Urkundenunterdrückung und Urkundenvernichtung im deutschen Strafrecht
Definition von Urkundenunterdrückung und Urkundenvernichtung
Unter Urkundenunterdrückung und Urkundenvernichtung versteht man im deutschen Strafrecht Straftatbestände, die sich mit dem unbefugten Umgang mit Urkunden beschäftigen. Beide Delikte sind im Wesentlichen in § 274 Strafgesetzbuch (StGB) gesetzlich geregelt und werden als sogenannte Urkundendelikte eingestuft. Zentraler Anknüpfungspunkt ist hierbei das Beeinträchtigen des Beweiswerts von Urkunden, technischen Aufzeichnungen oder Daten, die zum Beweis geeignet oder bestimmt sind.
Gesetzliche Regelung: § 274 StGB
§ 274 StGB (Urkundenunterdrückung) verbietet die Vernichtung, Beschädigung oder Unterdrückung von Urkunden, technischen Aufzeichnungen oder beweiskräftigen Daten. Der Gesetzestext lautet auszugsweise:
„Wer […] eine echte Urkunde, welche ihm nicht ausschließlich gehört, oder eine technische Aufzeichnung […] vernichtet, beschädigt oder unterdrückt, um einem anderen Nachteil oder sich selbst Vorteil zu verschaffen, wird […] bestraft.“
Tatbestandsmerkmale der Urkundenunterdrückung
1. Tatobjekt: Urkunde, technische Aufzeichnung, beweiserhebliche Daten
Das Tatobjekt muss eine Urkunde, eine technische Aufzeichnung (§ 268 Abs. 2 StGB) oder ein Datenbestand (§ 269 StGB) sein, der zum Beweis im Rechtsverkehr bestimmt ist.
- Urkunde: Jede verkörperte Gedankenerklärung, die Bestimmtheit über eine Person oder einen Sachverhalt schafft und zum Beweis im Rechtsverkehr geeignet ist, etwa Verträge, Zeugnisse, amtliche Bescheinigungen.
- Technische Aufzeichnung: Darstellungen, die maschinell oder elektronisch ohne Mitwirkung eines Menschen erzeugt werden und zur Beweisführung geeignet sind, z.B. Kontrollstreifen von Messgeräten.
- Beweisführende Daten: Elektronisch gespeicherte, beweisrelevante Informationen.
2. Tätertypus: Nicht ausschließlich berechtigter Besitzer
Die Tat kann nur verwirklicht werden, wenn die Urkunde „nicht ausschließlich dem Täter gehört“. Wer alleiniger Inhaber sämtlicher Rechte an einer Urkunde ist, kann diese nicht im Sinne des § 274 StGB unterdrücken oder vernichten.
3. Tathandlungen
- Vernichten: Völlige Aufhebung der Existenz der Urkunde.
- Beschädigen: Erhebliche, nicht unbedingt vollständige Beeinträchtigung der Beweisfunktion (z.B. unleserlich machen, Teile entfernen).
- Unterdrücken: Vorenthalten oder Verbergen, so dass der Berechtigte von der Urkunde keinen Gebrauch machen kann (z.B. in einem Versteck unzugänglich verwahren).
4. Subjektives Tatbestandsmerkmal: Vorteil/Nachteilabsicht
Voraussetzung ist das Handeln in der Absicht, „einem anderen Nachteil oder sich selbst oder einem Dritten Vorteil zu verschaffen“. Es genügt dolus eventualis; der Täter muss die Möglichkeit des Nachteils billigend in Kauf nehmen.
Abgrenzung zu verwandten Straftatbeständen
1. Urkundenfälschung (§ 267 StGB)
Im Gegensatz zur Urkundenunterdrückung wird bei der Urkundenfälschung eine unechte Urkunde hergestellt, verfälscht oder in Umlauf gebracht. Beide Tatbestände können jedoch im Zusammenhang auftreten.
2. Diebstahl und Unterschlagung
Das Entwenden einer Urkunde erfüllt unter Umständen neben Diebstahls- und Unterschlagungstatbeständen auch die Voraussetzungen der Urkundenunterdrückung, sofern die Urkunde vorenthalten oder unbrauchbar gemacht wird.
3. Betrug (§ 263 StGB)
Oft findet eine Urkundenunterdrückung im Kontext eines Betruges statt, wenn durch das Vorenthalten oder Vernichten einer Urkunde Informations- oder Vermögensvorteile generiert werden sollen.
Strafrahmen, Strafzumessung und Versuch
Die Strafe für Urkundenunterdrückung beträgt Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder Geldstrafe. Der Versuch ist ausdrücklich strafbar (§ 274 Abs. 2 StGB). Die Strafe richtet sich nach der Schwere der Tathandlung, den Folgen der Tat sowie nach der Intensität des Vorteil- oder Nachteilsinteresses.
