Legal Lexikon

Wiki»Legal Lexikon»Strafrecht»Unterlassungsdelikt

Unterlassungsdelikt


Begriff und Grundlagen des Unterlassungsdelikts

Ein Unterlassungsdelikt bezeichnet im deutschen Strafrecht eine Straftat, die nicht durch aktives Tun, sondern durch das Unterlassen einer gebotenen Handlung begangen wird. Dem Täter wird demnach vorgeworfen, dass er eine rechtlich geforderte Handlung, durch die ein Delikt abgewendet werden sollte, nicht vornimmt. Unterlassungsdelikte stellen somit einen fundamentalen Gegenpol zu Begehungsdelikten dar, bei denen rechtlich verbotenes Handeln im Vordergrund steht.

Unterlassungsdelikte nehmen in zahlreichen Rechtsgebieten eine bedeutende Stellung ein, insbesondere im Strafrecht, aber auch in Bereichen wie dem Zivilrecht, dem Verwaltungsrecht sowie dem Ordnungswidrigkeitenrecht. Ihr rechtlicher Rahmen ist besonders komplex, da sie meist an besondere Garantenstellungen und Sorgfaltspflichten anknüpfen.

Gesetzliche Grundlagen

Die zentrale Norm im deutschen Strafgesetzbuch (StGB) ist § 13 StGB. Dieser regelt die Strafbarkeit durch Unterlassen und unterscheidet zwischen echtem und unechtem Unterlassungsdelikt:

  • Echte Unterlassungsdelikte: Vom Gesetz ausdrücklich als Unterlassungsvergehen ausgestaltete Tatbestände (z. B. unterlassene Hilfeleistung nach § 323c StGB).
  • Unechte Unterlassungsdelikte: Verwirklichung eines Tatbestands durch Unterlassen bei Bestehen einer rechtlichen Handlungspflicht (§ 13 Abs. 1 StGB).

Arten des Unterlassungsdelikts

Echte und unechte Unterlassungsdelikte

Echte Unterlassungsdelikte

Echte Unterlassungsdelikte sind gesetzlich ausdrücklich so formuliert, dass das bloße Unterlassen einer geforderten Verhaltensweise strafbar ist. Beispielhaft zu nennen ist hier § 323c StGB (Unterlassene Hilfeleistung). Die Strafbarkeit resultiert ausschließlich aus der Nichterfüllung einer pflichtgemäßen Tätigkeit, ohne dass es einer besonderen Garantenstellung bedarf.

Unechte Unterlassungsdelikte

Bei unechten Unterlassungsdelikten ist die Strafbarkeit daran geknüpft, dass der Täter durch Unterlassen denselben tatbestandlichen Erfolg herbeiführt wie durch aktives Tun. Dies ist etwa der Fall, wenn eine Person, die kraft Gesetz, Vertrag, vorangegangenem pflichtwidrigem Verhalten oder aufgrund enger Lebensgemeinschaft für eine andere verantwortlich ist (sogenannter „Garant“), eine zur Erfolgsabwendung erforderliche Handlung unterlässt. Prominente Beispiele sind unterlassener Totschlag (§ 212 Abs. 1 StGB i.V.m. § 13 StGB) oder unterlassenes Einschreiten bei Kindesmisshandlung durch schutzpflichtige Personen.

Deliktsformen: Begehungsdelikt und Unterlassungsdelikt

Das Unterlassungsdelikt ist dem Begehungsdelikt gegenübergestellt. Während das Begehungsdelikt durch ein aktives Tun verwirklicht wird (z. B. Diebstahl), besteht die Besonderheit des Unterlassungsdelikts gerade darin, dass die strafbare Handlung im Nichthandeln, also im schlichten Untätigbleiben, liegt.

Voraussetzungen der Strafbarkeit beim Unterlassungsdelikt

Tatbestandliche Voraussetzungen

Für die Strafbarkeit eines Unterlassungsdeliktes sind mehrere Voraussetzungen zu erfüllen:

  • täterbezogene Handlungspflicht (Garantenpflicht): Der Täter muss zu aktivem Handeln verpflichtet sein. Diese Pflicht kann aus Gesetz, Vertrag, vorangegangenem gefährdendem Verhalten, aus der Übernahme von Verantwortung oder aus enger Lebensgemeinschaft bestehen.
  • Möglichkeit der Erfolgsabwendung: Die geforderte Handlung muss für den Täter realisierbar und zumutbar sein („physisch-reale Möglichkeit“).
  • Kausalität des Unterlassens: Zwischen dem Unterlassen und dem Eintritt des Erfolgs muss ein hypothetischer Kausalverlauf bestehen – das heißt, bei Vornahme der gebotenen Handlung wäre der Erfolg mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ausgeblieben.
  • Objektive Zurechnung: Der Eintritt des tatbestandlichen Erfolges muss dem Täter objektiv zurechenbar sein.
  • Tatbestandsmäßiger Erfolg: Die unterlassene Handlung muss einen tatbestandsmäßigen Erfolg betreffen, beispielsweise Tod bei unterlassenem Totschlag.

