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Tatherrschaft


Begriff und Bedeutung der Tatherrschaft

Der Terminus Tatherrschaft ist ein zentrales Konzept im deutschen Strafrecht, das maßgeblich zur Abgrenzung verschiedener Beteiligungsformen an einer Straftat dient. Es bezeichnet diejenige Stellung, bei der eine Person das Geschehen einer Straftat nach ihrem Willen lenken oder stoppen kann, also die Handlung „in den Händen hält“. Die Tatherrschaft bildet das zentrale Kriterium zur Unterscheidung des Täters vom Teilnehmer (§§ 25 ff. Strafgesetzbuch, StGB).


Historische Entwicklung der Tatherrschaftslehre

Entstehung und Entwicklung

Das Konzept der Tatherrschaft wurde im Rahmen der klassischen Täterschafts-Teilnahme-Lehre von Reinhard Frank und insbesondere durch Hans Welzel im 20. Jahrhundert geprägt. Die Lehre entwickelte sich als Gegenentwurf zum rein normativen Täterbegriff und stellt auf die tatsächliche Beherrschung des Tatgeschehens ab. Hierdurch wurde das Strafrecht von formalen Kriterien befreit und auf die materielle Verantwortlichkeit ausgerichtet.


Systematische Einordnung im Strafrecht

Abgrenzung: Täterschaft und Teilnahme

Im deutschen Strafrecht sind die Beteiligungsformen an einer Straftat grundsätzlich in Täterschaft und Teilnahme unterteilt. Die Tatherrschaft ist dabei das maßgebliche Merkmal der Täterschaft. Teilnehmer hingegen wirken unterstützend, können aber das Geschehen nicht eigenständig beherrschen oder steuern.

Unterteilt werden die Täterschaftsformen nach § 25 StGB:

  • Alleintäterschaft (§ 25 Abs. 1 Alt. 1 StGB): Der Täter verwirklicht die Straftat eigenhändig.
  • Mittäterschaft (§ 25 Abs. 2 StGB): Mehrere handeln gemeinschaftlich, jeder ist Tatherr, indem er einen wesentlichen Tatbeitrag leistet.
  • Mittelbare Täterschaft (§ 25 Abs. 1 Alt. 2 StGB): Der Täter veranlasst einen anderen, der als „Tatwerkzeug“ (ohne eigene Tatherrschaft) handelt.

Teilnahmeformen (Anstiftung und Beihilfe) werden in §§ 26 und 27 StGB geregelt und zeichnen sich gerade dadurch aus, dass dem Teilnehmer die Tatherrschaft fehlt.


Die Tatherrschaft im Einzelnen

Merkmale der Tatherrschaft

Die Tatherrschaft kennzeichnet das „In-den-Händen-halten“ des Tatablaufs und lässt sich durch objektive und subjektive Komponenten beschreiben:

  • Objektive Tatherrschaft: Faktische Macht, das Geschehen kausal zu beherrschen, also Beginn, Ablauf und Beendigung der tatbestandsmäßigen Handlung bestimmen zu können.
  • Subjektive Komponente: Der Wille zur Tatausführung als „Herr des Geschehens“ (animus auctoris), abgegrenzt zum bloßen Unterstützungswillen des Teilnehmers (animus socii).

Abgrenzungskriterien

Die Abgrenzung zwischen Täterschaft und Teilnahme mittels des Tatherrschaftskriteriums erfolgt anhand mehrerer Bewertungsfaktoren. Zentrale Kriterien sind:

  • Wesentlicher Tatbeitrag: Nur wer einen erheblichen Beitrag zum Gelingen der Tat leistet, kann Tatherr sein.
  • Tatplanung und -durchführung: Beteiligung an der Ausführung, Planung und Organisation der Tat spricht für Tatherrschaft.
  • Risikoverteilung: Wer wesentliche Risiken trägt und Verantwortung für das Tatgeschehen übernimmt, besitzt regelmäßig Tatherrschaft.
  • Beherrschbarkeit des Tatgeschehens: Die Kontrolle über relevante Tatphasen wird als maßgebliches Indiz angesehen.

Tatherrschaft in den verschiedenen Täterschaftsformen

Alleintäterschaft

Der Alleintäter vollendet die Tat eigenhändig und hat infolgedessen die uneingeschränkte Tatherrschaft über das Geschehen.

Mittäterschaft

Hier liegt die Tatherrschaft gemeinschaftlich bei mehreren Personen. Gemäß § 25 Abs. 2 StGB ist eine Mittäterschaft dann gegeben, wenn die Beteiligten aufgrund eines gemeinschaftlichen Tatplans arbeitsteilig zusammenwirken und jeder mit einem eigenständigen, wesentlichen Beitrag das Geschehen beherrscht. Die Zurechnung von Tatbeiträgen erfolgt wechselseitig im Rahmen des „Prinzip der funktionellen Tatherrschaft“.

