behandeln deutsche Gerichte heute Streitigkeiten um Reichsverbindlichkeiten?

Deutsche Gerichte beurteilen Streitigkeiten um Reichsverbindlichkeiten primär anhand der Überleitungsverträge, einschlägiger nationaler Gesetze sowie bestehender völkerrechtlicher Abkommen. Meist kommt es mangels handlungsfähigen Schuldners und fehlender positiver Rechtsgrundlage zur Abweisung entsprechender Klagen. Bestehende Ansprüche werden exakt überprüft, ob sie durch Transferregelungen oder Entschädigungsfonds bereits abgegolten sind. Neuerliche Klagen auf Reichsverbindlichkeiten scheitern daher regelmäßig an fehlender passivlegitimierter Stelle sowie an Ausschlussfristen beziehungsweise Verjährung.

Haben ausländische Staaten noch Ansprüche auf Reparationsleistungen?

Mit dem Abschluss des Zwei-plus-Vier-Vertrags und ergänzenden internationalen Vereinbarungen gelten Reparationstatbestände rechtlich als abgeschlossen. Zwar existierten nach dem Zweiten Weltkrieg diverse bilaterale und multilaterale Verträge zur Regelung von Reparationen, doch wurden im Zuge der deutschen Einheit 1990 sämtliche noch bestehenden Reparationsforderungen durch den Verzicht der beteiligten Mächte und das Fehlen entsprechender Anspruchsgrundlagen endgültig für erledigt erklärt. Deutschland und die Bundesrepublik werden somit rechtlich nicht mehr für etwaige Reichsreparationen in Anspruch genommen.

Bestehen Sonderregelungen für Verbindlichkeiten aus Gold- oder Devisenbeständen des Reichs?

Verbindlichkeiten, die aus dem Gold- oder Devisenschatz des Deutschen Reichs resultierten, wurden nach dem Krieg größtenteils unter Kontrolle der Alliierten gestellt. Gemäß den Londoner Schuldenabkommen und dem Überleitungsvertrag erfolgte eine Verteilung, Restitution oder staatliche Aneignung dieser Vermögensmassen. Rechtlich bestehen heute keine gesonderten offenen Ansprüche auf diese Bestände, soweit sie im Rahmen der Nachkriegsregelungen bereits abgewickelt wurden. Soweit Rückerstattungsverfahren eröffnet wurden, sind diese ebenfalls zum Großteil abgeschlossen oder unterliegen strikten gesetzlichen Fristen.