Tatbestandsirrtum: Bedeutung, Einordnung und Rechtsfolgen
Der Tatbestandsirrtum beschreibt eine Fehlvorstellung über tatsächliche Umstände einer Handlung. Eine Person irrt sich also über Fakten, die nach der rechtlichen Bewertung den Kern des verbotenen Verhaltens ausmachen. Wer sich über solche Umstände irrt, weiß nicht, was er tatsächlich tut oder welche realen Gegebenheiten vorliegen. Das hat maßgebliche Auswirkungen darauf, ob eine Handlung als vorsätzlich begangen gilt.
Systematische Einordnung
Vorsatz und seine Bedeutung
Vorsätzlich handelt, wer alle wesentlichen Umstände des verbotenen Verhaltens kennt und die Handlung will. Der Tatbestandsirrtum setzt genau an dieser Kenntnis an: Fehlt die tatsächliche Vorstellung über ein wesentliches Merkmal, entfällt der Vorsatz. Dadurch verschiebt sich die Prüfung häufig darauf, ob stattdessen eine fahrlässige Begehung in Betracht kommt.
Abgrenzung zu anderen Irrtumsarten
Verbotsirrtum
Beim Verbotsirrtum weiß die handelnde Person, was sie tut, hält es aber fälschlich für erlaubt. Es geht um die Bewertung der rechtlichen Zulässigkeit, nicht um die Tatsachen. Beim Tatbestandsirrtum fehlt hingegen die richtige Vorstellung über die Wirklichkeit.
Fehleinschätzung der rechtlichen Einordnung
Wer die tatsächlichen Umstände zutreffend erfasst, sie aber rechtlich falsch bewertet, irrt nicht über den Tatbestand, sondern über die rechtliche Bewertung. Der Vorsatz bleibt in der Regel unberührt.
Irrtum über Rechtfertigungsgründe (Erlaubnistatbestandsirrtum)
Hier geht es um die irrige Annahme von Tatsachen, die – wenn sie vorlägen – die Handlung erlauben würden (zum Beispiel eine vermeintliche Notwehrlage). Nach verbreitetem Verständnis wird dieser Irrtum in seinen Folgen ähnlich behandelt wie ein Tatbestandsirrtum, weil die Person sich über zugrunde liegende Tatsachen täuscht.
Arten des Tatbestandsirrtums
Irrtum über das Tatobjekt
Die Person verkennt die Identität oder Eigenschaft des Gegenstands, auf den sich die Handlung richtet. Beispielhaft ist die Verwechslung zweier gleich aussehender Objekte. Für die Beurteilung ist entscheidend, ob die Verwechslung ein wesentliches Merkmal betrifft. Ist das betroffene Merkmal identitätsprägend, kann der Vorsatz entfallen.
Irrtum über die Person
Eine Person wird mit einer anderen verwechselt. Ist für den rechtlichen Vorwurf die individuelle Person nicht prägend, bleibt der Vorsatz in der Regel bestehen. Weist die verwechselte Person aber besondere, rechtlich bedeutsame Merkmale auf, kann die Fehlvorstellung den Vorsatz hinsichtlich dieser Merkmale entfallen lassen.
Irrtum über den Kausalverlauf
Die Person stellt sich den Ablauf der Handlung anders vor, als er tatsächlich eintritt. Geringe Abweichungen, die im Rahmen der allgemeinen Lebenserfahrung liegen, schaden dem Vorsatz häufig nicht. Führt die Abweichung jedoch zu einem deutlich anderen Geschehen, kann der Vorsatz entfallen, weil die konkrete Vorstellung der Wirklichkeit nicht entspricht.
Irrtum über qualifizierende Umstände
Manche Umstände verschärfen den Unrechtsgehalt einer Handlung (zum Beispiel besondere Eigenschaften des Tatobjekts oder besondere Einsatzmittel). Irrt sich die Person über das Vorliegen solcher Umstände, fehlt ihr der Vorsatz hinsichtlich dieser Verschärfung. Die Grundhandlung kann dennoch vorsätzlich bleiben, die Verschärfung aber nicht.
