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Unionsbürgerschaft


Begriff und Rechtsgrundlagen der Unionsbürgerschaft

Die Unionsbürgerschaft ist ein zentrales Rechtsinstitut der Europäischen Union (EU) und wurde mit dem Vertrag von Maastricht 1992 eingeführt. Sie ergänzt die nationale Staatsangehörigkeit der Mitgliedstaaten und begründet eigenständige Rechte und Pflichten der Unionsbürgerinnen und Unionsbürger. Die rechtliche Grundlage für die Unionsbürgerschaft findet sich insbesondere in den Artikeln 18 bis 25 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) sowie in Artikel 9 des Vertrags über die Europäische Union (EUV).

Entstehung und Entwicklung der Unionsbürgerschaft

Historische Entwicklung

Die Konzeption einer gemeinsamen Bürgerschaft innerhalb des europäischen Integrationsprozesses entstand mit dem Ziel, die Rechte der Bürgerinnen und Bürger zu stärken und ihre Teilhabe am europäischen Einigungsprozess zu fördern. Die Unionsbürgerschaft wurde durch den Vertrag von Maastricht (1992) zunächst in Grundzügen geschaffen und durch nachfolgende Verträge – insbesondere den Vertrag von Amsterdam (1997), den Vertrag von Nizza (2001) und den Vertrag von Lissabon (2009) – weiterentwickelt und präzisiert.

Primärrechtliche Grundlage

Artikel 20 AEUV bestimmt:
„Es wird eine Unionsbürgerschaft eingerichtet. Unionsbürger ist, wer die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzt. Die Unionsbürgerschaft tritt zur nationalen Staatsangehörigkeit hinzu, ersetzt diese jedoch nicht.“

Die Unionsbürgerschaft ist somit akzessorisch, das heißt, sie geht grundsätzlich und ausschließlich aus der Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats hervor.

Rechte und Pflichten aus der Unionsbürgerschaft

Unionsbürgerinnen und Unionsbürger genießen eine Vielzahl spezifischer Rechte, die ihnen entweder direkt durch die Verträge oder durch Sekundärrecht (Richtlinien, Verordnungen) gewährt werden.

Recht auf Freizügigkeit und Aufenthalt

Freizügigkeit im Unionsgebiet

Das Recht auf Freizügigkeit stellt das Kernstück der Unionsbürgerschaft dar (vgl. Art. 21 AEUV). Unionsbürgerinnen und Unionsbürger haben das Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten. Dieses Recht unterliegt bestimmten Bedingungen und Beschränkungen, die in der Freizügigkeitsrichtlinie (Richtlinie 2004/38/EG) geregelt sind. Die Freizügigkeit umfasst insbesondere:

  • das Recht zur Einreise in einen anderen Mitgliedstaat,
  • das Recht auf Aufenthalt bis zu drei Monaten ohne weitere Voraussetzungen,
  • ein Aufenthaltsrecht über drei Monate hinaus, sofern bestimmte Bedingungen (z.B. Erwerbstätigkeit, ausreichende Existenzmittel) erfüllt sind,
  • das Daueraufenthaltsrecht nach einem fünfjährigen rechtmäßigen Aufenthalt.

Ausnahmen und Beschränkungen

Die Rechte auf Freizügigkeit und Aufenthalt können zum Schutz der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit eingeschränkt werden. Solche Einschränkungen sind unionsrechtlich eng auszulegen und unterliegen der Kontrolle des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH).

Gleichbehandlung und Diskriminierungsverbot

Nach Art. 18 AEUV genießen Unionsbürgerinnen und Unionsbürger im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats grundsätzlich Gleichbehandlung mit den Staatsangehörigen dieses Staates. Insbesondere sind Diskriminierungen aus Gründen der Staatsangehörigkeit, etwa im Bereich der Beschäftigung, Ausbildung, sozialen Sicherheit oder Steuer, grundsätzlich untersagt.

