Tatmehrheit: Bedeutung, Abgrenzung und Rechtsfolgen
Tatmehrheit bezeichnet das gleichzeitige Vorliegen mehrerer rechtlich selbstständiger Straftaten, die durch mehrere voneinander unabhängige Handlungen begangen wurden. Jede einzelne Tat ist für sich vollendet und wird gesondert bewertet. Im Urteil führt dies zu mehreren Einzelstrafen, die anschließend zu einer Gesamtstrafe zusammengeführt werden, soweit die gesetzlichen Voraussetzungen dafür vorliegen.
Kerngedanke der Tatmehrheit
Der Kern der Tatmehrheit ist die Mehrzahl eigenständiger Handlungen: Wer zu unterschiedlichen Gelegenheiten mehrere Delikte verwirklicht, steht in Tatmehrheit. Die rechtliche Beurteilung knüpft an die Selbstständigkeit der Handlungen an, nicht allein an die Anzahl verletzter Vorschriften.
Abgrenzung zu Tateinheit
Die Abgrenzung zur Tateinheit ist zentral, weil sie die Strafzumessung beeinflusst.
Selbstständige Handlungen (Tatmehrheit)
- Mehrere Handlungen, zeitlich oder situativ voneinander getrennt.
- Jede Handlung erfüllt einen eigenen Straftatbestand.
- Folge: Mehrere Einzelstrafen, regelmäßige Bildung einer Gesamtstrafe.
Eine Handlung, mehrere Delikte (Tateinheit)
- Eine Handlung verwirklicht gleichzeitig mehrere Straftatbestände.
- Folge: Eine Einzelstrafe, die alle betroffenen Tatbestände abdeckt.
Typische Konstellationen
- Mehrere Diebstähle an unterschiedlichen Tagen.
- Abfolge verschiedener Betrugshandlungen mit jeweils neuer Täuschung.
- Mehrere Körperverletzungen gegen verschiedene Personen in verschiedenen Situationen.
Konkurrenzregeln: Einordnung der Tatmehrheit
Die Konkurrenzlehre ordnet mehrere in Betracht kommende Straftaten zueinander. Sie entscheidet, ob und wie Strafen nebeneinander bestehen (Tatmehrheit), in einer Handlung zusammenfallen (Tateinheit) oder ob bestimmte Delikte zurücktreten.
Konkurrenzlehre im Überblick
- Tatmehrheit: Mehrere Handlungen, mehrere Taten, mehrere Einzelstrafen mit anschließender Gesamtstrafe.
- Tateinheit: Eine Handlung, mehrere Delikte, eine Einzelstrafe.
- Gesetzeseinheit: Ein Delikt „verbraucht“ ein anderes (Verdrängung), sodass nur eines bestraft wird.
Gesetzeseinheit und mitbestrafte Begleitdelikte
Manche Vor- oder Nachtaten werden nicht gesondert bestraft, weil sie als notwendige Begleiterscheinung eines schwereren Delikts gelten. In solchen Fällen liegt keine Tatmehrheit vor, da die Begleithandlungen straflos mit erfasst sind. Dies setzt jedoch voraus, dass die Begleithandlung im Unrechtsgehalt vollständig vom Hauptdelikt abgedeckt ist.
Bildung der Gesamtstrafe bei Tatmehrheit
Liegt Tatmehrheit vor, werden zunächst für jede Tat Einzelstrafen festgesetzt. Anschließend bildet das Gericht eine Gesamtstrafe nach dem sogenannten Additions- bzw. Erhöhungsprinzip, oft als Asperationsprinzip beschrieben.
Grundprinzipien der Gesamtstrafenbildung
- Ausgangspunkt ist die höchste Einzelstrafe (Einsatzstrafe).
- Diese wird durch angemessene Zuschläge für die weiteren Taten erhöht.
- Die Gesamtstrafe muss die Gesamtverantwortung für alle Taten abbilden, ohne die Schwere der Einzelstrafen zu verdoppeln.
