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Tatbestandsirrtum


Tatbestandsirrtum im Strafrecht

Der Tatbestandsirrtum zählt zu den zentralen Irrtumsarten im Strafrecht und ist in § 16 Abs. 1 StGB geregelt. Er beschreibt die Fehlvorstellung des Täters über Tatsachen, die zum gesetzlichen Tatbestand einer Straftat gehören. In der rechtswissenschaftlichen Diskussion und Praxis ist der Tatbestandsirrtum von besonderer Bedeutung für die Beurteilung der Strafbarkeit einer Handlung.


Begriffserklärung und Grundlagen

Der Tatbestandsirrtum liegt vor, wenn der Handelnde bei Begehung der Tat einen Umstand nicht kennt oder falsch beurteilt, der zum gesetzlichen Tatbestand gehört. Nach § 16 Abs. 1 StGB schließt ein solcher Irrtum grundsätzlich den Vorsatz aus, soweit er sich auf einen Umstand des objektiven Tatbestandes bezieht.

Abgrenzung zu anderen Irrtumsformen

Der Tatbestandsirrtum ist abzugrenzen von anderen Irrtumsarten im Strafrecht, insbesondere:

  • Verbotsirrtum (§ 17 StGB): Falsche rechtliche Bewertung des eigenen Handelns, nicht Tatsachenirrtum.
  • Erlaubnistatbestandsirrtum: Irrtum über tatsächliche Voraussetzungen eines Rechtfertigungsgrundes.
  • Error in persona vel obiecto: Irrtum über das Tatobjekt.
  • Aberratio ictus: Fehlgehen der eigentlichen Handlung.

Systematik des Tatbestandsirrtums

Der Tatbestandsirrtum betrifft den Vorsatz und damit unmittelbar das subjektive Tatbestandsmerkmal. Beim Irrtum über einen Umstand des Tatbestandes handelt der Täter ohne Vorsatz, was in den meisten Fällen zu einem straflosen Verhalten im Hinblick auf vorsätzliche Begehungsdelikte führt.

Voraussetzungen des Tatbestandsirrtums

  1. Irrtum über einen tatsächlichen Umstand: Der Handelnde stellt sich den Sachverhalt anders vor, als er tatsächlich ist.
  2. Dieser Umstand ist Teil des gesetzlichen Tatbestandes.
  3. Fehlende Kenntnis oder Fehlvorstellung ist ursächlich für das Handeln.

Abgrenzung zum Subsumtionsirrtum

Der Tatbestandsirrtum bezieht sich stets auf die Tatsachen. Fehlt lediglich die rechtliche Bewertung („Subsumtionsirrtum“), liegt kein Tatbestandsirrtum, sondern ein Verbotsirrtum vor.


Folgen des Tatbestandsirrtums (§ 16 StGB)

Nach § 16 Abs. 1 Satz 1 StGB schließt der Tatbestandsirrtum den Vorsatz aus. Dies hat folgende Konsequenzen:

  • Vorsätzliche Delikte: Strafbarkeit wegen vorsätzlicher Straftat entfällt, da kein Vorsatz vorliegt.
  • Fahrlässige Begehung: Prüft man nach entfaltetem Tatbestandsirrtum, ob der Täter nach § 16 Abs. 1 Satz 2 StGB wegen fahrlässiger Begehung zu bestrafen ist, sofern dies im Gesetz vorgesehen ist.
  • Fahrlässigkeitsdelikte: Ist Fahrlässigkeit strafbar und der Irrtum vermeidbar, kann eine Strafbarkeit wegen fahrlässiger Begehung bestehen.

Beispiel

Verwechselt ein Jäger im Dickicht einen Menschen mit einem Wildschwein und schießt – liegt ein Tatbestandsirrtum bezüglich der Tauglichkeit des Tatobjekts vor („error in persona vel obiecto“), der den Vorsatz ausschließt.


Formen des Tatbestandsirrtums

Unbewusster Tatbestandsirrtum

Dem Täter fehlen Kenntnisse über einzelne objektive Tatbestandsmerkmale (fehlende Kenntnis).

Bewusster Tatbestandsirrtum

Der Täter geht von einer tatsächlichen Fehlannahme aus, erkennt aber die Möglichkeit eines Irrtums nicht oder vertraut auf eine falsche Sachlage.

