Unterlassungsdelikt: Bedeutung, Systematik und Einordnung
Ein Unterlassungsdelikt liegt vor, wenn ein rechtlich gebotenes Handeln ausbleibt und dadurch ein strafrechtlich relevanter Erfolg eintritt oder eine geschützte Pflicht verletzt wird. Im Gegensatz zum Begehungsdelikt (Tat durch aktives Tun) beruht das Unrecht beim Unterlassungsdelikt auf dem Nicht-Handeln, obwohl in der konkreten Situation eine Handlung erwartet und rechtlich eingefordert war. Das Recht stellt Tun und Unterlassen in bestimmten Konstellationen gleich, weil beide die gleichen Gefahren für Rechtsgüter hervorrufen können.
Unterlassungsdelikte sind nicht nur Ausdruck allgemeiner Solidaritätspflichten, sondern insbesondere Ausdruck besonderer Verantwortungspflichten. Maßgeblich ist, ob eine Handlungspflicht bestand, das Handeln möglich und zumutbar war und das erwartete Handeln den schädlichen Erfolg mit hinreichender Wahrscheinlichkeit abgewendet hätte.
Arten des Unterlassungsdelikts
Echtes Unterlassungsdelikt
Beim echten Unterlassungsdelikt knüpft das Unrecht unmittelbar an das Nichthandeln an. Es existiert eine allgemeine Pflicht, in bestimmten Gefahr- oder Notsituationen tätig zu werden. Typisch ist das Erfordernis, Hilfe zu leisten, wenn dies ohne erhebliche eigene Gefahr und ohne Verletzung sonstiger wichtiger Pflichten möglich ist. Der Tatbestand ist hier von vornherein auf das Unterlassen zugeschnitten.
Unechtes Unterlassungsdelikt
Beim unechten Unterlassungsdelikt wird eine sonst durch aktives Tun begangene Tat einem Unterlassen gleichgestellt. Wer in besonderer Weise für den Schutz eines Rechtsguts einzustehen hat, kann sich strafbar machen, wenn er untätig bleibt und dadurch ein tatbestandlicher Erfolg eintritt, den er hätte verhindern können.
Garantenstellung
Zentrale Voraussetzung ist die sogenannte Garantenstellung, also eine besondere Rechtspflicht zur Erfolgsabwendung. Sie kann sich ergeben aus:
- gesetzlich angeordneten Schutz- oder Überwachungspflichten,
- vertraglich übernommenen Pflichten (z. B. Betreuung, Überwachung, Obhut),
- vorangegangenem gefährdenden Verhalten (Ingerenz),
- enger Lebensgemeinschaft und tatsächlicher Verantwortungsübernahme,
- übernommenen Organisations- oder Amtspflichten.
Gleichwertigkeit von Tun und Unterlassen
Unterlassen wird dem aktiven Tun gleichgestellt, wenn die Verletzung der besonderen Handlungspflicht in ihrer Gefährlichkeit und Vorwerfbarkeit einem aktiven Angriff auf das Rechtsgut entspricht. Diese Gleichwertigkeit rechtfertigt es, die gleiche rechtliche Bewertung vorzunehmen.
Tatbestandsmerkmale beim Unterlassungsdelikt
Objektiver Tatbestand
Für die Annahme eines Unterlassungsdelikts ist regelmäßig erforderlich:
- Eintritt eines tatbestandlichen Erfolgs oder Verwirklichung eines tatbestandlichen Zustandes,
- Bestehen einer Handlungspflicht (allgemein oder aufgrund Garantenstellung),
- Physisch-reale Handlungsmöglichkeit in der konkreten Situation,
- Zumutbarkeit des Handelns unter Berücksichtigung der Umstände,
- Hypothetische Kausalität (Quasi-Kausalität): Das erwartete Handeln hätte den Erfolg mit hoher Wahrscheinlichkeit verhindert oder wesentlich abgeschwächt.
Subjektiver Tatbestand
Beim vorsätzlichen Unterlassen erfasst die innere Einstellung das Bestehen der Handlungspflicht, die relevanten Umstände und die Möglichkeit, durch Handeln den Erfolg abzuwenden. Fahrlässiges Unterlassen beruht auf Sorgfaltspflichtverletzung und Vorhersehbarkeit des Erfolgs bei vorhandener Handlungsmöglichkeit.
