Legal Lexikon

Wiki»Legal Lexikon»Strafrecht»Unrechtsbewusstsein

Unrechtsbewusstsein

Begriff und Einordnung des Unrechtsbewusstseins

Unrechtsbewusstsein bezeichnet die innere Einsicht einer Person, dass ihr Verhalten gegen die Ordnung des Rechts verstößt. Gemeint ist nicht bloß ein moralisches Unbehagen, sondern die Vorstellung, dass eine Handlung rechtlich missbilligt ist. Das Unrechtsbewusstsein ist damit ein psychisches Element, das eng mit Fragen der Verantwortung und Zurechenbarkeit verknüpft ist. Es spielt vor allem im Strafrecht eine zentrale Rolle, berührt aber auch andere Rechtsgebiete.

Definition

Unter Unrechtsbewusstsein versteht man das Verständnis, dass eine konkrete Handlung rechtlich verboten oder missbilligt ist. Es geht um die Bewertung der eigenen Tat als „rechtswidrig“ im Sinne einer rechtlichen Normverletzung. Dieser innere Bezug zur Rechtsordnung unterscheidet das Unrechtsbewusstsein von rein tatsächlichem Wissen über den Ablauf eines Geschehens.

Abgrenzung zu verwandten Begriffen

Rechtswidrigkeit beschreibt die objektive Seite des Unrechts: Ein Verhalten verstößt gegen geltendes Recht. Schuld meint die persönliche Vorwerfbarkeit, also ob die Rechtsverletzung der handelnden Person zugerechnet werden kann. Vorsatz und Fahrlässigkeit betreffen die innere Beziehung zur Tat: Beim Vorsatz kennt und will die Person die tatbestandlichen Umstände; bei Fahrlässigkeit verkennt sie Sorgfaltspflichten. Unrechtsbewusstsein ist kein Bestandteil des Vorsatzes, sondern betrifft die Einsicht in das rechtliche Verbot. Diese Einsicht wird in der Regel auf der Ebene der Schuld geprüft und kann durch Irrtümer beeinflusst sein.

Unrechtsbewusstsein im Strafrecht

Im Strafrecht wird das Unrechtsbewusstsein vor allem im Rahmen der Schuld erörtert. Die Frage lautet, ob die handelnde Person wusste oder hätte wissen können, dass ihr Verhalten rechtlich missbilligt ist, und ob ihr gegebenenfalls ein Irrtum zugutekommt.

Bedeutung für Vorsatz und Fahrlässigkeit

Für den Vorsatz ist erforderlich, dass die Person die tatsächlichen Umstände erkennt, die eine Straftat ausmachen, und diese will. Ein rechtliches Werturteil – also die Kenntnis, dass das Verhalten verboten ist – ist dafür grundsätzlich nicht erforderlich. Wer die faktischen Voraussetzungen kennt und den Taterfolg will, handelt vorsätzlich, selbst wenn er irrig meint, sein Verhalten sei erlaubt. Das Unrechtsbewusstsein wirkt nicht auf den Vorsatz, sondern auf die Schuldebene: Fehlt es an der Einsicht in das Verbot, kann dies die persönliche Vorwerfbarkeit entfallen lassen oder mindern, wenn der Irrtum bestimmte Voraussetzungen erfüllt.

Irrtümer über das Verbot (Verbotsirrtum)

Ein Irrtum über das Verbot liegt vor, wenn die handelnde Person zwar weiß, was sie faktisch tut, aber davon ausgeht, das Verhalten sei rechtlich erlaubt oder jedenfalls nicht verboten. Ein solcher Irrtum betrifft die rechtliche Bewertung, nicht die Tatsachen. Je nach Qualität des Irrtums kann die Schuld entfallen oder verringert werden.

Unvermeidbarer und vermeidbarer Irrtum

Ein unvermeidbarer Irrtum liegt vor, wenn die Person unter den konkreten Umständen trotz zumutbarer Anstrengung nicht erkennen konnte, dass ihr Verhalten verboten ist. In diesem Fall fehlt die Vorwerfbarkeit, und die Schuld entfällt. Ein vermeidbarer Irrtum liegt vor, wenn die Person bei zumutbarer Sorgfalt hätte erkennen können, dass das Verhalten verboten ist. Die Schuld bleibt grundsätzlich bestehen, kann aber geringer bewertet werden. Maßstab sind die persönlichen Fähigkeiten, die konkrete Lage und das Maß an Sorgfalt, das vernünftigerweise erwartet werden kann.

