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Tatstrafrecht


Begriff und Grundsätze des Tatstrafrechts

Das Tatstrafrecht (auch als „tatbezogenes Strafrecht“ bezeichnet) beschreibt ein zentrales Strukturprinzip der Strafrechtssystematik, insbesondere im deutschen und österreichischen Strafrecht. Es steht im Gegensatz zum Täterstrafrecht und besagt, dass sich die strafrechtliche Verantwortlichkeit eines Menschen im Wesentlichen an seiner konkreten Tat – also an dem von ihm begangenen Verhalten und dem objektiven sowie subjektiven Tatbestand – orientiert und bemisst. Die individuelle Persönlichkeit, Charaktereigenschaften oder frühere Straffälligkeit der betreffenden Person sind in dieser Systematik für die Strafbarkeit grundsätzlich ohne unmittelbare Relevanz, es sei denn, sie sind für die Tatforderung oder die Strafzumessung gesetzlich vorgesehen.

Das Tatstrafrecht ist Ausprägung der im deutschen Recht historisch gewachsenen Individualisierung und gleichzeitigen Objektivierung strafrechtlicher Verantwortung. In diesem Zusammenhang prägt das Tatstrafrecht in entscheidendem Maße das Verständnis des Schuldprinzips, des Legalitätsprinzips sowie der Funktion von Strafe.

Historische Entwicklung und Bedeutung

Entwicklung des Tatstrafrechts

Die Entwicklung des Tatstrafrechts in Mitteleuropa ist eng mit der Aufklärung und den Ideen von Strafrechtsreformen im ausgehenden 18. Jahrhundert verknüpft. Das frühere Täterstrafrecht der frühen Neuzeit, das Persönlichkeit und ständische Merkmale des Täters stärker in den Vordergrund stellte, wurde nach und nach von einem System abgelöst, das die konkrete Rechtsverletzung und den Normbruch („die Tat“) ins Zentrum rückt. Bedeutende Vertreter wie Cesare Beccaria und später Franz von Liszt forderten im Sinne des Tatprinzips eine Objektivierung und Berechenbarkeit strafrechtlicher Sanktionen.

Grundlegende Rechtsprinzipien

  • Legalitätsprinzip (§ 1 StGB): Nur für gesetzlich beschriebene Taten kann eine Bestrafung erfolgen („nullum crimen, nulla poena sine lege“).
  • Schuldprinzip (§ 46 Abs. 1 StGB): Bestraft wird, wer schuldhaft einen gesetzlichen Tatbestand verwirklicht.
  • Individualisierungsgrundsatz: Zwar richtet sich die Strafe an den individuellen Täter, ausschlaggebend ist dennoch das tatbezogene Verhalten und der Tatvorwurf.

Systematische Einordnung

Tatstrafrecht vs. Täterstrafrecht

Das Tatstrafrecht unterscheidet sich grundlegend vom Täterstrafrecht, das die Persönlichkeitseigenschaften des Täters, seinen Lebenswandel oder pädagogische Erwägungen in den Mittelpunkt stellt. Im Tatstrafrecht erfolgt die Strafzumessung und Strafbarkeit vorrangig auf Grundlage des Tatgeschehens und der Tatmotivation. Nur in Ausnahmefällen, etwa im Jugendstrafrecht oder im Maßregelvollzug, werden tatrelevante Tätermerkmale besonders berücksichtigt.

Wesentliche Unterscheidungsmerkmale:

  • Tatstrafrecht: Sanktionierung des normwidrigen Verhaltens (der Tat).
  • Täterstrafrecht: Sanktionierung der Gefährlichkeit oder spezifischer Persönlichkeitsdefizite des Täters.