Subjektive Voraussetzungen

Wie bei Begehungsdelikten sind beim Unterlassungsdelikt Vorsatz oder Fahrlässigkeit erforderlich, je nach Ausgestaltung des zugrundeliegenden Tatbestandes.

Vorsatzdelikt

Bei einem vorsätzlichen Unterlassungsdelikt muss der Täter die rechtliche Handlungspflicht kennen und dennoch willentlich nicht handeln.

Fahrlässigkeitsdelikt

Eine Strafbarkeit wegen fahrlässigen Unterlassens kommt nur in Betracht, wenn das Gesetz dies ausdrücklich vorsieht. Hierbei wird geprüft, ob dem Täter die Sorgfaltspflichtverletzung vorzuwerfen ist.

Garantenstellung als zentrales Merkmal unechter Unterlassungsdelikte

Die Garantenstellung ist ein Kernelement der unechten Unterlassungsdelikte. Sie beschreibt die rechtliche Pflicht eines Individuums zur Abwendung eines bestimmten Erfolges bei Dritten. Die wichtigsten Fallgruppen sind:

  • Gesetzliche Garantenpflicht: (§ 13 Abs. 1 StGB; z. B. Eltern-Kind-Verhältnis)
  • Vertragliche Übernahme: Vertragliche Bindung zur Fürsorge (z. B. Betreuungspersonal)
  • Gefahrengemeinschaft: Übernahme besonderer Verantwortung in enger Gemeinschaft
  • Pflicht durch vorangegangenes gefährdendes Tun: Der Täter hat eine Gefahrenquelle eröffnet und ist deshalb zur Abwendung verpflichtet.

Die Art und der Umfang der Garantenpflicht richten sich nach Gesetz, Vertrag und den Umständen des Einzelfalls.

Abgrenzungsfragen und Besonderheiten

Abgrenzung zum Begehungsdelikt

Die Abgrenzung zwischen Begehungs- und Unterlassungsdelikt ist von erheblicher Bedeutung. Ausschlaggebend ist, ob eine durch aktives Tun verursachte Erfolgsrealisierung vorliegt (Handlung) oder ein Schutzgebot nicht erfüllt wurde (Unterlassen). Mischformen („Handlung durch Unterlassen“) können im Einzelfall Probleme bereiten und unterliegen intensiver rechtswissenschaftlicher Diskussion.

Konkurrenzen

In der Regel tritt ein Unterlassungsdelikt hinter ein vorsätzliches Begehungsdelikt desselben Tatbestandes zurück (Realkonkurrenz). Liegen mehrere Garantenpflichten vor, ist die konkurrenzrechtliche Behandlung sorgfältig vorzunehmen.

Strafzumessung und Rechtsfolgen

Die Strafandrohung eines unechten Unterlassungsdelikts entspricht der des korrespondierenden aktiven Tatbestandes, es sei denn, das Gesetz sieht ausdrücklich eine geringere oder andere Strafe vor. Besonderheiten ergeben sich etwa bei minder schwerem Verschulden oder bei Vorliegen eines rechtfertigenden Notstandes.

Besondere Konstellationen und aktuelle Rechtsprechung

Die Rechtsprechung hat das Konzept des Unterlassungsdelikts in zahlreichen Entscheidungen konkretisiert, insbesondere im Bereich des Personenschutzes, der Sorgfaltspflichten sowie bei der Abgrenzung eigenverantwortlichen Verhaltens Dritter. Die Entstehung neuer Lebens- und Gesellschaftsformen (z. B. betreutes Wohnen, medizinische Behandlung) sorgt fortlaufend für aktuelle Anpassungsbedarfe.

Unterlassungsdelikt im internationalen Vergleich

Auch in anderen europäischen Rechtsordnungen sowie im internationalen Strafrecht finden sich vergleichbare Regelungen, wenngleich die dogmatische Einordnung und die konkrete Ausgestaltung – insbesondere hinsichtlich der Garantenpflichten – unterschiedlich ausfallen können.