Sonderformen

  • Error in objecto: Falsche Vorstellung über das Tatobjekt.
  • Error in persona: Verwechslung des Opfers oder Gegenstands.

Bedeutung für einzelne Deliktsarten

Begehungsdelikte

Bei Begehungsdelikten entfällt die Strafbarkeit wegen Vorsatzes, sofern ein Tatbestandsirrtum vorliegt.

Unterlassungsdelikte

Auch bei Unterlassungsdelikten kann ein Tatbestandsirrtum vorliegen, etwa wenn der Täter irrtümlich annimmt, die Gefahr bestehe nicht.

Versuch

Ein Tatbestandsirrtum kann einen Rücktritt vom Versuch entbehrlich machen, wenn der Täter von vornherein nicht vorsätzlich handelt.


Irrtum über normative Tatbestandsmerkmale

Der Tatbestandsirrtum kann nicht nur tatsächliche, sondern auch normative Tatbestandsmerkmale betreffen, soweit der Täter sich über die tatsächlichen Umstände irrt, auf die das Merkmal bezogen wird. Beispiel: Irrtum über die Eigenschaft einer Sache als „fremd“ im Sinne des Diebstahls.


Abgrenzung: Tatbestandsirrtum versus Erlaubnistatbestandsirrtum

Beim (einfachen) Tatbestandsirrtum ist das Geschehen objektiv tatbestandsmäßig, liegt aber in der Vorstellung des Täters keine Unrechtsbeurteilung vor. Beim Erlaubnistatbestandsirrtum irrt der Täter über Tatsachen, die einen Rechtfertigungsgrund begründen würden.


Literatur und Rechtsprechung

  • § 16 StGB (Tatbestandsirrtum)
  • BGH, Urt. v. 23.11.1954 – 1 StR 256/54 (Jägerfall)
  • Wessels/Beulke/Satzger, Strafrecht Allgemeiner Teil
  • Roxin, Strafrecht Allgemeiner Teil

Zusammenfassung

Der Tatbestandsirrtum ist eine grundlegende Kategorie des deutschen Strafrechts. Er schützt den Täter, der einen gesetzlichen Tatbestandsumstand nicht kennt, vor einer Verurteilung wegen Vorsatzdelikten. Voraussetzung ist stets ein Tatsachenirrtum bezüglich eines Tatbestandsmerkmals, dessen Kenntnis für die Verwirklichung des Delikts erforderlich ist. Die Beurteilung erfolgt dabei streng nach den Regelungen des § 16 StGB und ist Bedeutung für die gerechte strafrechtliche Würdigung menschlichen Handelns im Irrtum.

Häufig gestellte Fragen

Wann liegt ein Tatbestandsirrtum vor und wie wirkt er sich auf die Strafbarkeit aus?

Ein Tatbestandsirrtum nach § 16 Abs. 1 StGB liegt vor, wenn der Täter bei der Begehung einer Tat einen Umstand nicht kennt, der zum gesetzlichen Tatbestand gehört. Entscheidend ist dabei, dass sich der Täter über ein objektives Tatbestandsmerkmal irrt, das heißt, er stellt sich einen Sachverhalt vor, bei dem ein zentrales Element des Strafgesetzes fehlt, und handelt deshalb ohne Wissen um dessen Vorliegen. Die rechtliche Folge eines Tatbestandsirrtums ist nach § 16 Abs. 1 Satz 1 StGB, dass Vorsatz bezüglich dieses Merkmals ausgeschlossen ist. Das bedeutet, eine Verurteilung wegen eines vorsätzlichen Delikts kommt nicht in Betracht, ein Fahrlässigkeitsdelikt kann jedoch möglich sein, sofern fahrlässiges Handeln unter Strafe steht. Der Tatbestandsirrtum muss sich stets auf Tatumstände beziehen, nicht auf normative Bewertungen, wie etwa die rechtliche Einordnung einer Handlung.

Wie unterscheidet sich der Tatbestandsirrtum vom Verbotsirrtum?