Fehlgehen des Angriffs und Zielverwechslung
Trifft eine Handlung ein anderes Ziel als beabsichtigt (Fehlgehen), liegt eine Abweichung zwischen Vorstellung und Wirklichkeit vor. Je nach Konstellation kann der Vorsatz hinsichtlich des tatsächlich betroffenen Ziels fehlen, während er für das anvisierte Ziel bestand. Die genaue Einordnung hängt vom Abstand zwischen vorgestelltem und eingetretenem Geschehen ab.
Rechtsfolgen des Tatbestandsirrtums
Wegfall des Vorsatzes
Der zentrale Effekt: Wer sich über einen wesentlichen Umstand irrt, handelt nicht vorsätzlich. Eine vorsätzliche Begehung scheidet insoweit aus. Dabei ist entscheidend, ob das Fehlverständnis ein Merkmal betrifft, das für den Vorwurf prägend ist.
Bedeutung für Fahrlässigkeit
Fällt der Vorsatz weg, kommt eine fahrlässige Begehung in Betracht, sofern die Sorgfaltspflichten verletzt wurden und ein entsprechender Fahrlässigkeitsvorwurf rechtlich vorgesehen ist. Die Prüfung verlagert sich dann vom Wissen und Wollen auf die Sorgfalt und Vorhersehbarkeit.
Versuch und Rücktritt
Ein Versuch setzt eine auf Verwirklichung des verbotenen Verhaltens gerichtete Absicht voraus. Wer aufgrund eines Tatbestandsirrtums die Wirklichkeit anders sah, kann am tatsächlich eingetretenen Geschehen keinen Versuch begangen haben, sofern der Vorsatz für dieses Geschehen fehlt. Anders kann es sein, wenn sich die Absicht auf das vorgestellte Geschehen richtete und die Person zur Umsetzung angesetzt hat.
Irrtum über normative Merkmale
Parallelwertung in der Laiensphäre
Einige Merkmale sind nicht rein praktisch zu greifen, sondern tragen eine soziale Bedeutung (beispielsweise besondere Eigenschaften eines Gegenstands oder einer Situation, die erst durch eine Wertung greifbar werden). Erforderlich ist dann, dass die handelnde Person die soziale Bedeutung in groben Zügen erfasst. Fehlt auch diese laienhafte Einordnung, liegt ein Tatbestandsirrtum vor.
Abgrenzung zum Bewertungsirrtum
Wer die Tatsachen vollständig erkennt, sie aber in ihrer rechtlichen Tragweite falsch bewertet, irrt nicht über den Tatbestand. Ein Tatbestandsirrtum setzt voraus, dass bereits die tatsächliche Zuschreibung oder die laienhafte Einordnung der Merkmale verfehlt ist.
Beweis- und Abgrenzungsfragen in der Praxis
Feststellung des Irrtums
Ob ein Tatbestandsirrtum vorlag, wird anhand der Vorstellungen der handelnden Person zum Tatzeitpunkt beurteilt. Maßgeblich ist, was sie sich konkret vorgestellt hat. Spätere Erklärungen werden mit dem objektiven Geschehen und weiteren Indizien abgeglichen.
Indizien und objektive Anknüpfungspunkte
Hilfreich sind äußere Umstände, die Rückschlüsse auf die innere Vorstellung erlauben, etwa die Vorbereitung, die Wahl der Mittel oder Äußerungen. Auch der Ablauf und die erkennbaren Ziele der Handlung können die Annahme eines Irrtums stützen oder erschüttern.
Grenzen zwischen Wahrnehmungsfehler und rechtlicher Fehleinschätzung
Ein bloßer Wahrnehmungsfehler (zum Beispiel schlechte Sicht) kann einen Tatbestandsirrtum begründen, wenn dadurch wesentliche Umstände verkannt werden. Wer hingegen alles richtig wahrnimmt, aber den rechtlichen Gehalt falsch würdigt, irrt nicht über den Tatbestand.
Sonderkonstellationen
Irrtum über Rechtfertigungslagen
Wer irrtümlich Tatsachen annimmt, die eine Handlung rechtfertigen würden, täuscht sich über die Wirklichkeit einer Rechtfertigungslage. In der Folge wird der Vorsatz häufig verneint, weil die Person aufgrund des Irrtums das Unrecht der Tatbestandsverwirklichung nicht erkennt. Ob daneben eine Fahrlässigkeit vorliegt, richtet sich nach den allgemeinen Regeln zu Sorgfaltspflichten.
