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Unzurechnungsfähigkeit

Unzurechnungsfähigkeit: Bedeutung, Einordnung und Anwendungsbereiche

Unzurechnungsfähigkeit beschreibt einen Zustand, in dem eine Person das Unrecht einer Handlung nicht erkennen oder ihr Verhalten nicht entsprechend steuern kann. Der Begriff wird vor allem in der Strafverfolgung, im Ordnungswidrigkeitenrecht sowie im Zivilrecht verwendet, wobei jeweils unterschiedliche Folgen an die Feststellung geknüpft sind. Er ist keine medizinische Diagnose, sondern eine rechtliche Bewertung eines Zustands mit psychischem oder bewusstseinsbezogenem Hintergrund.

Abgrenzung und Begriffsklärung

Im allgemeinen Sprachgebrauch wird Unzurechnungsfähigkeit oft als Oberbegriff für fehlende Verantwortlichkeit verwendet. Rechtlich wird präziser unterschieden: Im Strafrecht geht es um Schuldunfähigkeit oder verminderte Schuldfähigkeit, im Zivilrecht um Geschäftsunfähigkeit oder eingeschränkte Deliktsfähigkeit. Gemeinsam ist diesen Konzepten, dass es um die Fähigkeit zur Einsicht in das eigene Handeln und um die Steuerung des Verhaltens geht.

Unzurechnungsfähigkeit im Strafrecht

Schuldprinzip und persönliche Verantwortlichkeit

Die strafrechtliche Verantwortlichkeit knüpft daran an, dass eine Person schuldhaft handelt. Schuld setzt voraus, dass die handelnde Person das Unrecht erkennen und sich entsprechend beherrschen konnte. Fehlt eines von beidem vollständig, liegt Schuldunfähigkeit vor. Ist die Fähigkeit erheblich, aber nicht vollständig gemindert, spricht man von verminderter Schuldfähigkeit.

Kriterien: Einsichts- und Steuerungsfähigkeit

Zentral ist die Unterscheidung zwischen Einsichtsfähigkeit (Erkennen von Recht und Unrecht) und Steuerungsfähigkeit (Handeln nach dieser Einsicht). Unzurechnungsfähigkeit liegt vor, wenn entweder die Einsicht fehlt oder der Wille so beeinträchtigt ist, dass die Person sich nicht entsprechend verhalten kann.

Typische Ursachen und Zustände

Rechtlich anerkannt sind vor allem schwere psychische Störungen, tiefgreifende Bewusstseinsstörungen, ausgeprägte intellektuelle Einschränkungen sowie andere schwere seelische Abweichungen, sofern sie die Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit aufheben. Auch vorübergehende Zustände wie akute Erregungszustände oder Rausch können eine Rolle spielen, wenn sie die genannten Fähigkeiten in erheblichem Maße beeinträchtigen.

Vollständige versus verminderte Schuldfähigkeit

Vollständige Unzurechnungsfähigkeit führt zum Ausschluss der strafrechtlichen Schuld. Verminderte Schuldfähigkeit bedeutet dagegen, dass die Tat grundsätzlich persönlich verantwortet wird, dieser Umstand aber bei der Bewertung und Sanktion eine erhebliche Rolle spielt.

Besondere Konstellationen: selbst herbeigeführte Zustände

Wer den Zustand, in dem die Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit aufgehoben ist, bewusst herbeiführt, kann sich nicht ohne Weiteres auf Unzurechnungsfähigkeit berufen. Das gilt insbesondere, wenn bereits vor Eintritt des Zustands eine Entscheidung getroffen wurde, die auf eine spätere Tat zielt, oder wenn die Selbstverursachung rechtlich als vorwerfbar gewertet wird.

Rechtsfolgen im Strafverfahren

Wird Unzurechnungsfähigkeit festgestellt, entfällt eine Bestrafung. Möglich sind jedoch besondere Maßnahmen zum Schutz der Allgemeinheit und zur Behandlung, etwa eine Unterbringung in einer psychiatrischen Einrichtung oder eine Behandlung bei Abhängigkeitserkrankungen. Solche Maßnahmen sind keine Strafen, sondern dienen Sicherung und Besserung.