Politische Rechte

Wahlrecht zum Europäischen Parlament

Nach Art. 22 AEUV besitzen Unionsbürgerinnen und Unionsbürger das aktive und passive Wahlrecht bei den Wahlen zum Europäischen Parlament am Ort ihres Wohnsitzes in jedem Mitgliedstaat, auch wenn sie nicht die Staatsangehörigkeit des jeweiligen Staates besitzen.

Kommunalwahlrecht

Darüber hinaus haben sie das Recht, an Kommunalwahlen am Wohnort im jeweiligen Mitgliedstaat unabhängig von der Staatsangehörigkeit teilzunehmen und zu kandidieren.

Diplomatischer und konsularischer Schutz

Unionsbürgerinnen und Unionsbürger, die sich in einem Drittstaat aufhalten, in dem ihr eigener Mitgliedstaat nicht vertreten ist, haben nach Art. 23 AEUV Anspruch auf diplomatischen und konsularischen Schutz durch die Vertretung eines anderen Mitgliedstaates unter denselben Bedingungen wie dessen Staatsangehörige.

Petitionsrecht und Beschwerdemechanismen

Unionsbürgerinnen und Unionsbürger können gemäß Art. 24 AEUV beim Europäischen Parlament Petitionen einreichen und sich an den Europäischen Bürgerbeauftragten wenden. Darüber hinaus besteht das Recht, sich schriftlich an Organe und Einrichtungen der Union zu wenden und eine Antwort in einer der Amtssprachen der Union zu erhalten.

Erwerb und Verlust der Unionsbürgerschaft

Erwerb der Unionsbürgerschaft

Die Unionsbürgerschaft kann ausschließlich durch den Erwerb der Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaates erlangt werden. Die Bedingungen für den Erwerb (z. B. durch Geburt, Einbürgerung, Adoption) richten sich ausschließlich nach den jeweiligen nationalen Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten.

Verlust der Unionsbürgerschaft

Die Unionsbürgerschaft erlischt mit dem Verlust der Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaates. Die Mitgliedstaaten sind dabei jedoch an das Prinzip der Verhältnismäßigkeit gebunden (vgl. EuGH, Rs. C-135/08 „Rottmann“). Ein willkürlicher Entzug der Staatsangehörigkeit und damit der Unionsbürgerschaft ist unionsrechtlich unzulässig.

Bedeutung der Unionsbürgerschaft im europäischen Recht

Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH)

Der EuGH hat der Unionsbürgerschaft in seiner Rechtsprechung zunehmende Bedeutung beigemessen. Er hat betont, dass die Unionsbürgerschaft der „fundamentale Status der Angehörigen der Mitgliedstaaten“ ist (EuGH, Rs. C-184/99 „Grzelczyk“).

Verhältnis zu den Rechten der Staatsangehörigkeit

Die Unionsbürgerschaft ersetzt nicht die nationale Staatsangehörigkeit, sondern ergänzt sie. Die Rechtsstellung als Unionsbürger ist untrennbar mit der Staatsangehörigkeit eines Mitgliedsstaats verbunden. Die Mitgliedstaaten bleiben somit alleine zuständig für das Staatsangehörigkeitsrecht. Unmittelbar aus der Unionsbürgerschaft erwachsen darüber hinausgehende Rechte und Pflichten, die von den Mitgliedstaaten im Rahmen des Unionsrechts zu beachten sind.

Weiterentwicklungen und aktuelle Herausforderungen

Diskussionen bestehen hinsichtlich einer möglichen Weiterentwicklung der Unionsbürgerschaft, beispielsweise der Ausweitung auf weitere politische Rechte oder einer weitergehenden Angleichung der Staatsangehörigkeitsregelungen der Mitgliedstaaten. Besondere Herausforderungen ergeben sich im Zusammenhang mit dem Austritt von Mitgliedstaaten aus der EU (Brexit) und Fragen des Erwerbs oder Verlusts der Unionsbürgerschaft in Sonderkonstellationen.

