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venire contra factum proprium


Definition und Herkunft des Begriffs „venire contra factum proprium“

„Venire contra factum proprium“ ist eine aus dem Lateinischen stammende Redewendung, die in der Rechtssprache ihren festen Platz gefunden hat. Sie bedeutet wörtlich übersetzt „gegen das eigene frühere Verhalten auftreten“ und bezeichnet ein Institut des Grundsatzes von Treu und Glauben (§ 242 BGB). Es handelt sich hierbei um ein Verbot widersprüchlichen Verhaltens im Rechtsverkehr, das verhindern soll, dass eine Partei aus eigenem unredlichen Verhalten Vorteile zieht oder gegen schutzwürdiges Vertrauen der anderen Partei handelt.

Rechtssystematische Einordnung

Venire contra factum proprium im deutschen Recht

Im deutschen Zivilrecht wird das Prinzip als Fallgruppe des Grundsatzes von „Treu und Glauben“ (§ 242 Bürgerliches Gesetzbuch, BGB) verstanden. Demnach ist die Ausübung eines Rechts dann unzulässig, wenn sie im Widerspruch zu dem steht, was die Partei zuvor durch ihr Verhalten veranlasst oder gebilligt hat und wenn der andere Teil auf das frühere Verhalten vertraut und disponiert hat.

Abgrenzung zu ähnlichen Rechtsinstituten

Das Verbot widersprüchlichen Verhaltens grenzt sich insbesondere ab von Begriffen wie „Dolo agit, qui petit, quod statim redditurus est“ (Er handelt arglistig, wer etwas verlangt, was er sogleich zurückgeben müsste) sowie von der unzulässigen Rechtsausübung gemäß § 226 BGB. Während § 226 BGB die Schikane untersagt, baut „venire contra factum proprium“ auf das Prinzip des Vertrauensschutzes und der Geltung des eigenen Wortes.

Voraussetzungen und Anwendungsbereich

Voraussetzungen für die Annahme widersprüchlichen Verhaltens

Für die Anwendung des Grundsatzes venire contra factum proprium müssen folgende Voraussetzungen erfüllt sein:

  • Vorheriges Verhalten: Die betroffene Partei muss durch ihr früheres Verhalten einen bestimmten Vertrauenstatbestand geschaffen haben.
  • Widersprüchliches Verhalten: Die Partei muss nun ein Verhalten zeigen, das zu ihrem früheren Handeln im Widerspruch steht.
  • Schutzwürdiges Vertrauen: Die andere Partei muss auf das frühere Verhalten vertraut und daraufhin Dispositionen getroffen haben.
  • Unzumutbarkeit: Es muss für den Vertrauenden unzumutbar sein, dass sich die Partei entgegen dem von ihr selbst geschaffenen Vertrauen verhält.

Typische Anwendungsfälle im Zivilrecht

Venire contra factum proprium findet Anwendung in einer Vielzahl von Lebenssachverhalten, darunter:

  • Verträge: Eine Partei bestreitet später Zusagen oder Eigenschaften, auf die sich die andere Partei verlassen hat.
  • Arbeitsrecht: Arbeitgeber oder Arbeitnehmer berufen sich auf Rechte oder Pflichten, die sie zuvor als irrelevant behandelten.
  • Gesellschaftsrecht: Gesellschafter handeln entgegen ihren eigenen früheren Willensbekundungen innerhalb der Gesellschaft.
  • Familienrecht: Rücknahme von Versprechen, auf deren Grundlage Verfügungen zugunsten Dritter erfolgten.

Kein genereller Vertrauensschutz

Das Prinzip ist nicht absolut. Die schutzwürdigen Interessen des Vertrauenden müssen deutlich überwiegen. Rechtsändernde Umstände, ein Irrtum desjenigen, der durch sein Verhalten das Vertrauen begründet hat, oder gesetzliche Änderungen können dazu führen, dass das Verbot widersprüchlichen Verhaltens nicht greift.

Rechtsprechung und Fallbeispiele

Entwicklung in der Rechtsprechung

Die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (BGH) hat den Anwendungsbereich von venire contra factum proprium stetig konkretisiert. Bereits seit den 1950er Jahren wird das Institut als zentrales Element von § 242 BGB angesehen. Besonders bedeutsam sind Entscheidungen in den Bereichen Vertragsrecht, Mietrecht und Gesellschaftsrecht.

Beispielhafte Rechtsprechung

  • BGH, Urteil vom 19.12.1994 (Az.: II ZR 245/93): Ein GmbH-Gesellschafter konnte sich nicht auf bestimmte Gesellschaftsrechte berufen, nachdem er sich zuvor ausdrücklich von diesen distanziert hatte.
  • BGH, Urteil vom 17.12.2003 (Az.: VIII ZR 91/03): Ein Mieter durfte nicht widersprüchlich Ansprüche geltend machen, die im Widerspruch zu seinen eigenen schriftlichen Erklärungen standen.