Unzurechnungsfähigkeit im Ordnungswidrigkeitenrecht

Ahndungsvoraussetzungen und Verfahrensfolgen

Auch bei Ordnungswidrigkeiten setzt ein Vorwurf voraus, dass die betroffene Person Einsicht in das Unrecht der Handlung haben und ihr Verhalten steuern konnte. Fehlt dies, entfällt die Ahndung. Je nach Einzelfall kann das Verfahren eingestellt werden oder es können alternative Maßnahmen zur Gefahrenabwehr in Betracht kommen.

Zivilrechtliche Bezüge

Geschäftsfähigkeit und Deliktsfähigkeit

Im Zivilrecht betrifft Unzurechnungsfähigkeit vor allem die Wirksamkeit von Erklärungen und die Haftung für Schäden. Geschäftsunfähige Personen können rechtlich bindende Erklärungen grundsätzlich nicht wirksam abgeben; es handelt sich dann meist um nichtige Rechtsgeschäfte. Die Deliktsfähigkeit kann eingeschränkt oder ausgeschlossen sein, wenn Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit fehlen.

Wirksamkeit von Willenserklärungen

Wer zum Zeitpunkt der Abgabe einer Erklärung die Tragweite seines Handelns nicht verstehen kann, handelt rechtlich nicht wirksam. Das betrifft etwa Vertragsabschlüsse oder Einwilligungen. Maßgeblich ist der Zustand im Zeitpunkt der Erklärung.

Haftungsfragen bei Schäden

Fehlt die Fähigkeit, das Unrecht zu erkennen oder das Verhalten zu steuern, kann eine zivilrechtliche Haftung für verursachte Schäden eingeschränkt oder ausgeschlossen sein. In solchen Fällen kommen je nach Konstellation besondere Ausgleichsmechanismen in Betracht, etwa über Versicherungen oder Aufsichtspflichten Dritter.

Alters- und Reifestufen

Kinder und Jugendliche

Gesetze sehen feste Altersgrenzen vor, ab denen Personen strafrechtlich verantwortlich oder geschäftsfähig sind. Unterhalb bestimmter Altersstufen wird Verantwortlichkeit ausgeschlossen. In Übergangsbereichen wird die persönliche Reife geprüft. Diese Regelungen sollen dem Entwicklungsstand von Kindern und Jugendlichen Rechnung tragen.

Feststellung durch Gutachten

Rolle von forensischer Psychiatrie und Psychologie

Ob Unzurechnungsfähigkeit vorliegt, wird regelmäßig durch Sachverständige aus den Bereichen Psychiatrie oder Psychologie gutachterlich bewertet. Sie beurteilen, ob und in welchem Ausmaß Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit zum Tat- oder Handlungszeitpunkt beeinträchtigt waren.

Beweismaß und Entscheidung

Das Gericht würdigt das Gutachten im Zusammenhang mit allen Beweismitteln. Maßgeblich ist der Zustand im konkreten Zeitpunkt der Handlung. Vorbefunde können Anhaltspunkte liefern, ersetzen aber nicht die rechtliche Bewertung der konkreten Situation.

Rechtliche versus medizinische Perspektive

Eine medizinische Diagnose allein entscheidet nicht über Unzurechnungsfähigkeit. Entscheidend ist, ob die festgestellten Störungen rechtlich relevante Auswirkungen auf Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit hatten. Die rechtliche Beurteilung bleibt Aufgabe des Gerichts.

Missverständnisse und Grenzen

Keine Gleichsetzung mit allgemeiner Krankheit

Nicht jede psychische Erkrankung führt zu Unzurechnungsfähigkeit. Umgekehrt kann auch eine vorübergehende Störung ohne dauerhafte Erkrankung rechtlich bedeutsam sein, wenn sie die relevanten Fähigkeiten erhebliche beeinträchtigt.

Vorübergehende Zustände

Zustände wie akute Erschöpfung, Schock oder starker Affekt können die Verantwortlichkeit beeinflussen, wenn sie die Einsicht oder Steuerung wesentlich beeinträchtigen. Ob dies der Fall ist, hängt von Intensität, Ursache und Verlauf des Zustands ab.