Literaturhinweise und weiterführende Informationen

  • Europäische Kommission: Bürgerschaft der Europäischen Union
  • Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV), insb. Art. 18-25 AEUV
  • Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, Kommentar zu Art. 20-25 AEUV
  • Bohlmann/Beckmann, Die Unionsbürgerschaft, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV Kommentar

Hinweis: Dieser Artikel bietet einen umfassenden, rechtlich detaillierten Überblick zur Unionsbürgerschaft und ihrer Bedeutung im Recht der Europäischen Union.

Häufig gestellte Fragen

Welche Rechte sind mit der Unionsbürgerschaft gemäß Art. 20 und 21 AEUV verbunden?

Die Unionsbürgerschaft verleiht gemäß Art. 20 und 21 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) eine Vielzahl spezieller Rechte, die ergänzend zur nationalen Staatsbürgerschaft bestehen. Zentrale Rechte umfassen das Recht auf Freizügigkeit und Aufenthaltsfreiheit innerhalb der Mitgliedstaaten, aktive und passive Wahlrechte bei Kommunal- und Europawahlen im Aufenthaltsstaat, diplomatischen und konsularischen Schutz durch andere Mitgliedstaaten im Ausland, Petitionsrecht beim Europäischen Parlament sowie das Recht, sich an den Europäischen Bürgerbeauftragten zu wenden. Darüber hinaus besteht das Recht auf Gleichbehandlung gegenüber Angehörigen anderer Mitgliedstaaten, sofern nicht explizit Ausnahmen geregelt sind. Diese Rechte sind unmittelbar anwendbar, können aber durch unionsrechtliche Sekundärgesetzgebung – insbesondere durch die RL 2004/38/EG (Freizügigkeitsrichtlinie) – im Detail geregelt und gegebenenfalls eingeschränkt werden, wobei solche Einschränkungen verhältnismäßig und gerechtfertigt sein müssen.

Wer kann sich auf die Rechte der Unionsbürgerschaft berufen und wie wird die Unionsbürgerschaft erworben?

Die Rechte der Unionsbürgerschaft stehen ausschließlich natürlichen Personen offen, die die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats der Europäischen Union besitzen. Die Unionsbürgerschaft wird dabei unmittelbar und automatisch durch den Erwerb der nationalen Staatsangehörigkeit eines EU-Mitgliedstaats erlangt; ein eigenständiges Verfahren zur Erlangung der Unionsbürgerschaft existiert nicht. Über den Erwerb und Verlust der Staatsangehörigkeit entscheidet jeder Mitgliedstaat grundsätzlich eigenständig nach seinen nationalen Gesetzen, wobei der Gerichtshof der Europäischen Union in mehreren Urteilen betont hat, dass die Ausübung dieser nationalen Kompetenz im Lichte des Unionsrechts stehen muss und insbesondere nicht zu einer willkürlichen Entziehung unionsrechtlicher Statusrechte führen darf (vgl. EuGH, Rs. C-135/08 „Rottmann“).

Welche Bedeutung hat das Diskriminierungsverbot für Unionsbürger?

Das Diskriminierungsverbot ist ein zentrales Element der Unionsbürgerschaft und ergibt sich sowohl aus Art. 18 AEUV als auch spezialgesetzlich aus weiteren Vorschriften des Unionsrechts. Es stellt sicher, dass Unionsbürger in einem anderen Mitgliedstaat grundsätzlich nicht schlechter behandelt werden dürfen als die eigenen Staatsangehörigen, etwa beim Zugang zu Beschäftigung, Ausbildung, sozialen Leistungen oder in anderen Lebensbereichen. Ausnahmen gelten jedoch bei bestimmten Vergünstigungen, die zwingend an den eng begrenzten Personenkreis der eigenen Staatsangehörigen gebunden sein müssen, sowie in Fällen berechtigter und verhältnismäßiger Unterschiede im Einzelfall. Der EuGH legt das Diskriminierungsverbot traditionell weit aus und schützt damit die unionsrechtlich vorgesehene Gleichbehandlung effektiv, wobei die praktische Anwendung insbesondere im Zusammenhang mit dem Zugang zu Sozialleistungen und Förderungen regelmäßig Gegenstand unionsgerichtlicher Rechtsprechung ist.

