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Tatmehrheit


Begriff und Definition der Tatmehrheit

Tatmehrheit ist ein zentraler Begriff im Strafrecht und bezeichnet die gleichzeitige Verfolgung mehrerer rechtlich selbständiger Straftaten, die durch einen Täter in mehreren voneinander getrennten Handlungen begangen wurden. In Deutschland ist die Tatmehrheit im Strafgesetzbuch (StGB) unter § 53 geregelt. Die rechtliche Abgrenzung erfolgt dabei insbesondere zum Begriff der Idealkonkurrenz beziehungsweise Tateinheit gemäß § 52 StGB. Die Unterscheidung zwischen diesen Konkurrenzformen hat unmittelbaren Einfluss auf die Strafzumessung und die spätere Strafvollstreckung.

Tatmehrheit liegt immer dann vor, wenn ein Täter durch mehrere voneinander getrennte Handlungen verschiedene Straftatbestände verwirklicht. Es handelt sich also um mehrere voneinander unabhängige Taten. Jede einzelne Tat steht für sich und weist einen eigenen Unrechts- und Schuldgehalt auf. Demzufolge wird für jede Tat eine eigene Einzelstrafe festgesetzt. Erst im nächsten Schritt entscheidet das Gericht, nach welchen Regeln diese Strafen zusammengezogen werden.


Abgrenzung: Tatmehrheit gegenüber Tateinheit

Abgrenzungskriterien

Die Abgrenzung zwischen Tatmehrheit (§ 53 StGB) und Tateinheit (§ 52 StGB) stellt ein zentrales Problem der Strafrechtsdogmatik dar. Während bei der Tatmehrheit mehrere Handlungen, also jeweils gesonderte strafbare Akte, vorliegen, ist bei der Tateinheit eine Handlung gegeben, durch die mehrere Straftatbestände gleichzeitig verletzt werden.

Mehrere Handlungen

Tatmehrheit erfordert, dass zwischen den einzelnen Taten ein trennbares Geschehen und ein selbständiger Willensentschluss vorliegt. Das bedeutet, dass jede im Rahmen der Tatmehrheit verfolgte Tat einen gesonderten Angriff auf die Rechtsordnung darstellt.

Einzelhandlung versus Gesamtgeschehen

Im Unterschied dazu steht bei der Tateinheit eine einzige Handlung im Vordergrund, die mehrere Strafgesetze gleichzeitig verletzt. Dies ist etwa dann der Fall, wenn ein Täter durch eine Handlung sowohl einen Diebstahl als auch eine Sachbeschädigung begeht.


Rechtsfolgen der Tatmehrheit

Bildung der Gesamtstrafe

Die entscheidende Rechtsfolge der Tatmehrheit besteht darin, dass für jede einzelne Tat zunächst eine eigene Einzelstrafe festgelegt wird. Anschließend bildet das Gericht nach § 54 StGB durch Beschluss eine Gesamtstrafe. Diese erfolgt nach dem sogenannten „Asperationsprinzip“: Die höchste Einzelstrafe wird bestehen gelassen und die weiteren Strafen werden teilweise hinzugefügt (meist als ein Strafzuschlag, der jedoch die Summe der Einzelstrafen nicht erreichen darf).

Strafrahmen

Die Gesamtstrafe darf die Summe der Einzelstrafen nicht überschreiten. Ebenso darf sie das gesetzliche Höchstmaß der betreffenden Strafart (z.B. Freiheitsstrafe) nicht übersteigen. Die Mindeststrafe ergibt sich aus der höchsten Einzelstrafe.

Besondere Bedeutung bei Strafen unterschiedlicher Art

Haben die Einzelstrafen unterschiedliche Arten (etwa Geldstrafe und Freiheitsstrafe), ist grundsätzlich die schwerste Strafart Grundlage der Gesamtstrafenbildung. In der strafrechtlichen Praxis ist damit in der Tatmehrheit typischerweise die Gesamtfreiheitsstrafe der Regelfall.


Anwendungsbeispiele und Fallgruppen

Klassische Fallgruppen

  • Mehrfache Diebstähle an unterschiedlichen Tagen
  • Ein Einbruchdiebstahl und eine eigenständige Körperverletzung
  • Betrugshandlungen an mehreren, zeitlich und räumlich getrennten Geschädigten

Mehrere Delikte innerhalb einer natürlichen Handlungseinheit

Bei sogenannten natürlichen Handlungseinheiten (z. B. eine einheitlich durchgeführte Schlägerei mit mehreren Körperverletzungen) liegt keine Tatmehrheit, sondern Tateinheit vor, auch wenn mehrere strafbare Folgen eintreten.


