Begriff und Bedeutung der Unterlassenen Hilfeleistung
Unterlassene Hilfeleistung ist ein Begriff des Strafrechts, welcher die strafbare Nichtvornahme einer erforderlichen und zumutbaren Hilfehandlung in einer Not- oder Gefahrensituation beschreibt. Das Delikt dient dem Schutz des Einzelnen sowie der Allgemeinheit vor unterlassener Unterstützung in akuten Notsituationen. Die Strafbarkeit ist in Deutschland insbesondere in § 323c Strafgesetzbuch (StGB) geregelt und ist auch in anderen Rechtsordnungen mit ähnlichen Bestimmungen vertreten.
Gesetzliche Regelungen
Deutschland (§ 323c StGB)
In Deutschland ist die unterlassene Hilfeleistung in § 323c StGB geregelt:
Wortlaut:
„Wer bei Unglücksfällen oder gemeiner Gefahr oder Not nicht Hilfe leistet, obwohl dies erforderlich und ihm den Umständen nach zuzumuten, insbesondere ohne erhebliche eigene Gefahr und ohne Verletzung anderer wichtiger Pflichten möglich ist, wird mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe bestraft.“
Diese Vorschrift zählt zu den echten Unterlassungsdelikten, das heißt, die Strafbarkeit ergibt sich unmittelbar aus dem Unterlassen einer Handlungspflicht.
Tatbestandsvoraussetzungen
Unglücksfall oder gemeine Gefahr/Not
Ein Unglücksfall ist jedes plötzliche Ereignis, das eine erhebliche Gefahr für Personen oder Sachen mit sich bringt, wie z.B. ein Unfall, Brand oder medizinischer Notfall. Als gemeine Gefahr oder Not gelten Situationen, die viele Menschen oder erhebliche Werte zugleich bedrohen, etwa Katastrophen, Überschwemmungen oder Brände.
Erforderlichkeit der Hilfeleistung
Die Handlung muss objektiv geeignet sein, die Notlage abzuwenden oder zu mindern. Unerheblich ist, ob die Hilfeleistung tatsächlich erfolgreich ist.
Zumutbarkeit der Hilfe
Nicht jede Hilfeleistung ist zumutbar. Wer sich bei der Hilfeleistung selbst in erhebliche Gefahr begeben würde oder wichtige andere Pflichten verletzen müsste, ist nicht zur Hilfe verpflichtet. Entscheidend sind die konkreten Fähigkeiten und Möglichkeiten der Person unter Abwägung der Umstände.
Fehlen anderer Hinderungsgründe
Die Strafbarkeit entfällt, wenn bereits ausreichend Hilfe geleistet wird oder Dritte unmittelbar eingreifen können.
Rechtsfolgen
Das Gesetz sieht eine Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder Geldstrafe vor. Der Versuch der unterlassenen Hilfeleistung ist straflos. Eine echte Garantenstellung (besondere Handlungspflicht, etwa Eltern gegenüber Kindern) ist für § 323c StGB nicht erforderlich.
Unterlassene Hilfeleistung im europäischen Vergleich
Österreich (§ 95 StGB)
Der vergleichbare Straftatbestand in Österreich ist in § 95 StGB („Unterlassung der Hilfeleistung“) geregelt. Er geht inhaltlich im Wesentlichen mit der deutschen Regelung konform, umfasst jedoch zusätzliche differenzierte Bestimmungen bezüglich der Notwendigkeit und Zumutbarkeit von Hilfeleistungen.
Schweiz (Art. 128 StGB)
Die Schweiz regelt die unterlassene Hilfeleistung in Art. 128 StGB. Auch hier besteht eine Pflicht zur Hilfeleistung in Notfällen, wenn dies gefahrlos möglich und zumutbar ist.
Abgrenzungen zu anderen Straftatbeständen
Garantenpflichten
Im Unterschied zur unterlassenen Hilfeleistung kann sich aus einer besonderen Garantenstellung eine erweiterte Handlungsverpflichtung ergeben (z. B. Fürsorgepflichten, Verkehrssicherungspflichten). Wer in einer solchen Position ist und nicht handelt, kann unter Umständen wegen fahrlässiger oder vorsätzlicher Körperverletzung oder Tötung durch Unterlassen haftbar gemacht werden (§§ 222, 223, 227 StGB).
Beihilfe durch Unterlassen
Neben der klassischen unterlassenen Hilfeleistung besteht die Möglichkeit, durch das Unterlassen einer gebotenen Handlung zur strafbaren Handlung eines anderen beizutragen (sogenannte Beihilfe durch Unterlassen). Hier gelten jedoch andere Strafrahmen und Voraussetzungen.