Europäische Bezüge und internationale Parallelen

Auch im europäischen und internationalen Privatrecht existieren vergleichbare Institute, etwa das estoppel im angloamerikanischen Rechtsraum. Im europäischen Vertragsrecht wird das Prinzip zumeist unter dem Dach des „good faith“-Gebots behandelt.

Abgrenzung zu anderen dogmatischen Konzepten

Unzulässige Rechtsausübung und Rechtsmissbrauch

Während § 226 BGB verbotene Schikane umfasst und § 138 BGB auf Sittenwidrigkeit abzielt, begründet venire contra factum proprium spezifisch einen Rechtsverlust bei vertrauenszerstörendem Verhalten.

Schweigen als Erklärungsverhalten

Nicht jedes Schweigen begründet ein Vertrauenstatbestand. Nur ausdrückliche oder doch schlüssige Verhaltensweisen können das Tatbestandsmerkmal auslösen; bloße Unterlassungen fallen regelmäßig nicht darunter, sofern nicht eine Pflicht zur Äußerung bestand.

Rechtsfolgen des venire contra factum proprium

Anspruchsausschluss und Rechtsverlust

Die Folge des venire contra factum proprium ist in der Regel der Verlust eines Rechts oder Anspruchs, dessen Geltendmachung dem Vertrauensschutz und dem Prinzip des fairen Rechtsverkehrs widerspricht. Die gerichtliche Durchsetzung des widersprüchlichen Verhaltens wird damit unmöglich.

Schadensersatzansprüche

In Einzelfällen kann das widersprüchliche Verhalten sogar zu Schadensersatzansprüchen führen, wenn dem Vertrauenden durch das Verhalten ein Vermögensschaden entstanden ist.

Fazit und Zusammenfassung

Venire contra factum proprium ist im deutschen Zivilrecht ein zentrales Anwendungsgebiet des Grundsatzes von Treu und Glauben. Ziel ist der Schutz des Vertrauens im Rechtsverkehr sowie die Vermeidung von Rechtsmissbrauch durch widersprüchliches Verhalten. Die Systematisierung durch Rechtsprechung und Literatur bietet eine verlässliche Grundlage für die Rechtsanwendung und schafft Transparenz im Umgang mit Vertrauenstatbeständen sowie in der Durchsetzung und Abwehr zivilrechtlicher Ansprüche.


Siehe auch:

  • Treu und Glauben (§ 242 BGB)
  • Rechtsmissbrauch (§ 242 BGB, § 226 BGB)
  • Estoppel (Common Law)
  • Unzulässige Rechtsausübung

Häufig gestellte Fragen

Welche typischen Fallgruppen des venire contra factum proprium gibt es in der Rechtsprechung?

In der Rechtsprechung werden insbesondere drei wesentliche Fallgruppen des venire contra factum proprium differenziert: (1) Das widersprüchliche Verhalten nach vorangegangenem Vertrauenstatbestand, bei dem eine Partei durch ein bestimmtes Verhalten berechtigtes Vertrauen der Gegenseite in eine bestimmte spätere Rechtsausübung begründet, um dann später in Widerspruch hierzu zu handeln; (2) das sogenannte Verwirken von Rechten, wenn Ansprüche über einen längeren Zeitraum hinweg nicht geltend gemacht werden und dadurch Vertrauenstatbestände entstehen; (3) besondere Fallgestaltungen zum Ausschluss von Einwendungen oder Gestaltungsrechten, wenn eine Partei durch ihr Verhalten beispielsweise signalisiert, von einem Recht keinen Gebrauch zu machen, und später in Widerspruch hierzu das Recht doch in Anspruch nimmt. Gerichte prüfen hierbei stets im Einzelfall, ob ein schutzwürdiges Vertrauen begründet und dieses treuwidrig enttäuscht wurde.

Wie setzt die Anwendung des venire contra factum proprium einen Vertrauenstatbestand voraus?

Die Anwendung des Grundsatzes setzt voraus, dass durch das Verhalten einer Partei ein schutzwürdiges Vertrauen bei der anderen Partei hervorgerufen wurde. Es genügt nicht jedes widersprüchliche Verhalten; entscheidend ist, dass die eine Partei darauf vertrauen durfte, dass die andere sich künftig an ihr vorangegangenes Verhalten hält und keine entgegengesetzten Rechtspositionen geltend macht. Dieses Vertrauen muss nach den Grundsätzen von Treu und Glauben (§ 242 BGB) schutzwürdig sein und darf nicht auf bloßen Mutmaßungen beruhen. Maßgeblich ist eine objektive Betrachtung aus der Sicht der Empfängerpartei im jeweiligen Einzelfall. Das Vertrauenstatbestand muss hierbei so gewichtig sein, dass es für die andere Partei zu einem Nachteil führen würde, würde die ursprünglich gegebene Erwartung nicht erfüllt.