Prozessuale Besonderheiten

Gesamtstrafenbildung nach mehreren Verurteilungen

Nach § 55 StGB ist es möglich, aus mehreren bereits rechtskräftigen Urteilen (sogenannte nachträgliche Gesamtstrafenbildung) eine Gesamtstrafe zu bilden, sofern die Voraussetzungen der Tatmehrheit erfüllt sind und die Taten zeitlich vor der ersten Verurteilung liegen.

Vollstreckungsrechtliche Fragen

Besondere Relevanz gewinnt die Unterscheidung der Tatmehrheit für die Vollstreckung der Strafe, insbesondere beim Maßregelvollzug und der Verhängung von Bewährungsstrafen. Ebenso kann es Auswirkungen auf die Strafaussetzung zur Bewährung und auf die Anrechnung von Untersuchungshaft geben.


Internationale Aspekte

Die Regelungen zur Tatmehrheit sind im deutschen Recht vergleichsweise streng und systematisch kodifiziert. In anderen Rechtsordnungen, wie etwa dem anglo-amerikanischen Recht, gibt es mitunter keine formale Unterscheidung zwischen Tatmehrheit und Tateinheit. Vielmehr entscheidet der Richter anhand allgemeiner Billigkeitserwägungen über die Zusammenfassung oder Trennung von Strafen.


Bedeutung der Tatmehrheit im Rechtsalltag

Die korrekte Anwendung und Auslegung des Begriffs Tatmehrheit hat erheblichen Einfluss auf das Ergebnis eines Strafverfahrens. Sie bestimmt maßgeblich die Strafhöhe und die Frage, ob Gesamtstrafe oder mehrere Einzelstrafen zu vollstrecken sind. Ebenso ist sie Grundlage zahlreicher Entscheidungen des Bundesgerichtshofs. Besonders relevant ist sie in der Praxis der Strafzumessung, bei der nachträglichen Bildung von Gesamtstrafen, aber auch im kriminalpolitischen Diskurs zur Generalprävention.


Literatur und Weiterführende Hinweise

Das Verständnis und die rechtliche Behandlung der Tatmehrheit sind Gegenstand zahlreicher Lehr- und Kommentarliteratur im Strafrecht. Besonders bedeutsam sind Standardwerke zum Allgemeinen Teil des Strafrechts sowie einschlägige Entscheidungen des Bundesgerichtshofs, die regelmäßig die dogmatische Abgrenzung und Anwendungsfälle der Tatmehrheit präzisieren.


Fazit

Tatmehrheit ist ein zentrales Institut des deutschen Strafrechts und regelt den Umgang mit mehreren durch denselben Täter in verschiedenen Handlungen begangenen Straftaten. Die differenzierte rechtliche Behandlung beeinflusst maßgeblich das Strafmaß und die Art der Strafvollstreckung. Die richtige Abgrenzung zur Tateinheit und die damit einhergehende Anwendung der gesetzlichen Regelungen sind für die gerichtliche Strafzumessung, das weitere Verfahren und die spätere Vollstreckung der Strafe von fundamentaler Bedeutung.

Häufig gestellte Fragen

Welche rechtlichen Voraussetzungen müssen bei der Tatmehrheit erfüllt sein?

Bei der Tatmehrheit (sog. Realkonkurrenz) müssen mehrere, rechtlich selbstständige Handlungen vorliegen, die jeweils den Tatbestand einer oder mehrerer Strafnormen erfüllen, ohne dass eine Handlung bereits durch eine andere konsumiert wird oder in Tatbestandseinheit steht. Entscheidend ist, dass zwischen den einzelnen Handlungen keine natürliche Handlungseinheit oder eine Bewertungseinheit existiert. Die Abgrenzung zur Tateinheit, bei der mehrere Strafgesetze durch eine Handlung oder mehrere gleichzeitige Handlungen verwirklicht werden, ist dabei von zentraler Bedeutung. Es kommt auf eine einzelne, in sich abgeschlossene Tathandlung an, bei der keine synonymen Tatbestandsmerkmale erfüllt werden. Juristisch gesehen erfordert die Tatmehrheit daher, dass mehrere unabhängig voneinander abgrenzbare Unrechtsakte gegeben sind, die je für sich eigenständig strafbar sind und keinem Gesamtakt zugeordnet werden können.

Wie erfolgt die Strafzumessung im Falle von Tatmehrheit?

Die Strafzumessung bei Tatmehrheit richtet sich nach dem für diese Konstellation vorgesehenen Kumulationsprinzip gemäß § 53 StGB. Das Gericht erkennt für jede Einzeltat eine gesonderte Strafe, bestimmt jedoch aus diesen Einzelstrafen eine Gesamtstrafe, sogenannte Gesamtfreiheitsstrafe oder Gesamtgeldstrafe, wobei die bei der Gesamtstrafenbildung gemäß § 54 StGB anzuwendenden Vergünstigungen (z. B. Bildung aus mehreren Einzelstrafen unter Anwendung des Asperationsprinzips) greifen. Die Strafen dürfen dabei insgesamt nicht die Summe der Einzelstrafen übersteigen und müssen sich stets innerhalb der gesetzlichen Strafrahmen bewegen. Eine Ausnahme gilt, wenn zwingende Gründe vorliegen, einzelstrafenbezogene Erschwerungs- oder Milderungsgründe zu berücksichtigen.