Schutzgut der Vorschrift
§ 274 StGB schützt vor allem die Sicherheit und Zuverlässigkeit des Beweisverkehrs im Rechtsleben. Unabhängig vom konkreten Eintritt eines Schadens steht das allgemeine Vertrauen in die Ordnungsmäßigkeit und Verfügbarkeit beweiserheblicher Urkunden im Mittelpunkt des strafrechtlichen Schutzes.
Besondere Fallgestaltungen und Praxisbeispiele
- Innerbetrieblicher Kontext: Das Vernichten von Lohnabrechnungen vor Gehaltsstreitigkeiten, Unterdrückung von Belege in Buchhaltungsverfahren.
- Zivilrechtliche Auseinandersetzungen: Vorenthalten von Testamenten, um Erbansprüche zu verschleiern.
- Verfahren im öffentlichen Dienst: Entfernen oder Unbrauchbarmachen von Akten in Verwaltungs- oder Gerichtsverfahren.
Rechtsprechung und Auslegung durch Gerichte
Die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (BGH) und oberinstanzlicher Gerichte hat die Merkmale der Tathandlung sowie das Kriterium der Nichtausschließlichkeit des Urkundenbesitzes präzisiert. Urteile zeigen eine klare Linie: Schon das endgültige Entfernen einer Urkunde aus dem Zugriffsbereich des Berechtigten reicht aus; eine Beschädigung muss nicht völlig zerstörend sein, aber relevante Beweisanteile eliminieren.
Verhältnis zum Datenschutz und zu digitalen Dokumenten
Seit der Integration elektronischer Daten und Aufzeichnungen in den Tatbestand (§ 274 Abs. 1 Nr. 2 & 3 StGB) erstreckt sich der Schutz auch auf digitale Dokumente und Datenträger, sofern sie Beweisfunktion besitzen. Die Abgrenzung zwischen bloßer Datenlöschung und relevanter Urkundenvernichtung ist jedoch oft Gegenstand gerichtlicher Prüfung.
Verjährung der Urkundenunterdrückung
Die Verfolgungsverjährung beträgt grundsätzlich fünf Jahre (§ 78 Abs. 3 Nr. 4 StGB), wobei Beginn und Unterbrechung der Verjährungsfrist von Zeitpunkt und Kenntnis der Tat abhängen.
Rechtliche Bedeutung im Zivil- und Verwaltungsrecht
Neben der strafrechtlichen Relevanz kann die Urkundenunterdrückung auch zivil- und verwaltungsrechtliche Folgen haben, beispielsweise als Indiz für eine Beweisvereitelung (§ 427 ZPO) oder als Grund für Anfechtungen und Schadenersatzforderungen.
Fazit:
Urkundenunterdrückung und Urkundenvernichtung gehören zu den zentralen Urkundendelikten im deutschen Strafrecht. Sie dienen vor allem dem Schutz des Rechtsverkehrs und der beweiskräftigen Dokumentation. Aufgrund der wachsenden Relevanz digitaler Medien ist die Bedeutung dieser Straftatbestände weiter gestiegen. Ein umsichtiges, rechtskonformes Verhalten im Umgang mit Urkunden und Daten bleibt für Unternehmen und Privatpersonen gleichermaßen essenziell, um straf- wie zivilrechtliche Konsequenzen zu vermeiden.
Häufig gestellte Fragen
Wann liegt eine strafbare Urkundenunterdrückung oder Urkundenvernichtung im rechtlichen Sinne vor?
Eine strafbare Urkundenunterdrückung oder Urkundenvernichtung liegt im Sinne des § 274 Strafgesetzbuch (StGB) dann vor, wenn jemand eine echte Urkunde, ein amtlich verwahrtes Dokument oder eine technische Aufzeichnung, an der ein Beweisführungsinteresse eines Dritten besteht, in der Absicht zerstört, beschädigt oder unterdrückt, dass dem Dritten dadurch ein Nachteil im Beweisrecht entsteht. Wesentlich ist, dass der Täter vorsätzlich und mit Schädigungsabsicht gegenüber einem anderen handelt. Bereits das bloße Vorenthalten – das sogenannte „Unterdrücken“ – ohne physische Zerstörung kann ausreichen, sofern dadurch die Gebrauchsfähigkeit der Urkunde beseitigt oder wesentlich beeinträchtigt wird. Von Bedeutung ist ebenfalls, dass die Urkunde in fremdem Beweisinteresse besteht und daher nicht bloß persönliche Notizen oder rein eigene Aufzeichnungen betroffen sind.