Bedeutung und Kritik

Unterlassungsdelikte tragen in besonderer Weise dem Gebot zu individuellem Schutz und gesellschaftlicher Solidarität Rechnung. Sie werfen jedoch auch Fragen zur Zumutbarkeit, zur Praktikabilität im Alltag und zum Schuldprinzip auf. Insbesondere die Bestimmung der Garantenstellung sowie die Anforderungen an die hypothetische Kausalität werden in der rechtswissenschaftlichen Auseinandersetzung stets kritisch betrachtet.

Literaturhinweise und weiterführende Quellen

  • Fischer, Thomas: Strafgesetzbuch und Nebengesetze, Kommentar (aktuelle Auflage)
  • Roxin, Claus: Strafrecht Allgemeiner Teil
  • Wessels/Beulke: Strafrecht Allgemeiner Teil
  • BGHSt Rechtsprechung zu § 13 StGB

Zusammenfassung

Unterlassungsdelikte nehmen im deutschen Rechtssystem eine zentrale Stellung ein und stellen sicher, dass individuelle und gesellschaftliche Schutzpflichten auch durch Sanktionierung von Nicht-Handeln wirksam durchgesetzt werden können. Sie sind von einer hohen Komplexität, insbesondere im Hinblick auf die Voraussetzungen der Garantenstellung, der Kausalität und der objektiven Zurechenbarkeit. Die sachgerechte Anwendung in Praxis und Wissenschaft ist von großer Bedeutung für die Aufrechterhaltung des Rechtsfriedens und der Rechtsordnung.

Häufig gestellte Fragen

Wann ist ein Unterlassungsdelikt strafbar?

Ein Unterlassungsdelikt ist dann strafbar, wenn eine Person eine rechtlich gebotene Handlung pflichtwidrig unterlässt und hierdurch ein tatbestandlicher Erfolg eintritt, den das Gesetz verhindern will. Voraussetzung ist zunächst, dass eine sogenannte Garantenstellung besteht, das heißt, dass den Täter aus Gesetz, Vertrag, Ingerenz (Gefahrenschaffung) oder Faktengemeinschaft eine besondere Rechtspflicht zur Erfolgsabwendung trifft. Weiterhin muss das Unterlassen kausal für den Erfolg sein, was bedeutet, dass der Erfolg bei Vornahme der gebotenen Handlung mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht eingetreten wäre. Außerdem wird ein Unterlassungsdelikt in der Regel nur dann bestraft, wenn das Gesetz dies ausdrücklich anordnet oder dem aktiven Tun gleichstellt, wie zum Beispiel in § 13 StGB (Strafgesetzbuch). Die Strafbarkeit erfordert darüber hinaus vorsätzliches oder – bei Fahrlässigkeitsdelikten – fahrlässiges Verhalten bezüglich aller Tatbestandsmerkmale.

Wann liegt eine Garantenstellung im Unterlassungsdelikt vor?

Eine Garantenstellung, die Grundlage für die besondere Handlungspflicht beim Unterlassungsdelikt ist, kann sich aus verschiedenen Quellen ergeben. Zum einen kann das Gesetz selbst eine Garantenposition anordnen (gesetzliche Garantenstellung, z. B. Eltern für ihre Kinder nach § 1626 BGB). Zum anderen kann sie sich aus einem Vertrag ergeben (vertragliche Garantenstellung, z. B. Arzt-Patienten-Verhältnis, Aufsichtspflicht von Lehrern). Als weitere Quelle kommt das pflichtwidrige Vorverhalten (Ingerenz) in Betracht, wenn jemand durch sein Vorverhalten eine Gefahr für Rechtsgüter anderer geschaffen hat und dadurch zur Abwendung dieser Gefahr verpflichtet ist. Schließlich kann die Garantenstellung aus einer besonders engen Gemeinschaft oder Beziehung hervorgehen, etwa aus Lebens- oder Haushaltsgemeinschaften. Diese verschiedenen Quellen werden von der Rechtsprechung und Literatur detailliert differenziert und im Einzelfall geprüft.

Wie wird die Kausalität beim Unterlassungsdelikt geprüft?