Wie grenzt sich die Tatmehrheit von der Tateinheit ab?

Die Abgrenzung erfolgt anhand der jeweiligen Handlungseinheit beziehungsweise -mehrheit. Liegt eine Tatmehrheit vor, so handelt es sich um isolierte, zeitlich und sachlich getrennte Handlungen mit jeweils selbstständigem Schaden beziehungsweise Angriff auf das geschützte Rechtsgut. Die Tateinheit liegt vor, wenn durch eine Handlung mehrere Strafgesetze gleichzeitig oder dasselbe Strafgesetz mehrfach verletzt wird. Klassischerweise wird zur Unterscheidung auf die Unrechts- und Schuldvorwürfe sowie auf die natürliche Handlungseinheit abgestellt. Relevante Kriterien sind unter anderem der zeitliche und räumliche Zusammenhang und die innere Verknüpfung der Einzelakte.

Wie wirkt sich die Tatmehrheit auf Nebenfolgen wie z. B. Fahrverbot oder Einziehung aus?

Bei Tatmehrheit werden Nebenfolgen grundsätzlich für jede einzelne abgeurteilte Tat geprüft und können für jede einzelne Tat angeordnet werden. Im Rahmen der Gesamtstrafenbildung nach § 54 StGB werden jedoch bestimmte Nebenfolgen, wie das Verhängen eines Fahrverbots oder die Einziehung von Tatmitteln, oftmals nur einmalig verhängt, sofern sie tatübergreifend wirken können. Auch hier kommt es maßgeblich auf die Tatumstände und den Zusammenhang der einzelnen Taten an, da jede Nebenfolge eigenständig begründet werden muss, sofern sie auf unterschiedliche Taten zurückzuführen ist.

Welche Auswirkungen hat die Tatmehrheit auf das Strafverfahren und die Anklageerhebung?

Im Rahmen des Strafverfahrens führt das Vorliegen von Tatmehrheit dazu, dass jede einzelne Straftat in der Anklageschrift auszuweisen und zu individualisieren ist. Die Anklage muss jeden Einzeltatbestand und die dazugehörigen Handlungen exakt wiedergeben und voneinander trennen, um eine klare Abgrenzung der jeweiligen Strafvorwürfe zu ermöglichen. Im Urteil muss das Gericht jede Handlung und deren rechtliche Bewertung gesondert feststellen und sodann die verhängten Einzelstrafen sowie die gebildete Gesamtstrafe ausdrücklich benennen. Verfahrensrechtlich ist damit ein gesteigerter Begründungsaufwand und eine erhöhte Sorgfalt bei der Aufnahme und Bewertung des Tatgeschehens verbunden.

Welche Bedeutung hat das sogenannte Asperationsprinzip bei der Gesamtstrafenbildung im Falle von Tatmehrheit?

Das Asperationsprinzip regelt im Kontext der Tatmehrheit, dass die gebildete Gesamtstrafe im Regelfall über der höchsten Einzelstrafe liegt, diese aber nicht um die Summe aller weiteren Einzelstrafen erhöht werden darf. Die Gesamtstrafe wird also unter angemessener Berücksichtigung des Gesamt-Unrechts aller abgeurteilten Taten bestimmt, jedoch so, dass der Schuldausgleich in einer das Übermaß vermeidenden Weise erfolgt. Die genaue Anwendung liegt im Ermessen des Gerichts, das alle schuldrelevanten Gesichtspunkte zu berücksichtigen hat (etwa Tatausführung, Nachtatverhalten, Vorleben des Täters).

Können nachträglich abgeurteilte Taten noch zu einer bestehenden Gesamtstrafe hinzuaddiert werden?

Nach § 55 StGB ist es möglich, neu abgeurteilte Taten in eine bereits ausgeurteilte Gesamtstrafe einzubeziehen, sofern die neue Tat vor der ersten Verurteilung begangen wurde und somit im Rahmen der kumulativen Verurteilung hätte berücksichtigt werden können. In diesem Fall wird eine nachträgliche Gesamtstrafe gebildet, wobei die bisherigen Rechtsfolgen, insbesondere bereits vollstreckte Strafen, angerechnet werden. Dieses Vorgehen dient der gleichmäßigen Sanktionierung und verhindert eine übermäßige Bestrafung desselben Täters für Tatmehrheit, die aus prozessualen Gründen getrennt abgeurteilt worden ist.