Rechtsprechung und Beispiele
Die Rechtsprechung konkretisiert die Anforderungen an Zumutbarkeit und Eignung der Hilfeleistung fortlaufend. Beispielsweise ist das bloße Absetzen eines Notrufs regelmäßig ausreichend, wenn dem Täter mangels medizinischer Fachkenntnisse andere Hilfeformen nicht möglich oder zumutbar sind. Wer Zeuge eines schweren Verkehrsunfalls wird und keinerlei Anstrengungen zur Hilfe unternimmt, macht sich grundsätzlich strafbar.
Ausschluss der Strafbarkeit
Eine Strafbarkeit wegen unterlassener Hilfeleistung entfällt insbesondere, wenn die Hilfeleistung:
- tatsächlich nicht erforderlich ist,
- nicht zumutbar war,
- bereits anderweitig ausreichend organisiert war,
- oder die Person etwa aus eigenen legitimen Gründen (wie erheblicher Eigengefährdung) keine Hilfe leisten konnte.
Sanktionen und Nebenfolgen
Die Verurteilung wegen unterlassener Hilfeleistung zieht im Regelfall eine Geldstrafe oder eine geringe Freiheitsstrafe nach sich. In schwerwiegenden Fällen kann die Tat auch berufliche Konsequenzen oder zivilrechtliche Schadensersatzforderungen nach sich ziehen, insbesondere wenn aus der unterlassenen Hilfeleistung ein Schaden für die betroffene Person resultiert.
Bedeutung im gesellschaftlichen Kontext
Das Delikt der unterlassenen Hilfeleistung verdeutlicht den gesellschaftlichen Grundsatz gegenseitiger Rücksichtnahme und Solidarität. Die Vorschriften zielen darauf ab, eine Mindestverantwortung in Notsituationen zu sichern und die Passivität Dritter bei Gefahrenlagen zu verhindern.
Zusammenfassung
Unterlassene Hilfeleistung ist ein zentrales Schutzgut im Strafrecht, das die Verpflichtung jedes Einzelnen betont, in Notfällen in angemessener Weise zu helfen, sofern dies gefahrlos und zumutbar ist. Die gesetzliche Regelung dient dem Schutz von Rechtsgütern wie Leben, Gesundheit und Eigentum und spiegelt den sozialen Funktionsauftrag des Strafrechts wider. Die Norm setzt ein klares Signal gegen unterlassene Solidarität und fordert aktives Handeln in gesellschaftlichen Notlagen.
Häufig gestellte Fragen
Welche Strafen drohen bei einer Verurteilung wegen unterlassener Hilfeleistung?
Das Strafmaß für unterlassene Hilfeleistung ist in § 323c des deutschen Strafgesetzbuchs (StGB) geregelt. Wer in einer Unglückssituation, bei Gefahr oder Not nicht die erforderliche und zumutbare Hilfe leistet, macht sich strafbar. Die Strafe für eine solche Tat ist Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder Geldstrafe. Im Einzelnen richtet sich das Strafmaß nach den Tatumständen, zum Beispiel nach dem Ausmaß der Folgen für das Opfer, eventuellen Vorstrafen des Täters und dem Verschulden. Bei besonders gewichtigen Pflichtverletzungen – etwa wenn jemand als einziger Helfer in Frage kam und seine Hilfe lebensrettend gewesen wäre – können Gerichte eine Freiheitsstrafe auch nicht mehr zur Bewährung aussetzen. Bleibt es hingegen nur beim Versuch oder ist der Schaden gering, wird häufig eine Geldstrafe verhängt. Es handelt sich um ein Offizialdelikt, das heißt, die Strafverfolgung erfolgt grundsätzlich ohne Antrag des Verletzten.
Gibt es Ausnahmen von der Verpflichtung zur Hilfeleistung?
Die Pflicht zur Hilfeleistung besteht grundsätzlich für jedermann, es gibt aber gesetzlich anerkannte Ausnahmen. Die Hilfeleistung darf einer Person nicht zugemutet werden, wenn sie sich dadurch selbst ernsthaft in Gefahr bringt oder wenn wichtige andere Pflichten entgegenstehen. Beispielsweise muss niemand seine eigene Gesundheit oder sein Leben riskieren oder in einer Weise handeln, dass erhebliche eigene Schäden drohen. Schwangere, gebrechliche Personen oder Minderjährige können oft nur in beschränktem Umfang Hilfe leisten. Bei konkurrierenden Pflichten kann eine sorgfältige Abwägung notwendig sein, etwa wenn ein Arzt sich zwischen mehreren Patienten entscheiden muss. Zudem ist niemand verpflichtet, unangemessene oder nutzlose Hilfe zu leisten, wenn ohnehin ausreichend Hilfe vorhanden oder die Maßnahme objektiv sinnlos wäre.