Welche Strafen drohen bei einer Urkundenunterdrückung oder -vernichtung?
Bei einer rechtswidrigen Urkundenunterdrückung oder -vernichtung gemäß § 274 StGB droht eine Freiheitsstrafe von bis zu fünf Jahren oder eine Geldstrafe. In besonders schweren Fällen, etwa im Zusammenhang mit öffentlichen Ämtern oder bei gewerbsmäßiger Tatbegehung, können die Strafen höher ausfallen. Auch der Versuch ist strafbar, sobald der Täter zur Tat ansetzt, auch wenn die Urkunde nicht endgültig vernichtet oder der Beweiszweck nicht vollständig vereitelt wird. Daneben können zivilrechtliche Ansprüche auf Schadenersatz oder Rückgewähr entstehen.
Wer kann Täter einer Urkundenunterdrückung sein?
Täter kann grundsätzlich jede natürliche Person sein, die vorsätzlich und widerrechtlich eine Urkunde vernichtet, unterdrückt oder beschädigt. Dies gilt unabhängig davon, ob sie Eigentümer, Besitzer oder Dritte im Hinblick auf das Dokument ist. Auch Mitarbeiter in Unternehmen oder Behörden, die beruflich Zugriff auf relevante Urkunden erhalten, können sich strafbar machen, sofern sie unbefugt handeln. Im Strafrecht können zudem Mittäter, Anstifter oder Gehilfen ebenfalls belangt werden, wenn sie an der Tat unmittelbar beteiligt sind oder diese unterstützen.
Welche Arten von Urkunden sind durch § 274 StGB geschützt?
Der Begriff der Urkunde im strafrechtlichen Sinn umfasst alle Schriftstücke, die zum Beweis einer rechtserheblichen Tatsache erstellt sind und bestimmt oder geeignet sind, im Rechtsverkehr als Beweismittel zu dienen. Dazu gehören Verträge, Testamente, gerichtliche oder behördliche Schriftstücke, amtliche Register, Urkunden öffentlicher Stellen sowie private Dokumente von Beweisbedeutung. Auch technische Aufzeichnungen wie Fotografien, Tonbänder oder Datenträger, sofern sie Beweisfunktion besitzen, fallen unter den Schutzbereich. Nicht geschützt sind jedoch rein private und bedeutungslose Notizen ohne Beweisinteresse Dritter.
Wann ist das Unterdrücken einer Urkunde „rechtswidrig“?
Das Unterdrücken einer Urkunde ist dann rechtswidrig, wenn der Täter kein eigenes, sondern ein Dritten zustehendes Beweisinteresse verletzt und zugleich keine Rechtfertigungsgründe oder gesetzliche Befugnisse zur Vernichtung oder Nichtvorlage bestehen. Ein solches Verhalten ist insbesondere dann rechtswidrig, wenn dadurch das Recht Dritter auf Nutzung der Urkunde als Beweismittel beeinträchtigt wird. Fehlt es an einer objektiven Pflicht zur Herausgabe oder Bewahrung, oder besteht eine gesetzliche Berechtigung zur Urkundenvernichtung (z. B. datenschutzrechtliche Löschpflichten), ist die Tat nicht strafbar.
Gibt es Verjährungsfristen bei Urkundenunterdrückung oder -vernichtung?
Ja, für die strafbare Urkundenunterdrückung oder -vernichtung gilt die regelmäßige strafrechtliche Verjährungsfrist gemäß § 78 StGB. Diese beträgt grundsätzlich fünf Jahre nach Beendigung der Tat. Das bedeutet, dass nach Ablauf dieses Zeitraums keine Strafverfolgung mehr erfolgen kann. Die Verjährung beginnt mit dem Tag der letzten tatbestandsmäßigen Handlung, etwa dem Zeitpunkt der Vernichtung oder der letzten Unterdrückungshandlung.
Wie kann eine Urkundenunterdrückung im Zivilprozessrecht relevant werden?
Im Zivilprozessrecht kann die widerrechtliche Urkundenunterdrückung weitreichende Folgen haben. Wird beispielsweise ein Beweismittel absichtlich vorenthalten oder vernichtet, kann das Gericht daraus nach § 427 ZPO im Rahmen der Beweiswürdigung nachteilig für den Unterdrückenden schließen und gegebenenfalls zugunsten der Gegenpartei eine Beweislastumkehr annehmen. Auch Schadenersatzansprüche wegen Beweisvereitelung sind möglich, sofern der andere Teil durch das Verhalten einen Nachteil erleidet. In einigen Fällen können gerichtliche Zwangsmaßnahmen zur Herausgabe oder Sicherstellung der Urkunde veranlasst werden.