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Verbandsstrafrecht


Definition und Begriff des Verbandsstrafrechts

Das Verbandsstrafrecht bezeichnet den Teil des Strafrechts, der sich mit der Zurechnung, Sanktionierung und Prävention von Straftaten in und durch juristische Personen, namentlich Verbände, Organisationen und Unternehmen, beschäftigt. Während das klassische Strafrecht auf das persönliche Verschulden natürlicher Personen abzielt, legt das Verbandsstrafrecht den Fokus auf kollektive Einheiten und deren Verantwortlichkeit für Straftaten, die in ihrem Unternehmens- bzw. Organisationskontext begangen werden.

Historische Entwicklung des Verbandsstrafrechts

Ursprünge und internationale Entwicklung

Die Zurechnung strafrechtlicher Verantwortlichkeit zu Verbänden wurde historisch lange abgelehnt, da Strafrecht traditionell auf persönliche Schuld abstellte. Erste Ansätze, auch juristische Personen zu sanktionieren, entstanden im anglo-amerikanischen Recht bereits im 19. Jahrhundert. Im Laufe des 20. Jahrhunderts etablierte sich zunehmend die Auffassung, dass Organisationen wirkungsvoll in die Bekämpfung von Wirtschaftskriminalität, Korruption und anderen Delikten einbezogen werden müssen.

Entwicklung im deutschen Recht

In Deutschland war die Einführung eines klassischen Verbandsstrafrechts lange umstritten. Bislang ist nach geltendem Recht eine echte Strafbarkeit juristischer Personen nicht vorgesehen; es existieren jedoch mit dem Ordnungswidrigkeitengesetz (§ 30, § 130 OWiG) und weiteren Spezialgesetzen Sanktionen gegen Verbände. Seit den 2000er Jahren wird über eine Reform hin zu einem eigenständigen Verbandsanktionenrecht diskutiert; ein einschlägiges Gesetz, das Verbandssanktionengesetz (VerSanG), wurde bislang nicht verabschiedet.

Anwendungsbereich und Grundlagen des Verbandsstrafrechts

Adressatenkreis

Das Verbandsstrafrecht richtet sich an juristische Personen des privaten und öffentlichen Rechts, rechtsfähige Personengesellschaften sowie teilweise auch Unternehmen ohne eigene Rechtspersönlichkeit. Privatpersonen bleiben dem klassischen Individualstrafrecht unterworfen.

Deliktischer Bezug

Zur Anwendung des Verbandsstrafrechts kommt es, wenn eine strafbare Handlung zugunsten oder aus dem Verantwortungsbereich eines Verbandes durch Leitungspersonen oder Mitarbeitende begangen wird. Entscheidend ist ein funktionaler Zusammenhang zwischen Straftat und Verbandstätigkeit.

Zurechnungsprinzipien

Zentrale Frage des Verbandsstrafrechts ist, unter welchen Voraussetzungen einem Verband eigenes strafrechtliches Unrecht zur Last gelegt werden kann. Nach überwiegender Meinung werden die strafbaren Handlungen von Leitungspersonen (Geschäftsführer, Vorstände, etc.) sowie Beschäftigen dem Unternehmen zugerechnet, sofern diese den Verband bereichern oder Pflichten verletzen, die dem Verband obliegen (Organisationsverschulden).

Sanktionen und Rechtsfolgen im Verbandsstrafrecht

Bußgelder und Geldstrafen

Mangels eigentlicher Kriminalstrafe besteht nach geltender Rechtslage die Möglichkeit, gegen Verbände empfindliche Geldbußen zu verhängen, etwa nach § 30 OWiG. Die Höhe bemisst sich an der Schwere des Verstoßes und der Unternehmensgröße.

Verbandsbezogene Maßnahmen

Neben Geldbußen können nach geplanten gesetzlichen Neuregelungen weitere Sanktionen verhängt werden, zum Beispiel:

  • Gewinnabschöpfung
  • Auflagen zur Verbesserung der Compliance-Strukturen
  • Öffentliche Bekanntmachung der Sanktion
  • Ausschluss von öffentlichen Aufträgen

Geplante Entwicklung: Verbandssanktionengesetz

Der jüngste Gesetzesentwurf zum Verbandssanktionengesetz (VerSanG) sieht ein gestuftes System von Sanktionen vor und legt eigenständige Regelungen für Ermittlungsverfahren, Sanktionen, mildernde Faktoren wie Selbstanzeigen und interne Untersuchungen fest. Die geplante Reform will somit die Lücke im bestehenden Sanktionssystem schließen und die internationale Kompatibilität sichern.

Ermittlungsverfahren und Besonderheiten

Verfahren gegen Verbände

Das gegenwärtige Ordnungswidrigkeitenrecht eröffnet Behörden die Möglichkeit, Verfahren unmittelbar gegen Verbände zu führen. Im Unterschied zum klassischen Strafverfahren gegen Individuen stehen hier die wirtschaftlichen Interessen und Organisationsdefizite im Vordergrund.