Welche Rolle spielt die Kenntnis oder das Verschulden bei der Begründung des Vertrauensschutzes?

Die Kenntnis oder das Verschulden der Parteien spielt bei der Begründung des Vertrauensschutzes eine entscheidende Rolle. Hat die begünstigte Partei positive Kenntnis oder musste sie zumindest mit einem abweichenden Verhalten rechnen, entfällt regelmäßig der Schutz vor venire contra factum proprium. Der Vertrauensschutz kann nur greifen, wenn die Dispositionen im Vertrauen auf das bislang gezeigte Verhalten der Gegenseite getroffen wurden und die Vertrauenslage nicht durch eigene Nachlässigkeit herbeigeführt wurde. Ein Verschulden oder eine grob fahrlässige Unkenntnis führen grundsätzlich zum Ausschluss des Vertrauensschutzes.

Inwieweit unterscheidet sich venire contra factum proprium von anderen Treu-und-Glauben-Einwendungen?

Der Einwand des venire contra factum proprium unterscheidet sich von anderen Einwendungen aus Treu und Glauben (wie z.B. dolo agit, unzulässige Rechtsausübung, Verwirkung), indem er speziell die Unzulässigkeit widersprüchlichen Verhaltens unter Vertrauensgesichtspunkten thematisiert. Während andere Einwendungen innerhalb des § 242 BGB auf etwa unredliches Verhalten oder gezielten Rechtsmissbrauch abzielen, steht beim venire contra factum proprium das Enttäuschen eines schutzwürdigen Vertrauens und das Verbot von Selbstwidersprüchlichkeit im Vordergrund. Der Grundsatz hilft damit insbesondere in Situationen, in denen eine förmliche Verwirkung nicht gegeben ist, aber ein erheblicher Vertrauensschutz zu berücksichtigen ist.

Wie ist das Verhältnis von venire contra factum proprium zum Grundsatz der Verwirkung?

Das venire contra factum proprium und die Verwirkung stehen in einem engen Zusammenhang, sind jedoch voneinander zu unterscheiden. Die Verwirkung („Zeit- und Umstandsmoment“) ist eine Unterform des venire contra factum proprium und meint insbesondere das Unterlassen der Geltendmachung eines Rechts über einen längeren Zeitraum hinweg, sodass beim Gegner berechtigtes Vertrauen entsteht, das Recht werde nicht mehr ausgeübt. Venire contra factum proprium ist hingegen breiter angelegt und umfasst alle Konstellationen widersprüchlichen Verhaltens aufgrund eines gesetzten Vertrauenstatbestandes, nicht nur den Zeitablauf. Die Abgrenzung erfolgt in der Praxis nach den Voraussetzungen des Vertrauensschutzes und dem Gewicht der eingeräumten Vertrauensposition.

Welche Rechtsfolgen hat ein Verstoß gegen das venire contra factum proprium?

Die Rechtsfolge eines Verstoßes besteht in der Unzulässigkeit der weiteren Rechtsausübung oder -berufung der widersprüchlich handelnden Partei. Sie ist gehindert, sich auf ein Recht, eine Gestaltung oder Einwendung zu berufen, wenn dies im Hinblick auf das frühere Verhalten und das dadurch geschaffene Vertrauen treuwidrig erscheint. Gerichtlich wird dies regelmäßig mit der Klageabweisung (bspw. Einrede), der Unbeachtlichkeit einer Einwendung oder dem Anspruchsausschluss sanktioniert. In seltenen Fällen können durch die Verletzung bestehende Verträge entsprechend angepasst oder Schadensersatzansprüche begründet werden.

Wie wird venire contra factum proprium im deutschen Zivilrecht rechtlich eingeordnet?

Im deutschen Zivilrecht ist das venire contra factum proprium als Fallgruppe des § 242 BGB („Treu und Glauben“) einzuordnen. Es handelt sich dabei um eine richterrechtlich entwickelte Rechtsfigur, die den Parteien ein widerspruchsfreies Verhalten abverlangt und den Schutz des schutzwürdigen Vertrauens der Gegenseite bezweckt. Die Figur ist weder ausdrücklich im Gesetz normiert noch abschließend geregelt, sondern wird durch Auslegung der Generalklausel (§ 242 BGB) und unter Berücksichtigung des jeweiligen Einzelfalls von der Rechtsprechung konkretisiert. Sie hat demnach keine eigene Anspruchsgrundlage, sondern dient als Einwendungsgrund zur Begrenzung der Rechtsausübung.