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Unzurechnungsfähigkeit


Definition und Begriffsabgrenzung der Unzurechnungsfähigkeit

Die Unzurechnungsfähigkeit ist ein bedeutsamer Begriff des Straf- und Zivilrechts und beschreibt einen Zustand, in dem eine Person aufgrund bestimmter geistiger oder seelischer Störungen nicht in der Lage ist, das Unrecht einer Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln. Die Unzurechnungsfähigkeit spielt eine entscheidende Rolle für die Schuld- und Deliktsfähigkeit sowie die Verantwortlichkeit des Einzelnen im Zusammenhang mit strafbaren oder haftungsrelevanten Handlungen.

Unzurechnungsfähigkeit unterscheidet sich von Begriffen wie Schuldunfähigkeit und Geschäftsunfähigkeit, da sie primär die rechtliche Bewertung der Verantwortlichkeit bei rechtswidrigen Handlungen in den Vordergrund stellt.


Unzurechnungsfähigkeit im Strafrecht

Grundlagen gemäß § 20 StGB

Im deutschen Strafrecht ist die Unzurechnungsfähigkeit insbesondere in § 20 Strafgesetzbuch (StGB) geregelt. Hiernach handelt eine Person ohne Schuld, wenn sie bei Begehung der Tat aufgrund krankhafter seelischer Störungen, tiefgreifender Bewusstseinsstörungen, Schwachsinns oder einer schweren anderen seelischen Abartigkeit unfähig ist, das Unrecht der Tat einzusehen oder dieser Einsicht gemäß zu handeln.

Voraussetzungen

Für das Vorliegen der Unzurechnungsfähigkeit müssen kumulativ folgende Merkmale erfüllt sein:

  • Vorliegen eines pathologischen Zugangshemmnisses: Die genannten Störungen oder Abartigkeiten müssen im Tatzeitpunkt bestehen.
  • Beeinträchtigung der Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit: Die Person darf entweder das Unrecht ihrer Tat nicht erkennen (Einsichtsunfähigkeit) oder nicht in der Lage sein, nach der Einsicht zu handeln (Steuerungsunfähigkeit).
  • Kausalität: Das Hemmnis muss ursächlich für die Tatbegehung sein.

Das Vorliegen der Voraussetzungen beurteilen die Gerichte häufig auf Basis von psychiatrischen oder psychologischen Gutachten.

Abgrenzung zur verminderten Schuldfähigkeit nach § 21 StGB

Neben der vollständigen Unzurechnungsfähigkeit nach § 20 StGB kennt das Strafrecht auch die verminderte Schuldfähigkeit nach § 21 StGB. Hierbei ist die Fähigkeit, das Unrecht zu erkennen oder nach dieser Einsicht zu handeln, erheblich, aber nicht vollständig eingeschränkt. Dies kann zu einer Strafmilderung führen, nicht jedoch zur Schuldfreiheit.


Unzurechnungsfähigkeit im Zivilrecht

Maßgebliche Regelungen und Anwendungsbereiche

Im Zivilrecht ist das Pendant zur Unzurechnungsfähigkeit die Deliktsunfähigkeit gemäß § 827 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB). Personen, welche bei Begehung einer unerlaubten Handlung im Zustand der Bewusstlosigkeit oder vorübergehenden Störung der Geistestätigkeit handeln, sind nicht für einen daraus entstehenden Schaden verantwortlich.

Dauerhafte Geschäftsunfähigkeit

Davon abzugrenzen ist die allgemeine Geschäftsunfähigkeit, welche in § 104 BGB geregelt ist. Geschäftsunfähige Personen sind nicht fähig, wirksame Rechtsgeschäfte vorzunehmen, während die Deliktsunfähigkeit – und damit die Unzurechnungsfähigkeit im zivilrechtlichen Sinne – ausschließlich an die Verantwortlichkeit für Schadenszufügungen anknüpft.

Kindesalter und Unzurechnungsfähigkeit

Kinder unter sieben Jahren (§ 828 Abs. 1 BGB) sind generell deliktsunfähig. Bei Minderjährigen zwischen sieben und achtzehn Jahren prüft das Gesetz die Einsichtsfähigkeit im Einzelfall.


Maßgebliche medizinische und psychologische Aspekte

Krankhafte seelische Störungen und andere Ursachen

Zu den im Gesetz genannten krankhaften seelischen Störungen zählen vorwiegend chronische und akute psychische Erkrankungen, Schizophrenien, gravierende Persönlichkeitsstörungen oder schwere Intelligenzminderungen. Auch akute Zustände wie vorübergehende Bewusstlosigkeit, Intoxikationen (z.B. durch Alkohol oder Drogen) oder epileptische Anfälle können zu einer vorübergehenden Unzurechnungsfähigkeit führen.