Arten von Strafen und Kombinationen
- Mehrere Freiheitsstrafen werden zu einer Gesamtfreiheitsstrafe zusammengezogen.
- Mehrere Geldstrafen werden zu einer Gesamtgeldstrafe zusammengefasst.
- Verschiedene Strafarten (Freiheits- und Geldstrafe) werden grundsätzlich nicht zu einer einheitlichen Gesamtstrafe verbunden, sondern nebeneinander verhängt.
Grenzen der Gesamtstrafe
- Die Gesamtstrafe darf die Summe der Einzelstrafen nicht überschreiten.
- Gesetzliche Höchstgrenzen der jeweiligen Strafart sind zu beachten.
- Die Gesamtstrafe muss schuldangemessen sein und das Gesamtunrecht zutreffend abbilden.
Zäsurwirkung und nachträgliche Gesamtstrafe
Der erste rechtskräftige Strafausspruch setzt regelmäßig eine zeitliche Zäsur. Taten, die vor dieser Zäsur begangen wurden, können grundsätzlich zusammengezogen werden. Taten, die danach begangen werden, fallen nicht mehr in dieselbe Gesamtstrafe. Wird eine weitere Tat entdeckt, die vor der Zäsur begangen wurde, kommt eine nachträgliche Gesamtstrafenbildung in Betracht, um eine einheitliche Ahndung zu gewährleisten.
Besonderheiten im Verfahren und im Urteil
Schuldsprüche und Tenor
Bei Tatmehrheit enthält das Urteil mehrere Schuldsprüche, die jeweils einer selbstständigen Tat zugeordnet sind. Die Begründung muss die selbstständigen Handlungen und ihre Abgrenzung nachvollziehbar darstellen.
Strafzumessung bei Tatmehrheit
Das Gericht bewertet das Gesamtgeschehen: Anzahl der Taten, zeitlicher Abstand, Intensität, Gleichartigkeit oder Verschiedenartigkeit der Delikte und persönliche Verhältnisse. Die Erhöhung zur Gesamtstrafe darf nicht schematisch erfolgen, sondern erfordert eine Gesamtwürdigung.
Nebenfolgen und Maßnahmen
Nebenfolgen (z. B. Fahrverbot, Entziehung einer Erlaubnis) und Maßnahmen (z. B. Unterbringung, Einziehung von Taterträgen) werden eigenständig geprüft. Tatmehrheit kann die Anordnung beeinflussen, etwa durch kumulative Betrachtung des Gesamtunrechts.
Abgrenzungsfragen in der Praxis
Natürliche Handlungseinheit
Mehrere Teilakte können als eine natürliche Handlungseinheit gelten, wenn sie räumlich-zeitlich eng verbunden sind und auf einem einheitlichen Willensentschluss beruhen. Dann liegt keine Tatmehrheit vor, sondern eine einheitliche Tat.
Tatbestandliche Handlungseinheit
Einige Delikte sind bereits nach ihrem gesetzlichen Zuschnitt als Einheit angelegt (etwa bei Delikten, die erst durch mehrere gleichgelagerte Teilakte vollendet sind). Auch hier entfällt Tatmehrheit.
Dauerdelikte und Mehrfachbegehung
Bei Delikten, die über einen gewissen Zeitraum andauern, bildet der gesamte Zeitraum grundsätzlich eine Tat. Kommen jedoch voneinander getrennte, neue Verletzungshandlungen hinzu, kann Tatmehrheit entstehen.
Mehrfache Opfer und mehrere Rechtsgüter
Wer mehrere Personen in separaten Akten verletzt, verwirklicht in der Regel Tatmehrheit. Die Anzahl der betroffenen Rechtsgüter und die Selbstständigkeit der Angriffe sprechen für getrennte Taten.