Irrtum bei Mittäterschaft und Teilnahme
Bei mehreren Beteiligten stellt sich die Frage, ob sich der Irrtum einer Person auf die anderen auswirkt. Grundsätzlich bleibt der Irrtum individuell: Wer irrt, dem fehlt der Vorsatz hinsichtlich der Umstände, über die er sich täuscht. Für andere Beteiligte kommt es auf deren eigene Vorstellungen an. Irren sich einzelne über qualifizierende Umstände, kann das nur ihre eigene Verantwortung betreffen.
Irrtum bei qualifizierten oder erschwerenden Umständen
Kennt die Person verschärfende Umstände nicht, fehlt ihr der Vorsatz insoweit. Die Grundhandlung kann vorsätzlich bleiben, während die Verschärfung nicht greift. Für die rechtliche Bewertung wird daher oft getrennt geprüft, ob die Basis und ob die erschwerenden Merkmale vorsätzlich erfasst wurden.
Historische und dogmatische Einordnung
Die Behandlung des Tatbestandsirrtums folgt dem Grundgedanken, dass nur vorsätzlich handeln kann, wer die tatsächlichen Umstände seines Tuns zutreffend erfasst. Diese Verbindung von innerer Vorstellung und äußerem Geschehen ist ein Kernprinzip des Schuldvorwurfs. Daraus erklärt sich, weshalb Irrtümer über die Wirklichkeit den Vorsatz entfallen lassen, während reine Bewertungsfehler den Vorsatz meist unberührt lassen.
Häufig gestellte Fragen
Was bedeutet Tatbestandsirrtum?
Der Tatbestandsirrtum ist eine Fehlvorstellung über tatsächliche Umstände der Handlung. Die Person verkennt wesentliche Merkmale des Geschehens. Dadurch fehlt ihr die bewusste Erfassung dessen, was sie in Wirklichkeit tut.
Welche Folgen hat ein Tatbestandsirrtum für den Vorsatz?
Ein Tatbestandsirrtum lässt den Vorsatz entfallen, soweit er sich auf die verkannten Merkmale bezieht. Die Handlung ist dann insoweit nicht vorsätzlich begangen.
Worin liegt der Unterschied zwischen Tatbestandsirrtum und Verbotsirrtum?
Beim Tatbestandsirrtum irrt die Person über Tatsachen. Beim Verbotsirrtum kennt sie die Tatsachen, hält das Verhalten aber irrtümlich für erlaubt. Nur ersterer betrifft die tatsächliche Ebene, letzterer die Bewertungsebene.
Spielt es eine Rolle, ob der Irrtum vermeidbar war?
Für den Wegfall des Vorsatzes spielt die Vermeidbarkeit keine Rolle. Sie kann jedoch Bedeutung dafür haben, ob eine fahrlässige Begehung vorliegt, da es dort auf Sorgfaltspflichten und Vorhersehbarkeit ankommt.
Wie wird ein Irrtum über normative Merkmale behandelt?
Erforderlich ist, dass die Person die soziale Bedeutung eines Merkmals laienhaft zutreffend erfasst. Fehlt diese laienhafte Einordnung, liegt ein Tatbestandsirrtum vor, der den Vorsatz entfallen lassen kann.
Welche Bedeutung hat der Tatbestandsirrtum beim Versuch?
Ein Versuch setzt eine auf das verbotene Verhalten gerichtete Absicht voraus. Fehlt aufgrund eines Tatbestandsirrtums der Vorsatz hinsichtlich des tatsächlich eingetretenen Geschehens, kann ein Versuch insoweit ausscheiden. Maßgeblich ist die Vorstellung der Person beim Ansetzen zur Tat.
Was gilt bei Irrtümern über den Kausalverlauf?
Geringfügige Abweichungen, die im Rahmen der Lebenserfahrung liegen, lassen den Vorsatz meist unberührt. Führen deutliche Abweichungen zu einem anderen Geschehen, kann der Vorsatz entfallen, weil die konkrete Vorstellung nicht mit der Wirklichkeit übereinstimmt.
Wie wird ein Tatbestandsirrtum bei mehreren Beteiligten bewertet?
Der Irrtum ist grundsätzlich persönlich. Wer irrt, dem fehlt der Vorsatz bezüglich der verkannten Umstände. Für andere Beteiligte kommt es auf deren eigene Vorstellungen an; eine automatische Übertragung findet nicht statt.