Eigenverantwortlich herbeigeführte Beeinträchtigungen

Wird ein Zustand mit absehbarer Beeinträchtigung der Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit selbst herbeigeführt, kann dies die Verantwortlichkeit unberührt lassen. Die Einordnung ist abhängig von Vorsatz, Vorhersehbarkeit und dem Zusammenhang zwischen Ursache und Handlung.

Internationale Perspektiven

Vergleichbare Konzepte

Viele Rechtsordnungen kennen funktional vergleichbare Konzepte zur Begrenzung von Verantwortung bei gravierenden psychischen oder bewusstseinsbedingten Beeinträchtigungen. Die Begrifflichkeiten variieren (etwa „insanity defense“), ebenso die Voraussetzungen und Rechtsfolgen. Gemeinsamer Kern ist die Verknüpfung strafrechtlicher Schuld oder zivilrechtlicher Verantwortung mit der Fähigkeit zur Einsicht und zur Verhaltenssteuerung.

Häufig gestellte Fragen

Wann liegt Unzurechnungsfähigkeit vor?

Unzurechnungsfähigkeit liegt vor, wenn eine Person das Unrecht ihrer Handlung nicht erkennen kann oder nicht in der Lage ist, sich dieser Einsicht entsprechend zu verhalten. Dabei kommt es auf den konkreten Zustand zum Zeitpunkt der Handlung an und darauf, ob die Beeinträchtigung gravierend genug ist, die Verantwortlichkeit auszuschließen.

Reicht Alkohol oder Drogenkonsum für Unzurechnungsfähigkeit aus?

Alleiniger Konsum genügt nicht. Entscheidend ist, ob der Rauschzustand Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit in erheblichem Maß aufgehoben hat. Wurde der Zustand bewusst herbeigeführt, kann dies die Berufung auf Unzurechnungsfähigkeit rechtlich begrenzen.

Welche Folgen hat ein Freispruch wegen Unzurechnungsfähigkeit?

Ein Freispruch bedeutet, dass keine Strafe verhängt wird. Je nach Lage des Falls können jedoch Maßnahmen zur Sicherung und Besserung angeordnet werden, etwa eine Unterbringung in einer psychiatrischen Einrichtung oder eine therapeutische Behandlung bei Abhängigkeitserkrankungen.

Wie unterscheidet sich Unzurechnungsfähigkeit von verminderter Schuldfähigkeit?

Unzurechnungsfähigkeit schließt persönliche Schuld vollständig aus. Verminderte Schuldfähigkeit bedeutet, dass die Fähigkeit zur Einsicht oder Steuerung erheblich herabgesetzt, aber nicht aufgehoben ist. Dies wirkt sich auf die Bewertung der Tat und die Sanktionierung aus.

Welche Rolle spielt das Alter bei der Verantwortlichkeit?

Gesetze enthalten feste Altersgrenzen, unter denen strafrechtliche Verantwortlichkeit ausgeschlossen ist und geschäftliche Bindungen nur eingeschränkt oder gar nicht wirksam begründet werden können. In Übergangsbereichen kann zusätzlich die persönliche Reife geprüft werden.

Wer entscheidet über Unzurechnungsfähigkeit?

Die Entscheidung trifft das Gericht. Es stützt sich auf Gutachten aus Psychiatrie oder Psychologie und würdigt diese zusammen mit den übrigen Beweismitteln. Maßgeblich ist die rechtliche Bewertung des konkreten Einzelfalls.

Gibt es Unzurechnungsfähigkeit auch im Zivilrecht?

Ja. Dort betrifft sie insbesondere die Fähigkeit, wirksame Erklärungen abzugeben (Geschäftsfähigkeit) sowie die Haftung für Schäden (Deliktsfähigkeit). Fehlt die Fähigkeit zur Einsicht in die Tragweite der eigenen Erklärung, sind Rechtsgeschäfte regelmäßig unwirksam.

Kann Unzurechnungsfähigkeit dauerhaft festgestellt werden?

Eine dauerhafte Beeinträchtigung ist möglich, etwa bei schweren psychischen Störungen. Rechtlich maßgeblich bleibt aber stets der Zustand im jeweiligen Entscheidungs- oder Handlungszeitpunkt. Langfristige Zustände können gleichwohl für wiederholte rechtliche Bewertungen bedeutsam sein.