Verhältnis zur prozessualen Tat
Der prozessuale Tatbegriff (für Anklage, Umfang der Rechtskraft und das Verbot der Doppelbestrafung) ist nicht deckungsgleich mit der materiellen Tatmehrheit. Möglich ist, dass prozessual eine einheitliche Tat vorliegt, materiell-rechtlich jedoch mehrere Taten zu bewerten sind, oder umgekehrt. Die Einordnung beeinflusst den Umfang des Verfahrens und die Verknüpfung von Entscheidungen, ändert aber nichts an den materiellen Regeln zur Gesamtstrafe.
Häufige Irrtümer
- Viele Delikte bedeuten nicht automatisch viele Taten: Entscheidend ist die Zahl selbstständiger Handlungen.
- Eine einheitliche Planung führt nicht zwingend zur Einheitstat; maßgeblich bleibt die tatsächliche Ausführung in getrennten Akten.
- Gesamtstrafe ist keine bloße Summe aller Einzelstrafen; sie wird nach Erhöhungsgrundsätzen gebildet und begrenzt.
Häufig gestellte Fragen
Was genau ist unter Tatmehrheit zu verstehen?
Tatmehrheit liegt vor, wenn mehrere selbstständige Handlungen jeweils eigene Straftaten verwirklichen. Jede Tat wird mit einer eigenen Einzelstrafe belegt; anschließend wird in der Regel eine Gesamtstrafe gebildet.
Worin unterscheidet sich Tatmehrheit von Tateinheit?
Bei Tatmehrheit gibt es mehrere Handlungen und mehrere Taten. Bei Tateinheit liegt eine Handlung vor, die mehrere Delikte verwirklicht. Das hat Folgen für die Anzahl der Einzelstrafen und die Art der Strafbildung.
Wie wird die Gesamtstrafe bei Tatmehrheit gebildet?
Ausgangspunkt ist die höchste Einzelstrafe, die durch Zuschläge für die weiteren Taten erhöht wird. Die Gesamtstrafe darf die Summe der Einzelstrafen und die gesetzlichen Obergrenzen nicht überschreiten und muss schuldangemessen sein.
Was bedeutet Zäsurwirkung und wann kommt eine nachträgliche Gesamtstrafe in Betracht?
Die erste rechtskräftige Entscheidung setzt eine zeitliche Zäsur. Taten vor dieser Zäsur können zusammengezogen werden. Wird eine weitere vor der Zäsur begangene Tat erst später abgeurteilt, kann eine nachträgliche Gesamtstrafe gebildet werden.
Werden Geldstrafen und Freiheitsstrafen zusammen zu einer Gesamtstrafe verbunden?
Nein. Gesamtstrafen werden innerhalb gleicher Strafarten gebildet. Mehrere Freiheitsstrafen werden zu einer Gesamtfreiheitsstrafe, mehrere Geldstrafen zu einer Gesamtgeldstrafe zusammengezogen. Verschiedene Strafarten stehen nebeneinander.
Welche Rolle spielt die natürliche und die tatbestandliche Handlungseinheit?
Fassen mehrere Teilakte eine einzige Tat zusammen, entfällt Tatmehrheit. Das kann sich aus einer engen räumlich-zeitlichen Verbindung (natürliche Einheit) oder aus der Struktur des Deliktstyps (tatbestandliche Einheit) ergeben.
Hat Tatmehrheit Auswirkungen auf Nebenfolgen und Maßnahmen?
Ja. Nebenfolgen und Maßnahmen werden unter Berücksichtigung des Gesamtgeschehens geprüft. Die Mehrzahl eigenständiger Taten kann die Begründung und Intensität solcher Rechtsfolgen beeinflussen.
Gibt es im Jugendstrafrecht Besonderheiten?
Ja. Im Jugendstrafrecht gelten eigene Grundsätze zur Einordnung und zur Bildung einer einheitlichen Reaktion. Die Systematik unterscheidet sich von den Regeln zur Gesamtstrafe im allgemeinen Strafrecht.