Tatstrafrecht im Strafgesetzbuch (StGB)

Allgemeiner Teil

Im Allgemeinen Teil des Strafgesetzbuchs (StGB) findet das Tatstrafrecht seinen Ausdruck unter anderem in den Regelungen zum Tatbestand, zur Rechtswidrigkeit und zur Schuld. Die Strafbarkeit setzt voraus, dass ein Täter vorsätzlich oder fahrlässig einen Straftatbestand verwirklicht und dabei rechtswidrig und schuldhaft handelt. Die persönliche Konstitution, Vor- und Nachtaten werden grundsätzlich erst bei der Strafzumessung (§§ 46 ff. StGB), nicht aber beim Nachweis der Strafbarkeit berücksichtigt.

Besonderer Teil

Im Besonderen Teil des StGB ist jede Strafvorschrift grundsätzlich auf eine bestimmte tatbestandsmäßige Handlung gerichtet. Beispielsweise benennt § 211 StGB die Merkmale des Mordes, die ausschließlich auf das konkrete Verhalten in einer spezifischen Lebenssituation Bezug nehmen. Täterspezifische Merkmale werden im Gesetz nur berücksichtigt, soweit sie explizit im Tatbestand verlangt werden (z. B. „Beamter“ bei Amtsdelikten).

Auswirkungen auf die Strafzumessung

Strafausspruch und Strafzumessung

Auch im Rahmen der Strafzumessung steht die Tat im Mittelpunkt des richterlichen Ermessens. Die Festlegung der Strafhöhe orientiert sich, wie § 46 Abs. 1 StGB regelt, „vor allem an der Schuld des Täters“. Maßgeblich ist die Schwere der Tat, wobei im Einzelfall Täterpersönlichkeit, Vorleben oder Nachtatverhalten nachrangig einbezogen werden.

Bedeutung strafzumessungsrelevanter Tätermerkmale

Die einzige systematische Durchbrechung des Tatprinzips findet sich in Sondergesetzen wie dem Jugendgerichtsgesetz (JGG), das im Jugendstrafrecht aus erzieherischen Gründen die Täterpersönlichkeit in den Mittelpunkt rückt, oder im Maßregelvollzug (§§ 63 ff. StGB), wenn eine Gefährlichkeitsprognose angezeigt ist.

Kritik und Grenzen des Tatstrafrechts

Dogmatische Kritik

Kritiker merken an, dass das Tatstrafrecht in seiner strikten Form zu einer vollständigen Ausblendung wichtiger sozialer und psychologischer Faktoren der Tat führt. Gerade moderne Kriminalitätsursachenforschung fordert eine gewisse Rückbesinnung auf Täterorientierung, etwa um Rückfallrisiken zu adressieren.

Praktische Einschränkungen

In der Praxis wird das Tatstrafrecht regelmäßig zugunsten eines systemspezifischen Ausgleichs mit individuellen Tätermerkmalen durchbrochen. Soziale, psychische und historische Faktoren können je nach Tatbestand in Form von Strafrahmenverschiebungen, Strafaussetzungen oder Nebenstrafen in die Gesamtbewertung einfließen.

Internationaler Kontext und Rezeption

Tatstrafrecht in anderen Rechtsordnungen

Auch im internationalen Vergleich gilt das Tatstrafrecht als kennzeichnend für kontinentaleuropäische Strafgesetzgebungen. Angelsächsische Staaten wie Großbritannien oder die USA nutzen mit dem „indeterminate sentencing“ und einer stärkeren Täterorientierung zum Teil abweichende Modelle, in denen die Persönlichkeit und Gefährlichkeit des Täters eine größere Bedeutung für die Strafbemessung haben.

Zusammenfassung

Das Tatstrafrecht ist ein zentrales Strukturprinzip des Strafrechts, bei dem die konkrete Tat – und nicht (vorrangig) die Persönlichkeit oder Lebensumstände des Täters – über die Strafbarkeit und die Strafzumessung entscheidet. Es steht damit im Gegensatz zu stärker täterbezogenen Systemen, wie sie im Jugendstrafrecht oder im Maßregelvollzug vorliegen. Trotz Kritik und reformerischer Tendenzen hat das Tatstrafrecht weiterhin grundlegende Bedeutung für das Verständnis des modernen Strafrechts.