Rechte und Mitwirkungspflichten

Verbände haben im Verfahren Mitwirkungsrechte, können aber auch Verpflichtungen zur innerbetrieblichen Aufklärung (z.B. interne Ermittlungen) treffen. Im geplanten Verbandssanktionengesetz werden fördernde Kooperationsbereitschaft und präventive Maßnahmen als bußgeldmindernd berücksichtigt.

Prinzipien und Zielsetzung des Verbandsstrafrechts

Präventive Wirkung und Compliance-Anreize

Das Verbandsstrafrecht verfolgt primär präventive Ziele: Durch Sanktionierung kollektiver Organisations- und Aufsichtsdefizite sollen Unternehmen Anreize erhalten, wirksame Compliance-Management-Systeme einzuführen, um Straftaten wirksam vorzubeugen.

Effizienz der Strafverfolgung

Traditionelle Individualstrafbarkeit stößt angesichts komplexer Unternehmensstrukturen und Verschleierungshandlungen an ihre Grenzen. Das Verbandsstrafrecht soll auch dann eine Sanktionierung ermöglichen, wenn individuelle Verantwortlichkeit nicht lückenlos aufgeklärt werden kann.

Verhältnis zum Individualstrafrecht

Das Verbandsstrafrecht ergänzt das Individualstrafrecht. Neben der Sanktionierung der natürlichen Täter sollen auch die „Profiteure“ – also die Unternehmen selbst – zur Verantwortung gezogen werden.

Internationale Vergleiche und europarechtliche Vorgaben

Rechtslage in anderen Staaten

Viele Länder kennen bereits ein ausgeprägtes Verbandsstrafrecht. In den USA ist die Strafbarkeit von Unternehmen seit langem anerkannt. Zahlreiche europäische Staaten (z.B. Frankreich, Großbritannien, Niederlande) haben in den letzten Jahrzehnten umfassende Systeme der Unternehmensstrafbarkeit eingeführt.

Einfluss des Europarechts

Europarechtliche Vorgaben, etwa zur Bekämpfung der Korruption und Geldwäsche, fördern die Vereinheitlichung und Ausweitung von Verbandsstrafrecht. Die Harmonisierung ist insbesondere bei grenzüberschreitenden Delikten und Kartellrecht von zunehmender Bedeutung.

Kritische Würdigung und Ausblick

Das Verbandsstrafrecht bildet einen dynamischen und kontrovers diskutierten Teilbereich der Rechtsordnung. Während Befürworter die Effektivität und Präventionswirkung betonen, warnen Kritiker vor Überregulierung und Belastung der Wirtschaft. Die weitere Entwicklung bleibt maßgeblich vom Fortschritt der Gesetzgebung und der europäischen Harmonisierung abhängig.


Siehe auch:

  • Unternehmensstrafrecht
  • Ordnungswidrigkeitenrecht
  • Compliance-Systeme

Literatur:

  • Beulke, Strafrecht Besonderer Teil II
  • Joecks/Miebach, Münchener Kommentar zum Strafgesetzbuch
  • Gercke/Kinzig, Handbuch des Wirtschaftsstrafrechts

Weblinks:

  • Gesetzesentwurf zum Verbandssanktionengesetz (Juris)
  • Bundesministerium der Justiz: „Verbandsstrafrecht: Fragen und Antworten“

Häufig gestellte Fragen

Inwieweit unterscheidet sich das Verbandsstrafrecht vom klassischen Strafrecht für natürliche Personen?

Das Verbandsstrafrecht richtet sich vornehmlich an juristische Personen, etwa Kapitalgesellschaften oder eingetragene Vereine, und differenziert sich erheblich vom traditionellen Strafrecht, das auf natürliche Personen Anwendung findet. Während bei natürlichen Personen strafrechtliches Handeln primär von individuellen Tatbestandsmerkmalen wie Vorsatz oder Fahrlässigkeit und persönlicher Schuld getragen wird, orientiert sich das Verbandsstrafrecht am sog. Organisationsverschulden. Dies bedeutet, dass ein Fehlverhalten von Organmitgliedern, Führungspersonal oder der Verletzung von Organisations-, Aufsichts- und Kontrollpflichten dem Verband selbst zugerechnet wird. Es geht somit weniger um individuelle Schuld als vielmehr um die kollektive Verantwortung und die Einhaltung organisatorischer Pflichten zur Vorbeugung rechtswidriger Handlungen. Das Verbandsstrafrecht kennt zudem spezifische Rechtsfolgen, die neben oder anstelle von Geldbußen auch strukturelle Maßnahmen wie Weisungen, Auflagen oder sogar die Auflösung des Verbandes umfassen können – Sanktionen, die auf natürliche Personen nicht anwendbar sind.

Wann kann ein Verband überhaupt strafrechtlich verantwortlich gemacht werden?