Rechtswidrigkeit und Schuld
Rechtswidrig ist das Unterlassen, wenn keine anerkannten Rechtfertigungsgründe vorliegen. In Betracht kommen etwa Situationen, in denen das geforderte Handeln unzulässig wäre oder zwingende, miteinander unvereinbare Pflichten bestehen (Pflichtenkollision). Auf Schuldebene können Unzumutbarkeit, erhebliche Gefahr für den Handelnden oder außergewöhnliche Belastungssituationen eine Rolle spielen. Entscheidend bleibt, ob die unterlassene Handlung in der konkreten Lage verlangt werden konnte.
Besonderheiten und Abgrenzungen
Zumutbarkeit und Pflichtenkollision
Eine Handlungspflicht entfällt oder reduziert sich, wenn das erwartete Verhalten den Handelnden unvertretbar gefährdet oder wenn gleichrangige Pflichten unauflösbar miteinander konkurrieren. Die rechtliche Bewertung richtet sich nach dem Rang der betroffenen Rechtsgüter, den verfügbaren Handlungsalternativen und der konkreten Lage.
Garantenpflicht versus bloßes Zuschauerverhalten
Nicht jede unterlassene Hilfe ist strafbar. Maßgeblich ist, ob eine rechtliche Handlungspflicht bestand. Wer keine Garantenstellung innehat und nicht von einem echten Unterlassungstatbestand erfasst ist, bleibt strafrechtlich häufig außen vor, auch wenn das Verhalten moralisch missbilligt wird.
Unterlassen gegenüber aktivem Tun
Die Zurechnung von Erfolgen bei Unterlassen setzt eine belastbare Annahme voraus, dass das gebotene Handeln den Erfolg verhindert hätte. Diese hypothetische Kausalität ist oftmals schwerer zu belegen als die Kausalität bei aktivem Tun.
Beteiligung und Versuch
Versuch beim Unterlassungsdelikt
Ein Versuch ist möglich, wenn der tatbestandliche Erfolg noch nicht eingetreten ist, der Verpflichtete jedoch die innere Entscheidung trifft, die gebotene Handlung nicht vorzunehmen, und bereits in Richtung des pflichtwidrigen Nichthandelns „ansetzt“. Die genaue Bestimmung des Versuchsbeginns orientiert sich an der Nähe des drohenden Erfolgs und der konkreten Rettungsmöglichkeiten.
Teilnahme durch Unterlassen
Beihilfe oder Förderung einer fremden Tat kann auch durch Unterlassen erfolgen, wenn eine Garantenstellung besteht und das geforderte Handeln die Haupttat erkennbar erschwert oder verhindert hätte. Ohne besondere Handlungspflicht genügt passives Zuschauen in der Regel nicht für eine strafbare Beteiligungsform.
Sanktionierung und Strafzumessung
Die Strafrahmen orientieren sich am jeweils verwirklichten Tatbestand oder an der Gleichstellung von Tun und Unterlassen. Bei der Zumessung spielen eine Rolle: Intensität der Pflichtverletzung, Nähe zum gefährdeten Rechtsgut, konkrete Rettungs- und Eingriffschancen, zeitliche Dringlichkeit, Vorhersehbarkeit des Erfolgs sowie das Maß der persönlichen Verantwortung. Mildernd kann wirken, wenn außergewöhnliche Belastungen, Unsicherheiten in der Gefahrenlage oder erhebliche Eigenrisiken bestanden.
Beweisfragen und praktische Anwendung
Feststellung der Handlungspflicht
Entscheidend ist, ob und aus welcher Quelle eine Pflicht besteht, tätig zu werden. Das kann sich aus tatsächlicher Verantwortungsübernahme, vertraglichen Abreden, amtlicher Zuständigkeit oder vorangegangener Gefahrenbegründung ergeben.
Hypothetische Kausalität
Zu prüfen ist, ob die gebotene Handlung den Erfolg mit hoher Wahrscheinlichkeit verhindert hätte. Das erfordert häufig technische, medizinische oder organisatorische Einschätzungen und eine Bewertung des zeitlichen Ablaufs.
Dokumentations- und Abgrenzungsschwierigkeiten
Weil es um unterbliebene Handlungen geht, stehen Beweisführung und Rekonstruktion im Zentrum: Welche Maßnahmen wären möglich gewesen? Wann genau bestand die Pflicht? Welche Alternativen bestanden? Solche Fragen prägen die rechtliche Bewertung in der Praxis.