Literatur

  • Joecks, Wolfgang (Hrsg.): Studienkommentar StGB. 13. Aufl., 2022.
  • Roxin, Claus: Strafrecht Allgemeiner Teil. 4. Aufl., 2019.
  • Zieschang, Klaus: Die Lehre vom Täter- und Tatstrafrecht, Juristenzeitung 1982, 1 ff.
  • Beccaria, Cesare: Über Verbrechen und Strafen (Originaltitel: Dei delitti e delle pene), 1764.

Häufig gestellte Fragen

Wer ist im Tatstrafrecht grundsätzlich Täter einer Straftat?

Im Tatstrafrecht ist grundsätzlich jede Person Täter, die durch ihr eigenes, tatbestandsmäßiges und rechtswidriges Verhalten sämtliche objektiven und subjektiven Merkmale eines Straftatbestandes erfüllt. Maßgeblich ist hierbei das Prinzip der individuellen Verantwortlichkeit: Nur derjenige, der eine strafbare Handlung selbst vornimmt oder durch seinen eigenen Tatbeitrag im Rahmen einer Mittäterschaft oder mittelbaren Täterschaft unmittelbar zur Verwirklichung des Straftatbestandes beiträgt, wird als Täter angesehen. Dafür wird nicht vorausgesetzt, dass der Täter sämtliche Phasen der Tat eigenhändig ausführt, vielmehr genügt auch das Lenken oder Beherrschen des Tatgeschehens (Tatherrschaft). Neben der aktiven Begehung durch Tun kann auch ein strafbares Unterlassen zum Täterstatus führen, wenn der Täter eine rechtlich gebotene Handlungspflicht missachtet und dadurch den tatbestandlichen Erfolg herbeiführt. Insgesamt ist die Feststellung der Täterschaft im Tatstrafrecht stets einzelfallbezogen und erfordert eine genaue Prüfung des individuellen Tatbeitrags im jeweiligen Zusammenhang.

Wie unterscheiden sich Täterschaft und Teilnahme im Tatstrafrecht?

Im Tatstrafrecht wird streng zwischen Täterschaft und Teilnahme unterschieden. Täterschaft liegt vor, wenn der Handelnde die Straftat selbst verwirklicht oder als mitverantwortlicher Mitwirkender (etwa als Mittäter oder mittelbarer Täter) wesentlich am Kerngeschehen mitwirkt. Die Täterfrage wird regelmäßig anhand der Tatherrschaftslehre beantwortet, wonach Täter ist, wer das „Ob“ und „Wie“ der Tat wesentlich in der Hand hält. Teilnehmer sind dagegen Anstifter (§ 26 StGB) und Gehilfen (§ 27 StGB). Anstifter ist, wer einen anderen zu einer vorsätzlich begangenen rechtswidrigen Tat bestimmt, während der Gehilfe die Tat eines anderen durch Hilfeleistung fördert. Anders als der Täter führt der Teilnehmer keine eigene Tat aus, sondern leistet einen untergeordneten Beitrag zum Unrecht des Haupttäters. Die Rechtsfolgen differenzieren sich je nach Beteiligungsform deutlich, insbesondere hinsichtlich Strafrahmen, Versuchsstrafbarkeit und persönlichen Strafausschließungs- oder Strafmilderungsgründen.

Welche Rolle spielt der Vorsatz im Tatstrafrecht?

Der Vorsatz ist im Tatstrafrecht ein zentrales subjektives Tatbestandsmerkmal nahezu aller Straftatbestände. Unter Vorsatz versteht man den Willen zur Verwirklichung des Straftatbestandes in Kenntnis aller seiner objektiven Tatumstände. Das Tatstrafrecht unterscheidet grundsätzlich zwischen drei Vorsatzformen: dem Absichtsvorsatz (dolus directus 1. Grades), dem direkten Vorsatz (dolus directus 2. Grades) und dem Eventualvorsatz (dolus eventualis). Ein Handeln ohne Vorsatz ist in der Regel nicht strafbar, es sei denn, das Gesetz normiert ausdrücklich eine Fahrlässigkeitstat (beispielsweise bei § 222 StGB, fahrlässige Tötung). Der Nachweis des Vorsatzes erfolgt stets aufgrund der Umstände des Einzelfalls; ein Irrtum über Tatumstände oder das Bestehen eines Rechtfertigungsgrundes kann den Vorsatz (und damit die Strafbarkeit) entfallen lassen.