Beim Unterlassungsdelikt ist für die Strafbarkeit von zentraler Bedeutung, ob zwischen dem Unterlassen und dem eingetretenen Erfolg ein Ursachenzusammenhang, auch Kausalität genannt, besteht. Im Gegensatz zum Begehungsdelikt wird beim Unterlassungsdelikt die sogenannte hypothetische Kausalität geprüft. Das bedeutet, es muss festgestellt werden, ob der Erfolg ausgeblieben wäre, wenn der Verpflichtete die gebotene Handlung vorgenommen hätte. Maßgeblich ist dabei die Formel: Die gebotene Handlung kann nicht hinzugedacht werden, ohne dass der Erfolg mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit entfiele. Diese Bewertung ist häufig schwierig, insbesondere bei unklaren Kausalverläufen, und erfordert eine sorgfältige Würdigung des jeweiligen Sachverhalts und medizinischer oder technischer Zusammenhänge.

Was ist der Unterschied zwischen echtem und unechtem Unterlassungsdelikt?

Echte Unterlassungsdelikte und unechte Unterlassungsdelikte unterscheiden sich vor allem durch ihre gesetzliche Verankerung. Echte Unterlassungsdelikte sind im Gesetz ausdrücklich als Unterlassungstatbestand formuliert, etwa das Unterlassen der Hilfeleistung nach § 323c StGB. Unechte Unterlassungsdelikte dagegen beruhen auf allgemeinen Straftatbeständen, die eigentlich ein aktives Tun betreffen (z. B. Körperverletzung, Totschlag), aber nach § 13 StGB auch durch Unterlassen verwirklicht werden können, wenn der Täter eine Garantenstellung innehat. Damit wird das Unterlassen dem aktiven Handeln gleichgestellt und kann zur Strafbarkeit führen, obwohl das Gesetz dies im jeweiligen Tatbestand nicht ausdrücklich nennt. Die Differenzierung hat erhebliche praktische Bedeutung für Prüfungsschritte und die Anwendung der Straftatbestände.

Welche Bedeutung hat das subjektive Element beim Unterlassungsdelikt?

Auch beim Unterlassungsdelikt ist das subjektive Element – also die innere Einstellung des Täters zum Tatgeschehen – von entscheidender Bedeutung. Bei vorsätzlichen Unterlassungsdelikten ist erforderlich, dass der Täter mit Wissen und Wollen die gebotene Handlung unterlassen und den tatbestandlichen Erfolg billigend in Kauf genommen oder zumindest für möglich gehalten hat. Bei fahrlässigem Unterlassungsdelikt genügt es, wenn der Täter die ihm obliegende Sorgfaltspflicht außer Acht gelassen hat. Schließlich muss sich der Vorsatz auch auf sämtliche objektive Tatbestandsmerkmale beziehen, insbesondere auf das Bestehen der Garantenstellung und die Erkennbarkeit der Gefahrenlage. Fehlt es an Vorsatz oder Fahrlässigkeit, entfällt die Strafbarkeit.

Wie werden Versuch und Rücktritt bei Unterlassungsdelikten behandelt?

Im Bereich der Unterlassungsdelikte ist der Versuch grundsätzlich genauso möglich wie bei Begehungsdelikten, sofern es sich um ein Verbrechen handelt oder das Gesetz dies ausdrücklich vorsieht. Ein Versuch beim Unterlassungsdelikt liegt vor, wenn der Täter trotz bestehender Handlungspflicht die Rettungshandlung unterlässt, der tatbestandliche Erfolg aber (noch) nicht eingetreten ist. Ein Rücktritt ist grundsätzlich dann möglich, wenn der Täter seine Rettungspflicht doch noch rechtzeitig wahrnimmt und damit den Erfolg abwendet („Tätige Reue“). Die Einzelheiten richten sich nach den allgemeinen Regeln des Strafrechts und sind mit Besonderheiten hinsichtlich des Verhaltensspielraums des Garanten verbunden.

Welche besonderen Probleme ergeben sich bei der Abgrenzung von Unterlassen und Tun?

Die Abgrenzung zwischen Tun und Unterlassen ist in der Praxis oft schwierig, da viele Sachverhalte sowohl als aktives Tun als auch als pflichtwidriges Unterlassen angesehen werden können. Entscheidend ist, ob der Schwerpunkt des strafrechtlichen Vorwurfs im aktiven Tun oder im Unterlassen liegt. Die sogenannte Schwerpunkttheorie hilft bei der Zuordnung; dabei wird nach dem maßgeblichen Handlungsunwert gefragt. Kommt der Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit in einem aktiven Tun zum Ausdruck, liegt ein Begehungsdelikt vor, ansonsten ein Unterlassungsdelikt. Diese Abgrenzung ist insbesondere relevant für die Frage der Anwendbarkeit von § 13 StGB sowie für die Strafzumessung und die Konkurrenzen zwischen mehreren Straftatbeständen.