Die strafrechtliche Verantwortlichkeit eines Verbandes setzt voraus, dass eine Straftat „in Ausführung der Verbandsaufgaben“ durch eine Leitungsperson oder mit deren Billigung begangen wurde. Maßgeblich ist, ob die Tat dem Verband objektiv zurechenbar ist, also einen Bezug zur Verbandstätigkeit aufweist, und der Verband dadurch Reputationsvorteile, finanzielle Vorteile oder sonstige positive Auswirkungen erlangt – oder solchen zu erlangen versucht. In der Regel wird vorausgesetzt, dass der Verband durch eine mangelhafte Compliance-Struktur oder defizitäre Überwachungsmechanismen die Straftat ermöglicht oder zumindest begünstigt hat. Die konkrete Ausgestaltung hängt dabei stets von den gesetzlichen Grundlagen ab, etwa den Vorschriften des deutschen Verbandsanktionenrechts oder entsprechender Spezialgesetze in anderen Jurisdiktionen.

Welche Sanktionen drohen im Rahmen des Verbandsstrafrechts?

Im Gegensatz zur Individualstrafe stehen beim Verbandsstrafrecht spezielle Sanktionen im Fokus, die auf die Wiederherstellung rechtmäßiger Zustände, Prävention und Abschreckung abzielen. Zu den häufigsten Sanktionen zählen empfindliche Geldbußen, deren Bemessung sich an dem wirtschaftlichen Vorteil des Verbandes durch die Straftat orientieren und teils existenzbedrohend sein können. Darüber hinaus können sogenannte „Verbandsauflagen“ erlassen werden, wie die Verpflichtung zur Implementierung oder Verbesserung von Compliance-Programmen, die Bestellung externer Überwacher oder die Pflicht zur Veröffentlichung der Sanktion. In besonders gravierenden Fällen ist auch die Auflösung des Verbandes möglich. Ferner kann der Verband von öffentlichen Aufträgen ausgeschlossen oder mit berufsrechtlichen Maßnahmen belegt werden.

Ist ein wirksames Compliance-Management-System eine Haftungsprävention?

Ein schlüssiges und gelebtes Compliance-Management-System (CMS) ist ein zentrales Instrument zur Risikovorsorge und kann das Haftungsrisiko des Verbandes signifikant senken. Das Verbandsstrafrecht erkennt regelmäßig die Bemühungen eines Verbandes, durch präventive Maßnahmen, Schulungen, wirksame Kontrollmechanismen und Hinweisgebersysteme Straftaten zu verhindern, im Rahmen der Sanktionenbegrenzung an. Je effektiver und nachweislicher das CMS nach dem Stand der Technik ausgestaltet und in der Verbandspraxis implementiert ist, desto eher kann dies strafmildernd und sanktionsreduzierend berücksichtigt werden – in einzelnen Konstellationen sogar zum vollständigen Haftungsausschluss führen, wenn nachgewiesen werden kann, dass trotz angemessener Strukturen eine Straftat nur ausnahmsweise und nicht aufgrund organisatorischer Mängel erfolgte.

Welche Verfahrensrechte hat der betroffene Verband?

Im Rahmen eines Verbandsstrafverfahrens genießt der betroffene Verband eine Vielzahl verfahrensrechtlicher Schutzmechanismen, die sich weitgehend an denen orientieren, die auch natürlichen Personen zustehen. Hierzu zählt insbesondere das Recht auf rechtliches Gehör, die Akteneinsicht, das Schweigerecht und die Möglichkeit, sich durch Rechtsanwälte vertreten zu lassen. Darüber hinaus darf der Verband Beweisanträge stellen und hat das Recht auf ein faires Verfahren vor unabhängigen Gerichten inklusive der Möglichkeit, gerichtliche Entscheidungen anzufechten. Besonderheiten bestehen zudem hinsichtlich unternehmensinterner Ermittlungen und der Herausgabe sensibler Betriebsunterlagen, bei denen datenschutz- und berufsrechtliche Aspekte Beachtung finden müssen.

Wie gestaltet sich das Zusammenspiel zwischen Verbandsstrafrecht und zivilrechtlicher Unternehmenshaftung?

Das Verbandsstrafrecht und die zivilrechtliche Haftung von Verbänden greifen oft ineinander, unterscheiden sich jedoch in Zielrichtung und Sanktionsart. Während ersteres auf die Sanktionierung strafrechtlichen Fehlverhaltens abzielt, betreffen zivilrechtliche Haftungsfolgen insbesondere Schadensersatzansprüche Dritter, die durch das Fehlverhalten des Verbandes zu Schaden gekommen sind. Eine strafrechtliche Verurteilung kann im Zivilprozess als starkes Indiz für eine rechtswidrige und schuldhafte Pflichtverletzung des Verbandes gewertet werden. Zudem können neben Sanktionen nach dem Verbandsstrafrecht parallel zivilrechtliche Ersatzansprüche, etwa von Geschädigten oder Vertragspartnern, geltend gemacht werden, was die wirtschaftlichen Folgen für den Verband erheblich potenzieren kann.