Inwieweit können Unionsbürger von politischen Rechten in anderen Mitgliedstaaten Gebrauch machen?

Unionsbürger haben nach Art. 22 AEUV das aktive und passive Wahlrecht bei Kommunalwahlen und den Wahlen zum Europäischen Parlament in ihrem Wohnsitzmitgliedstaat, sofern sie die jeweiligen Voraussetzungen wie Mindestalter und Wahlfähigkeit erfüllen. Dieses Recht ist unabhängig davon, ob der Wohnsitzstaat die Staatsangehörigkeit des Betroffenen verlangt; entscheidend ist der gewöhnliche Aufenthalt. Die Mitgliedstaaten dürfen keine zusätzlichen Erfordernisse auferlegen, die nicht auch für eigene Staatsangehörige gelten, können aber organisatorische Anforderungen (z.B. Eintragung ins Wählerverzeichnis) vorsehen. Einschränkungen ergeben sich vor allem daraus, dass auf nationalstaatlicher Ebene weiterhin die Unterscheidung zwischen Staatsangehörigen und Unionsbürgern im Hinblick auf übergeordnete politische Rechte, wie Parlamentswahlen oder Zugang zu bestimmten Ämtern, zulässig bleibt.

Wie können Unionsbürger bei Verstoß gegen ihre Rechte vorgehen?

Unionsbürger, die sich in ihren durch die Unionsbürgerschaft verliehenen Rechten verletzt sehen, haben verschiedene Rechtsbehelfe zur Verfügung. Zum einen können sie sich an die nationalen Gerichte oder Verwaltungsbehörden im Mitgliedstaat wenden, der die Rechte beeinträchtigt. Aufgrund der unmittelbaren Anwendbarkeit des Unionsrechts müssen nationale Gerichte dieses anwenden und, falls nötig, dem Gerichtshof der Europäischen Union Fragen zur Auslegung vorlegen (Vorabentscheidungsverfahren, Art. 267 AEUV). Zum anderen besteht die Möglichkeit, sich direkt an die Institutionen der EU zu wenden, beispielsweise über das Petitionsrecht beim Europäischen Parlament oder beim Europäischen Bürgerbeauftragten. In Fällen systematischer Diskriminierung oder struktureller Rechtsverletzungen können zudem Vertragsverletzungsverfahren durch die EU-Kommission oder andere Mitgliedstaaten angestrengt werden.

Können Rechte der Unionsbürgerschaft beschränkt werden?

Die mit der Unionsbürgerschaft verbundenen Rechte sind nicht absolut und unterliegen bestimmten Einschränkungen und Vorbehalten. So kann das Recht auf Freizügigkeit und Aufenthalt im Interesse der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit beschränkt werden, wobei eine solche Maßnahme stets individuell zu prüfen und verhältnismäßig zu sein hat (vgl. Art. 27 ff. RL 2004/38/EG). Auch im Bereich der sozialen Rechte kann es sachlich begründete Differenzierungen geben, etwa zur Vermeidung einer unangemessenen Inanspruchnahme von Sozialleistungen durch nicht erwerbstätige Unionsbürger. Einschränkungen müssen jedoch stets im Einklang mit dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz stehen und dürfen die Kernrechte aus der Unionsbürgerschaft nicht aushöhlen. Der EuGH überprüft Maßnahmen der Mitgliedstaaten regelmäßig auf ihre Vereinbarkeit mit Unionsrecht.