Welche Bedeutung hat die objektive Zurechnung im Tatstrafrecht?

Die objektive Zurechnung ist ein zentrales Kriterium der strafrechtlichen Verantwortlichkeit im Tatstrafrecht. Sie ist erforderlich, um zu bestimmen, ob und inwieweit ein durch eine Handlung verursachter Erfolg dem Täter zugerechnet werden kann. Objektiv zurechenbar ist ein Erfolg, wenn der Täter eine rechtlich relevante Gefahr geschaffen hat, die sich im tatbestandlichen Erfolg realisiert. Es reicht also nicht aus, dass ein Erfolg bloß tatsächlich verursacht wurde (Kausalität); vielmehr muss dieser Erfolg auch gerade auf eine pflichtwidrige Gefahr zurückzuführen sein, die durch das Verhalten des Täters geschaffen wurde. Fehlt es etwa an einer solchen Risikoerhöhung oder ist der Erfolg auf völlig atypische Kausalverläufe zurückzuführen, kann dem Täter der Eintritt des Erfolgs objektiv nicht zugerechnet werden. Die objektive Zurechnung dient so einer sachgerechten Begrenzung strafrechtlicher Haftung.

Wann liegt ein strafbares Unterlassen im Tatstrafrecht vor?

Ein strafbares Unterlassen liegt im Tatstrafrecht immer dann vor, wenn der Täter entgegen einer ihn treffenden Garantenstellung eine Handlung unterlässt, durch welche der tatbestandliche Erfolg abgewendet werden könnte und ihm die Vornahme der Handlung zumutbar sowie rechtlich möglich ist (§ 13 StGB). Die bloße bloße Untätigkeit reicht hierfür nicht: Es muss vielmehr eine besondere Rechtspflicht zur Verhinderung des Erfolgs vorliegen, beispielsweise aufgrund von Gesetz (Eltern gegenüber Kindern), Vertrag (Pflegepersonal gegenüber Patienten) oder einer besonders eingegangenen Gefahrengemeinschaft. Die Strafbarkeit setzt voraus, dass zwischen der Nichtvornahme der gebotenen Handlung und dem Eintritt des Erfolgs eine kausale und objektiv zurechenbare Beziehung besteht. Die Anforderungen an die Garantenstellung werden in der Rechtsprechung differenziert nach Beschützergaranten (Schutzpflicht für bestimmte Rechtsgüter) und Überwachungsgaranten (Sicherung gegen Gefahren aus bestimmten Verantwortungsbereichen).

Wie ist die Versuchsstrafbarkeit im Tatstrafrecht geregelt?

Im Tatstrafrecht ist der Versuch einer Straftat unter bestimmten Bedingungen strafbar. Nach § 23 Abs. 1 StGB ist der Versuch grundsätzlich bei Verbrechen immer, bei Vergehen nur dann strafbar, wenn das Gesetz dies ausdrücklich anordnet. Der Versuch setzt voraus, dass der Täter nach seiner Vorstellung von der Tat zur Verwirklichung des Tatbestandes unmittelbar ansetzt (§ 22 StGB). Die Strafbarkeit beginnt daher bei einem Verhalten, das nach der Tätervorstellung ohne wesentliche Zwischenschritte zur Tatbestandsverwirklichung führen kann. Der Versuch unterteilt sich in den unbeendeten und beendeten Versuch, die jeweils unterschiedliche strafrechtliche Folgen haben können – beispielsweise unterschiedliche Voraussetzungen für den strafbefreienden Rücktritt (§ 24 StGB). Der Versuch unterliegt meist einer Strafrahmenmilderung gegenüber der Vollendung, kann aber in besonders schweren Fällen auch gleichwertig bestraft werden.