Mittelbare Täterschaft

Im Fall der mittelbaren Täterschaft handelt der Täter „hinter dem Täter“. Der Vordermann (Tatmittler) begeht die Tat zwar unmittelbar, ist aber selbst kein Tatherr, da ihm z. B. Vorsatz oder Schuldfähigkeit fehlt oder er einem Irrtum unterliegt. Der Hintermann steuert das Geschehen maßgeblich und ist deshalb Tatherr im Sinne der mittelbaren Täterschaft.


Abgrenzungsprobleme und Sonderprobleme

Abgrenzung Mittäterschaft – Beihilfe

Die praktische Schwierigkeit der Tatherrschaft liegt oftmals in der Abgrenzung bei arbeitsteiligen Beteiligungen, z. B. bei Bandentaten oder Komplizenschaften. Auch scheinbar untergeordnete Unterstützungshandlungen können im Gesamtzusammenhang als wesentliche Tatbeiträge qualifiziert werden. Eine differenzierte Betrachtung des gesamten Tatplans und des jeweils geleisteten Beitrags ist hierbei unverzichtbar.

Suizid und Tatherrschaft

Die Frage der Tatherrschaft ist beispielsweise bei der strafrechtlichen Bewertung von Beihilfe zum Suizid relevant. Wer das Tatgeschehen maßgeblich steuert (z. B. Spritze setzen), wird als Tatherr betrachtet, während unterstützende Handlungen ohne Lenkungsmacht als Teilnahme gelten.

Fahrlässigkeit und Tatherrschaft

Die Tatherrschaftsformel findet grundsätzlich nur bei vorsätzlich begangenen Straftaten Anwendung. Bei fahrlässigen Delikten (§ 15 StGB) ist das Kriterium der Tatherrschaft nicht einschlägig, hier erfolgt die Zurechnung nach anderen Haftungsgrundsätzen.


Rechtsprechung und Literatur

Die Tatherrschaft ist Gegenstand ausführlicher Diskussionen in der Strafrechtsliteratur und wird in der Rechtsprechung regelmäßig zur Entscheidung von Abgrenzungsfragen herangezogen. Das Bundesgerichtshof (BGH) hat die Tatherrschaft als maßgebliches Kriterium anerkannt und in zahlreichen Grundsatzentscheidungen präzisiert.


Internationale Bezüge

Ähnliche Ansätze zur Tatherrschaft existieren im Strafrecht anderer Länder, insbesondere im österreichischen und schweizerischen Strafrecht. Im anglo-amerikanischen Strafrecht wird das Prinzip der „control over the act“ verwendet, das ähnliche Zwecke erfüllt, wenngleich die Systematik der Beteiligungsformen abweicht.


Literaturhinweise

  • Hans Welzel: Das deutsche Strafrecht.
  • Reinhard Frank: System der Strafrechtswissenschaft.
  • Rengier, Strafrecht Allgemeiner Teil.
  • Fischer, Strafgesetzbuch-Kommentar.

Zusammenfassung

Die Tatherrschaft ist ein fundamentales Kriterium zur Abgrenzung der Täterschaft von der Teilnahme im deutschen Strafrecht. Sie bezeichnet die tatsächliche Möglichkeit, das Tatgeschehen nach eigenem Willen zu steuern oder zu beherrschen. Aufgrund ihrer Relevanz für die rechtliche Zurechnung von Straftaten besitzt die Tatherrschaft erhebliche dogmatische und praktische Bedeutung. Die Ausdifferenzierung in Alleintäterschaft, Mittäterschaft und mittelbare Täterschaft beruht maßgeblich auf dieser Kategorie, während Abgrenzungsfragen im Einzelfall stets einer sorgfältigen Analyse des Tatbeitrags und der Risikoverteilung bedürfen.

Häufig gestellte Fragen

Welche Bedeutung hat die Tatherrschaft bei der Abgrenzung zwischen Täterschaft und Teilnahme?

Die Tatherrschaft ist ein zentrales Kriterium zur Unterscheidung von Täterschaft und Teilnahme im deutschen Strafrecht. Sie dient als objektives Abgrenzungsmerkmal, um festzustellen, ob eine Person als Täter oder bloß als Teilnehmer (Anstifter oder Gehilfe) eines strafbaren Geschehens einzustufen ist. Entscheidend ist, ob der jeweilige Beteiligte das „Ob“ und „Wie“ der Tat wesentlichen beeinflussen konnte, also die tatbestandliche Ausführung in seinen Händen hielt. Wer die Tatherrschaft innehat, kann den Geschehensablauf nach seinem Willen lenken und maßgeblich das Schicksal der Vollendung bestimmen. Im Gegensatz dazu fehlt dem Teilnehmer diese gestaltende Einflussmöglichkeit; er wirkt lediglich unterstützend oder anstiftend auf den Haupttäter ein, ohne die Ausführung zu beherrschen.

Wie wird die Tatherrschaft im Rahmen der Mittäterschaft bewertet?