Gutachterliche Feststellung

Erforderlich ist in der Regel eine sachverständige Begutachtung zu Tatzeitgeist und Steuerungsfähigkeit. Das Gericht entscheidet dabei letztlich, ob die Voraussetzungen der Unzurechnungsfähigkeit vorliegen, wobei der Sachverständige lediglich beratende Funktion übernimmt.


Rechtsfolgen der Unzurechnungsfähigkeit

Strafrechtliche Folgen

Bei Feststellung der Unzurechnungsfähigkeit entfällt die Strafbarkeit und damit die Strafe. Die Justiz prüft jedoch regelmäßig Sicherungsmaßnahmen, wie z. B. die Unterbringung in einer psychiatrischen Einrichtung (§ 63, § 64 StGB), sofern von der betreffenden Person erhebliche Gefahren für die Allgemeinheit ausgehen.

Zivilrechtliche Folgen

Im Zivilrecht führt die Unzurechnungsfähigkeit dazu, dass Ansprüche auf Schadensersatz ausscheiden, weil das Verschulden als Tatbestandsmerkmal entfällt. In bestimmten Ausnahmekonstellationen, etwa bei Versicherungsfällen oder im Kaskoversicherungsrecht, können abweichende Ansprüche bestehen.


Bedeutung im internationalen Recht

Auch in anderen Rechtsordnungen ist die Unzurechnungsfähigkeit ein maßgebliches Institut. Ihre Ausgestaltung kann jedoch abweichen. Im österreichischen Recht beispielsweise ist die Unzurechnungsfähigkeit im § 11 StGB geregelt, im schweizerischen Recht in Art. 19 StGB. Die Prinzipien ähneln einander, jedoch werden die medizinischen und rechtlichen Voraussetzungen nicht überall identisch interpretiert.


Abgrenzungen und verwandte Institute

Schuldunfähigkeit

Während Unzurechnungsfähigkeit primär im Strafrecht zur Anwendung kommt, beschreibt die Schuldunfähigkeit allgemein einen Zustand fehlender Verantwortlichkeit und ist eng mit Unzurechnungsfähigkeit verbunden.

Geschäftsunfähigkeit

Im Zivilrecht wird die Geschäftsunfähigkeit, welche sich auf die Fähigkeit zur Vornahme wirksamer Rechtsgeschäfte bezieht, klar von der delikts- bzw. unzurechnungsfähigen Person abgegrenzt.

Verminderte Schuldfähigkeit

Die verminderte Schuldfähigkeit nach § 21 StGB zieht keine vollständige Strafbefreiung, sondern lediglich eine Strafrahmenverschiebung nach sich.


Zusammenfassung

Die Unzurechnungsfähigkeit ist sowohl im Straf- als auch im Zivilrecht ein zentrales Rechtsinstitut zur Bestimmung der Verantwortlichkeit für rechtswidrige Handlungen. Sie schützt Personen, die infolge schwerer seelischer Störungen oder anderer geistiger Beeinträchtigungen nicht in der Lage sind, das Unrecht ihres Handelns vollumfänglich zu erkennen oder entsprechend zu handeln, vor straf- und zivilrechtlichen Sanktionen. Die genaue Feststellung und Bewertung obliegt Gerichten unter Beiziehung geeigneter Sachverständiger. Neben der innerstaatlichen Bedeutung gewinnt das Institut auch im internationalen Kontext zunehmend an Einfluss und steht fortlaufend im Fokus rechtswissenschaftlicher und medizinischer Diskussionen.

Häufig gestellte Fragen

Welche Folgen hat die Feststellung der Unzurechnungsfähigkeit für die strafrechtliche Verantwortlichkeit?

Bei Feststellung der Unzurechnungsfähigkeit gemäß § 20 StGB (Strafgesetzbuch) entfällt die strafrechtliche Verantwortlichkeit vollständig. Das bedeutet, dass die betroffene Person für die rechtswidrige Tat nicht bestraft werden darf, da ein Schuldvorwurf aufgrund eines tiefgreifenden Zustandes seelischer oder geistiger Störung ausgeschlossen ist. Dies gilt selbst dann, wenn alle objektiven Tatbestandsmerkmale erfüllt sind und das Delikt nachweislich begangen wurde. In solchen Fällen kommt es regelmäßig zu einem Freispruch hinsichtlich der strafrechtlichen Ahndung, jedoch können nach § 63 StGB sogenannten Maßregeln der Besserung und Sicherung (wie die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus) angeordnet werden, wenn die Person als weiterhin gefährlich eingeschätzt wird.

Wer beurteilt die Unzurechnungsfähigkeit im Strafverfahren?