Was ist unter „erforderlicher“ und „zumutbarer“ Hilfe zu verstehen?
Erforderlich ist jede Hilfe, die geeignet ist, die Gefahr für das Opfer abzumildern, zu beseitigen oder wenigstens irgendwie zu verkleinern. Die Hilfe muss sich immer an den Umständen des Einzelfalls messen. Beispielsweise reicht es bei einem Unfall schon aus, die Rettungskräfte zu benachrichtigen oder Erste Hilfe zu leisten, soweit diese dem Laien möglich ist. Zumutbar ist Hilfe nur dann, wenn sie ohne erhebliche eigene Gefahr oder ohne erhebliche Nachteile für den Helfenden geleistet werden kann. Die Anforderungen steigen, wenn der Helfende Kenntnisse, Fertigkeiten oder Hilfsmittel hat, die Dritte nicht besitzen, etwa bei ausgebildeten Sanitätern oder Ärzten. Die Grenze der Zumutbarkeit ist jedoch stets erreicht, wenn dem Helfenden erheblich negative Konsequenzen drohen.
Wer ist zur Hilfeleistung verpflichtet?
Grundsätzlich ist jeder Mensch, der eine Notlage wahrnimmt, rechtlich zur Hilfeleistung verpflichtet – unabhängig von Alter, Nationalität oder Beruf. Auch Jugendliche und Kinder können, soweit es ihnen nach Alter und persönlichen Fähigkeiten möglich ist, zur Hilfe verpflichtet sein. Für bestimmte Berufsgruppen (wie Ärzte, Rettungssanitäter, Polizisten oder Aufsichtspersonen) können jedoch über die allgemeine Verpflichtung hinausgehende aus berufsrechtlicher Sicht zusätzliche Anforderungen bestehen. Auch wenn mehrere Personen Zeugen eines Notfalls werden, ist jeder einzelne verpflichtet, zu helfen, jedoch ist zur Vermeidung von Doppelungen bei offensichtlicher Hilfestellung durch andere keine eigene Maßnahme notwendig.
Wie ist die Beweislage bei der Anklage wegen unterlassener Hilfeleistung?
Im Strafverfahren muss die Staatsanwaltschaft nachweisen, dass der Beschuldigte eine Notlage bemerkt hat und dennoch pflichtwidrig untätig blieb, obwohl ihm eine Hilfeleistung möglich und zumutbar gewesen wäre. Dieser Nachweis stützt sich häufig auf Zeugenaussagen, Überwachungsvideos, medizinische Gutachten und sonstige Beweismittel. Es muss bewiesen werden, dass die Hilfsmöglichkeit tatsächlich bestand und dass durch die unterlassene Hilfestellung ein möglicher Schaden eingetreten oder zumindest nicht abgewendet wurde. Die Feststellung der subjektiven Wahrnehmbarkeit einer Notlage spielt dabei eine zentrale Rolle.
Welche Rolle spielt das Maß der Hilfe bei der Strafbarkeit?
Für die Strafbarkeit genügt es, wenn irgendeine geeignete, erforderliche und zumutbare Hilfeleistung unterbleibt. Es muss nicht die optimale oder umfangreichste Hilfe geleistet werden. Bereits einfache Maßnahmen wie das Absetzen eines Notrufs oder das Warnen anderer reichen vielfach aus. Umgekehrt reicht das bloße Zuschauen nicht aus, auch wenn andere bereits helfen. Eine strafbare Unterlassung liegt hingegen nicht vor, wenn Hilfe objektiv keinen Nutzen bringen kann oder bereits ausreichend geleistet wird. Der Maßstab orientiert sich stets am Einzelfall und an den Fähigkeiten und Möglichkeiten des Helfenden.
Kann eine unterlassene Hilfeleistung zivilrechtliche Konsequenzen haben?
Ja, neben der Strafbarkeit kann eine Nichtbeachtung der Hilfepflicht auch zivilrechtliche Schadensersatzansprüche zur Folge haben. Wird durch das Unterlassen der Hilfeleistung ein Schaden beim Opfer verursacht, kann dieses – gegebenenfalls nach § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. § 323c StGB – auf Ersatz verlangen. Daneben können Schmerzensgeldforderungen oder Regressforderungen von Sozialversicherungsträgern entstehen, wenn die unterlassene Hilfe kausal für den eingetretenen Schaden war. Die zivilrechtliche Haftung steht unabhängig vom strafrechtlichen Verfahren und kann parallel geltend gemacht werden.