Irrtum über Tatsachen (Tatbestandsirrtum)

Der Irrtum über Tatsachen betrifft nicht die rechtliche Bewertung, sondern die tatsächlichen Umstände der Tat. Wer sich über einen tatsächlichen Umstand irrt, der zum gesetzlichen Tatbild gehört, handelt ohne Vorsatz. Das Unrechtsbewusstsein ist hier nachgelagert: Fehlt der Vorsatz bereits wegen eines Tatsachenirrtums, stellt sich die Frage eines Verbotsirrtums regelmäßig nicht mehr. Bei normativ geprägten Tatbestandsmerkmalen genügt eine laienhafte, nährungsweise zutreffende Bewertung; detaillierte Rechtskenntnisse sind hierfür nicht erforderlich.

Schuldfähigkeit und Einsichtsfähigkeit

Das Unrechtsbewusstsein setzt Einsichtsfähigkeit voraus, also die Fähigkeit, das Unrecht der Tat zu erkennen und nach dieser Einsicht zu handeln. Diese Fähigkeit kann altersbedingt, krankheitsbedingt oder durch Intoxikation eingeschränkt sein. Bei erheblichen Einschränkungen kann die Schuld entfallen oder vermindert sein. Eine bloße Hemmschwelle oder momentane Erregung genügt dafür nicht; erforderlich ist eine relevante Beeinträchtigung der Einsicht oder Steuerungsfähigkeit.

Beweis und Indizien

Das Unrechtsbewusstsein ist ein innerer Vorgang und wird aus äußeren Umständen erschlossen. Indizien können sein: vorherige Beschäftigung mit der Rechtslage, Umgehungs- oder Verschleierungsverhalten, nachträgliche Rechtfertigungsversuche, Erfahrungswissen, berufliche oder lebensnahe Kenntnisse, Hinweise aus Kommunikation und Dokumentation. Die Würdigung erfolgt im Gesamtbild, ohne schematische Beweisregeln.

Unrechtsbewusstsein in anderen Rechtsgebieten

Auch außerhalb des Strafrechts kann das Unrechtsbewusstsein Bedeutung erlangen, vor allem dort, wo Verschulden und Vorwerfbarkeit geprüft werden.

Zivilrechtliche Haftung und Verschulden

In der zivilrechtlichen Haftung knüpfen viele Anspruchsgrundlagen an Fahrlässigkeit oder Vorsatz an. Für Vorsatz ist die Kenntnis der tatsächlichen Umstände maßgeblich; ein fehlendes Unrechtsbewusstsein über die Rechtswidrigkeit schließt Vorsatz nicht zwingend aus, kann aber bei der Bewertung der Schwere des Verschuldens eine Rolle spielen. Bei Minderjährigen und Personen mit eingeschränkter Einsichtsfähigkeit werden alters- und situationsbezogene Maßstäbe angelegt.

Ordnungswidrigkeiten

Im Ordnungswidrigkeitenrecht werden Fehler über die rechtliche Zulässigkeit ebenfalls berücksichtigt. Ein unvermeidbarer Irrtum kann die Ahndung ausschließen, während ein vermeidbarer Irrtum sich schuldmindernd auswirken kann. Maßgeblich sind auch hier die Umstände des Einzelfalls und die Zumutbarkeit einer Erkundigung.

Praxisrelevanz und typische Konstellationen

Typische Fälle eines fehlenden oder eingeschränkten Unrechtsbewusstseins betreffen komplexe, unübersichtliche Regelwerke oder neuartige Lebenssachverhalte. Dazu zählen beispielsweise sich rasch ändernde Verbote, techniknahe Sachverhalte mit vielen Spezialvorschriften oder Situationen, in denen rechtliche Grenzen nicht klar kommuniziert wurden. Auch Konstellationen, in denen sich Personen auf fachkundige Auskünfte verlassen haben, werden häufig im Lichte eines möglichen Irrtums über das Verbot bewertet.

Normunkundigkeit im Alltag

Alltagsnah ist der Fall, dass Personen bestimmte Regeln nicht kennen oder falsch einschätzen. Nicht jede Unkenntnis schützt: Entscheidend ist, ob die Unkenntnis bei zumutbarer Anstrengung vermeidbar war. Dabei spielt eine Rolle, wie schwer zugänglich die einschlägigen Regeln sind und welche Vorerfahrungen die Person mitbringt.