Im Kontext der Mittäterschaft nach § 25 Abs. 2 StGB ist die Tatherrschaft ein wesentliches Zurechnungskriterium. Hierbei kommt es darauf an, dass jeder Mittäter einen für das Gesamtgeschehen wesentlichen Tatbeitrag leistet und auf Grund eines gemeinsamen Tatplans die Tatherrschaft innehat oder zumindest eine solche Mitwirkungsmacht besitzt. Die Tatherrschaft wird bei Mittätern funktional verteilt, das bedeutet, dass ein arbeitsteiliges Zusammenwirken genügt, solange jeder Beteiligte bei seinem Tatbeitrag das Gesamtgeschehen mitgestaltet und lenken kann. Die Tatherrschaft muss sich daher nicht auf jede Einzelhandlung erstrecken, sondern es reicht aus, dass die Beteiligten durch ihre Kooperation als „Herr des Geschehens“ auftreten.

Welche Rolle spielt die Tatherrschaft bei der mittelbaren Täterschaft?

Im Rahmen der mittelbaren Täterschaft nach § 25 Abs. 1 Alt. 2 StGB kommt der Tatherrschaft eine besondere Bedeutung zu. Hier liegt sie nämlich nicht bei der unmittelbaren Ausführungsperson, sondern beim Hintermann, welcher als Tatmittler die Willensherrschaft über den Tatablauf besitzt. Der mittelbare Täter steuert das Geschehen aus dem Hintergrund und benutzt einen anderen – häufig einem Defizit unterliegenden – Menschen als Werkzeug. Charakteristisch ist, dass der Hintermann durch das Wissens- oder Willensdefizit des Tatmittlers diesen nach seinen Vorstellungen lenken kann und damit das Tatgeschehen beherrscht, obwohl er selbst nicht unmittelbar handelt.

Wie grenzt sich die Tatherrschaft von bloßer Teilnahme ab?

Tatherrschaft hebt sich von der Teilnahme insbesondere durch die Einfluss- und Lenkungsmacht über das tatbestandliche Geschehen ab. Der Teilnehmer, sei es als Anstifter (§ 26 StGB) oder Gehilfe (§ 27 StGB), initiiert oder unterstützt lediglich das Haupttatgeschehen, ohne dieses jedoch zu kontrollieren oder zu lenken. Im Unterschied dazu ist der Täter durch seine Herrschaft über die Tat Ausführender oder Bestimmer, während der Teilnehmer weisungsabhängig oder nachgeordnet handelt. Für die strafrechtliche Bewertung ist dies entscheidend, da nur der Täter wegen der Haupttat und der Teilnehmer nur im Rahmen seiner Beteiligungsform zur Verantwortung gezogen wird.

Welche typischen Konstellationen der Tatherrschaft werden in der Praxis unterschieden?

In der Rechtsprechung und Literatur werden verschiedene Ausprägungen der Tatherrschaft unterschieden: Die Ausführungsherrschaft als persönlich-handelnder Täter, die Willensherrschaft bei der mittelbaren Täterschaft, bei der der Täter das Werkzeug nach seinem Willen einsetzt, sowie die funktionelle Tatherrschaft bei mittäterschaftlich begangenen Delikten, in denen Beteiligte arbeitsteilig, jedoch gemeinsam und gleichberechtigt, das Tatgeschehen gestalten. Daneben gibt es die Organisationsherrschaft, die insbesondere bei arbeitsteilig organisierten Gruppen wie Banden oder Unternehmen eine Rolle spielt und bei der die beherrschende Stellung in der Organisationsstruktur zu einer Täterstellung führen kann.

Wie verhält sich das Kriterium der Tatherrschaft zu anderen Abgrenzungstheorien?

Die Tatherrschaftslehre steht den sogenannten subjektiven Abgrenzungstheorien gegenüber, die vor allem auf die Vorstellung, Motivation oder Willensrichtung der Beteiligten abstellen. Während subjektive Ansätze (z.B. Animus-Theorie) auf das Täterbewusstsein oder die Intention fokussieren, zeichnet sich die Tatherrschaftslehre durch ihren objektiven Maßstab aus, der die tatsächliche Einflussnahme in den Mittelpunkt rückt. In der Praxis wird eine Kombination beider Betrachtungsweisen verfolgt, wobei die Tatherrschaft regelmäßig als Hauptkriterium bei der Abgrenzung zwischen Täterschaft und Teilnahme zugrunde gelegt wird.

Welche Bedeutung kommt der Tatherrschaft im Bereich der Unterlassungsdelikte zu?

Auch bei den echten Unterlassungsdelikten (§ 13 StGB) ist die Tatherrschaft von Relevanz, allerdings in einer modifizierten Form: Hier besteht die Ausübung der Tatherrschaft nicht im aktiven Tun, sondern in der Beherrschbarkeit des tatbestandlichen Geschehens durch Unterlassen, aufgrund einer Garantenstellung. Ein Täter ist hier, wer rechtlich dafür einzustehen hat, dass der tatbestandliche Erfolg unterbleibt, und über die faktische Möglichkeit verfügte, diesen zu verhindern. Die Tatherrschaft bei Unterlassungsdelikten äußert sich somit primär in der pflichtwidrigen Nichtverhinderungsmacht.