Die Beurteilung der Unzurechnungsfähigkeit liegt in der Verantwortung des erkennenden Gerichts, das sich dabei auf Sachverständigengutachten stützt. Ein psychiatrischer oder psychologischer Sachverständiger wird vom Gericht beauftragt, den Gesundheitszustand des Beschuldigten zum Tatzeitpunkt eingehend zu untersuchen. Das Gericht ist bei seiner Entscheidung jedoch nicht an das Gutachten gebunden, es kann bei überzeugender eigener Einschätzung hiervon abweichen. Endgültig entscheidet immer das Gericht in freier richterlicher Beweiswürdigung, ob und in welchem Ausmaß Unzurechnungsfähigkeit anzunehmen ist.

Können Nebenfolgen trotz Unzurechnungsfähigkeit verhängt werden?

Obwohl eine Strafe bei Feststellung der Unzurechnungsfähigkeit nicht verhängt wird, können bestimmte Nebenfolgen dennoch eintreten. Dazu zählen beispielsweise Maßregeln der Besserung und Sicherung gemäß §§ 63 ff. StGB, insbesondere die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus oder einer Entziehungsanstalt. Weiterhin sind auch zivilrechtliche Folgen wie etwa Schadensersatzansprüche gegen den Täter nicht automatisch ausgeschlossen, da die Deliktsfähigkeit im Zivilrecht eigenständig zu prüfen ist. Ebenso kann ein Eintrag in das Führungszeugnis erfolgen, sofern eine Maßregel der Besserung und Sicherung angeordnet wird.

Wird der Geschädigte bei Feststellung der Unzurechnungsfähigkeit entschädigt?

Die strafrechtliche Unzurechnungsfähigkeit hat keine unmittelbare Auswirkung auf die zivilrechtliche Haftung. Auch wenn der Täter strafrechtlich nicht schuldig gesprochen werden kann, ist eine zivilrechtliche Haftung für verursachte Schäden möglich, sofern der Täter deliktsfähig war. Das Bürgerliche Gesetzbuch (BGB) regelt die Voraussetzungen für die zivilrechtliche Verantwortlichkeit eigenständig. Bei fehlender Deliktsfähigkeit (§ 827, § 828 BGB), also vergleichbarer Unzurechnungsfähigkeit, kann jedoch auch im Zivilrecht keine Haftung entstehen. Gegebenenfalls kann der Geschädigte Entschädigung aus sogenannten Opferentschädigungsfonds oder durch spezielle Regelungen erhalten.

Was ist der Unterschied zwischen verminderter Schuldfähigkeit und Unzurechnungsfähigkeit?

Während bei Unzurechnungsfähigkeit (Vollrausch, schwerste seelische Störungen etc.) die Strafbarkeit vollständig entfällt, liegt bei verminderter Schuldfähigkeit (§ 21 StGB) eine teilweise Beeinträchtigung der Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit vor. Dies bedeutet, dass der Täter grundsätzlich strafrechtlich verantwortlich bleibt, das Gericht aber nach seinem Ermessen die Strafe mildern oder besondere Maßregeln verhängen kann. Der maßgebliche Unterschied liegt in der völligen Aufhebung (Unzurechnungsfähigkeit) versus lediglich verminderter Schuldfähigkeit, was strafmildernd wirkt, die Verantwortlichkeit aber nicht ausschließt.

Wie steht das Jugendstrafrecht zur Unzurechnungsfähigkeit?

Im Jugendstrafrecht ist die Frage der Unzurechnungsfähigkeit ebenfalls bedeutsam. Hier gelten die spezifischen Regelungen des Jugendgerichtsgesetzes (JGG). Bei Jugendlichen unter 14 Jahren setzt bereits die gesetzliche Vorschrift die Strafunmündigkeit voraus. Bei 14- bis 17-Jährigen ist zu prüfen, ob zur Tatzeit eine ausreichende Einsichtsfähigkeit in das Unrecht der Tat gegeben war (§ 3 JGG). Liegt diese nicht vor, etwa wegen seelischer Störungen, wird von Unzurechnungsfähigkeit ausgegangen und es erfolgt keine strafrechtliche Sanktionierung.

Können Betroffene ihre Unzurechnungsfähigkeit im Nachhinein nachweisen?

Ein Nachweis der Unzurechnungsfähigkeit ist grundsätzlich nur für den Tatzeitpunkt von Bedeutung und muss im Rahmen des Strafverfahrens erbracht werden. Der Nachweis erfolgt durch die Einholung von Sachverständigengutachten sowie die richterliche Beweiswürdigung. Spätere Feststellungen haben in der Regel keine rückwirkenden rechtlichen Konsequenzen für abgeschlossene Verfahren, können jedoch im Rahmen von Wiederaufnahmeverfahren (§ 359 StPO) eine Rolle spielen, falls neue Tatsachen oder Beweismittel eine zum Zeitpunkt der Tat bestehende Unzurechnungsfähigkeit glaubhaft machen.