Organisations- und Unternehmenskontexte

In arbeitsteiligen Strukturen kann es zu sogenannten Delegations- und Informationslagen kommen, in denen sich Einzelne auf andere verlassen. Unrechtsbewusstsein wird dann individuell geprüft: Maßgeblich sind Verantwortungsbereich, Aufgabenverteilung und persönliche Kenntnisse. Die Existenz interner Regeln ersetzt nicht die eigene Prüfung, kann aber erklären, warum eine Person von der Rechtmäßigkeit überzeugt war.

Häufige Missverständnisse

Ein verbreitetes Missverständnis besteht darin, das Unrechtsbewusstsein mit moralischen Vorstellungen zu verwechseln. Maßgeblich ist jedoch die rechtliche Missbilligung. Ebenso ist irrtümlich die Annahme, Vorsatz setze stets die Kenntnis der Rechtswidrigkeit voraus; diese gehört typischerweise nicht zum Vorsatz. Schließlich wird häufig übersehen, dass nicht jede Unkenntnis der Rechtslage entschuldigt: Entscheidend sind Vermeidbarkeit und Zumutbarkeit.

Häufig gestellte Fragen (FAQ)

Ist Unrechtsbewusstsein Voraussetzung für Vorsatz?

Nein. Vorsatz erfordert die Kenntnis und das Wollen der tatsächlichen Umstände, die den Tatbestand ausmachen. Die Einsicht, dass die Handlung rechtlich verboten ist, gehört grundsätzlich nicht zum Vorsatz, sondern wird bei der Schuld behandelt.

Reicht eine moralische Überzeugung von der Richtigkeit des Handelns aus, um Unrechtsbewusstsein auszuschließen?

Nein. Maßgeblich ist die rechtliche Bewertung, nicht die eigene moralische Einschätzung. Eine Person kann moralisch von der Richtigkeit überzeugt sein und dennoch mit Unrechtsbewusstsein handeln, wenn sie weiß, dass die Rechtsordnung das Verhalten missbilligt.

Was ist der Unterschied zwischen Verbotsirrtum und Tatbestandsirrtum?

Der Verbotsirrtum betrifft die rechtliche Bewertung: Die Person weiß, was sie tut, hält es aber fälschlich für erlaubt. Der Tatbestandsirrtum betrifft die Tatsachen: Die Person irrt über Umstände, die den Tatbestand ausmachen. Ersterer wirkt auf die Schuld, letzterer auf den Vorsatz.

Welche Rolle spielt Unrechtsbewusstsein bei Jugendlichen?

Bei Jugendlichen wird die Einsichtsfähigkeit alters- und entwicklungsbezogen beurteilt. Je nach Reifegrad kann die Fähigkeit, das Unrecht der Tat einzusehen und nach dieser Einsicht zu handeln, eingeschränkt sein, was die Vorwerfbarkeit beeinflusst.

Wie wird Unrechtsbewusstsein in einem Verfahren festgestellt?

Es wird aus Indizien erschlossen, etwa aus Vorwissen, Belehrungen, Verhalten vor und nach der Tat, beruflichen Erfahrungen oder Kommunikationsinhalten. Eine Gesamtschau der Umstände führt zur Bewertung, ob die Person das rechtliche Verbot kannte oder hätte erkennen können.

Hat Unrechtsbewusstsein Bedeutung außerhalb des Strafrechts?

Ja. In zivilrechtlichen Haftungsfragen und im Ordnungswidrigkeitenrecht kann das Unrechtsbewusstsein für die Bewertung des Verschuldens und der Vorwerfbarkeit relevant sein, insbesondere bei Irrtümern über die Rechtslage.

Schützt Unwissenheit vor Strafe?

Unkenntnis der Rechtslage schützt nicht automatisch. Ein unvermeidbarer Irrtum über das Verbot kann die Schuld ausschließen. War der Irrtum vermeidbar, kann er die Schuld mindern, ohne sie zwingend entfallen zu lassen.

Welche Bedeutung hat die Vermeidbarkeit eines Irrtums über das Verbot?

Die Vermeidbarkeit entscheidet darüber, ob die persönliche Vorwerfbarkeit entfällt oder lediglich geringer zu bewerten ist. Maßgeblich sind die Umstände des Einzelfalls, die Zugänglichkeit der maßgeblichen Regeln und die zumutbare Sorgfalt.