Abgrenzungen und verwandte Konzepte
Echte Unterlassungstatbestände versus Pflicht aus Garantenstellung
Echte Unterlassungstatbestände knüpfen an allgemein geltende Solidaritätspflichten an. Unechte Unterlassungsdelikte setzen eine besondere Einstandspflicht für bestimmte Rechtsgüter voraus. Beide Kategorien dienen dem Schutz bedeutender Interessen, unterscheiden sich jedoch in der Quelle der Handlungspflicht.
Zusammenfassung in Kürze
- Unterlassungsdelikte sanktionieren das pflichtwidrige Nicht-Handeln.
- Echte Unterlassungsdelikte beruhen auf allgemeinen Hilfs- oder Handlungspflichten.
- Unechte Unterlassungsdelikte setzen eine Garantenstellung voraus.
- Voraussetzungen sind u. a. Handlungspflicht, Möglichkeit, Zumutbarkeit und hypothetische Kausalität.
- Rechtswidrigkeit und Schuld hängen von Rechtfertigungs- und Entschuldigungsgründen sowie der konkreten Belastungssituation ab.
Häufig gestellte Fragen
Worin besteht der Unterschied zwischen echtem und unechtem Unterlassungsdelikt?
Beim echten Unterlassungsdelikt ist die Pflicht zum Handeln allgemein angelegt und der Tatbestand von vornherein auf das Nichthandeln zugeschnitten. Beim unechten Unterlassungsdelikt besteht eine besondere Einstandspflicht für ein Rechtsgut; das Unterlassen wird dann einem aktiven Begehungsdelikt gleichgestellt.
Wann besteht eine Pflicht zu handeln?
Eine Pflicht zu handeln ergibt sich entweder aus allgemein geltenden Hilfs- oder Handlungspflichten oder aus einer besonderen Garantenstellung. Letztere kann sich aus tatsächlicher Verantwortungsübernahme, vertraglichen Pflichten, vorangegangenem gefährdenden Verhalten, enger Lebensgemeinschaft oder amtlicher Zuständigkeit herleiten.
Was bedeutet hypothetische Kausalität beim Unterlassen?
Hypothetische Kausalität bedeutet, dass zu prüfen ist, ob die gebotene Handlung den eingetretenen Erfolg mit hoher Wahrscheinlichkeit verhindert oder deutlich abgeschwächt hätte. Es geht also um die Frage, wie sich die Situation entwickelt hätte, wenn die fällige Handlung vorgenommen worden wäre.
Ist fahrlässiges Unterlassen strafbar?
Fahrlässiges Unterlassen kann strafbar sein, wenn eine Sorgfaltspflicht verletzt wurde, der Erfolg vorhersehbar war und die gebotene Handlung möglich und zumutbar gewesen wäre. Maßstab ist, welches Verhalten in der konkreten Lage von einer pflichtbewussten Person erwartet werden konnte.
Kann man sich durch Unterlassen an einer Tat beteiligen?
Eine Beteiligung durch Unterlassen ist möglich, wenn eine besondere Handlungspflicht besteht und das gebotene Eingreifen die Haupttat verhindert oder erschwert hätte. Ohne eine solche Pflicht reicht bloßes Zuschauen in der Regel nicht aus, um eine strafbare Beteiligung zu begründen.
Gibt es einen Versuch beim Unterlassungsdelikt?
Ja. Ein Versuch ist denkbar, wenn der tatbestandliche Erfolg noch nicht eingetreten ist, die pflichtwidrige Nichtvornahme der gebotenen Handlung aber bereits in einer Weise begonnen hat, die den Erfolg unmittelbar näher rückt. Maßgeblich sind Nähe zum drohenden Erfolg und vorhandene Rettungsmöglichkeiten.
Wann ist Unterlassen trotz bestehender Pflicht nicht vorwerfbar?
Nicht vorwerfbar kann ein Unterlassen sein, wenn das erwartete Handeln unzumutbar ist, etwa wegen erheblicher Eigengefährdung, oder wenn gleichrangige Pflichten unauflösbar miteinander kollidieren. Auch Rechtfertigungs- und Entschuldigungsgründe können den Vorwurf entfallen lassen.