Ein Tatbestandsirrtum ist von einem Verbotsirrtum zu unterscheiden, insbesondere hinsichtlich ihrer Rechtsfolgen. Während sich der Tatbestandsirrtum auf die tatsächlichen Umstände eines Tatbestands bezieht (also darauf, was wirklich geschehen ist oder was der Täter darüber glaubt), betrifft der Verbotsirrtum nach § 17 StGB das Unrechtsbewusstsein des Täters. Beim Verbotsirrtum weiß der Täter zwar um die tatsächlichen Tatumstände, erkennt aber nicht, dass sein Verhalten rechtswidrig ist. Konsequenz: Der Tatbestandsirrtum schließt grundsätzlich den Vorsatz aus, wohingegen der Verbotsirrtum lediglich die Schuld entfallen lassen kann, wenn er unvermeidbar ist. Ist der Verbotsirrtum vermeidbar, so vermindert sich unter Umständen nur die Schuld.

Kann auch eine fahrlässige Tat vorliegen, wenn der Täter einem Tatbestandsirrtum unterliegt?

Ja, unterläuft dem Täter ein Tatbestandsirrtum, kommt neben dem Ausschluss des Vorsatzes eine Strafbarkeit wegen eines Fahrlässigkeitsdelikts nach § 16 Abs. 1 Satz 2 StGB in Betracht. Das setzt voraus, dass das Gesetz für die betreffende Tat die Fahrlässigkeit unter Strafe stellt und dass dem Täter im konkreten Fall Fahrlässigkeit vorzuwerfen ist, also insbesondere, dass er die gebotene Sorgfalt außer Acht gelassen hat. Beispiel: Jemand schießt im Dunkeln auf etwas, das er für ein Tier hält, tatsächlich ist es jedoch ein Mensch. Da der Täter nicht wusste, dass er auf einen Menschen schießt, fehlt der Vorsatz bezüglich eines Tötungsdelikts; dennoch kann er wegen fahrlässiger Tötung bestraft werden, sofern er fahrlässig handelte.

Wie ist die Abgrenzung zum Erlaubnistatbestandsirrtum vorzunehmen?

Die Abgrenzung erfolgt anhand des Irrtumsgegenstands: Beim klassischen Tatbestandsirrtum irrt der Täter über Umstände, die zum objektiven gesetzlichen Tatbestand gehören (z. B. denkt, das Diebesgut gehöre ihm). Beim Erlaubnistatbestandsirrtum hingegen irrt der Täter über tatsächliche Voraussetzungen eines Rechtfertigungsgrundes (z. B. nimmt fälschlich an, er werde angegriffen und handelt daher in vermeintlicher Notwehr). Während § 16 Abs. 1 StGB beim Tatbestandsirrtum direkt Vorsatz ausschließt, richtet sich die Behandlung des Erlaubnistatbestandsirrtums nach den Regeln zum sog. „umgekehrten Tatbestandsirrtum“ (strittig, überwiegend Anwendung von § 16 analog).

Welche Bedeutung hat der Tatbestandsirrtum im Rahmen des subjektiven Tatbestands?

Der subjektive Tatbestand eines Delikts setzt in aller Regel neben dem Wissens- und Wollenselement auch das Erkennen bestimmter Tatumstände voraus. Irrt sich der Täter über diese tatsächlichen Elemente – zum Beispiel nichtwissentlich handelt oder Merkmale nicht erkennt -, fehlt der subjektive Tatbestand. Dadurch entfällt die Strafbarkeit wegen vorsätzlichen Handelns. Die Bedeutung des Tatbestandsirrtums liegt somit darin, die Abgrenzung zwischen vorsätzlicher und fahrlässiger Begehungsweise rechtlich abzusichern.

Welche Rolle spielt der Tatbestandsirrtum bei den unechten Unterlassungsdelikten?

Beim unechten Unterlassungsdelikt (§ 13 StGB) ist der Tatbestandsirrtum insbesondere relevant im Hinblick auf das Unkenntnis des Täters von einer bestehenden Garantenpflicht oder dem Eintritt der Gefahr. Irrt der Täter über das Vorliegen solcher tatbestandlichen Voraussetzungen, schließt dies auch hier den Vorsatz aus. Allerdings kann auch insoweit eine Strafbarkeit wegen fahrlässiger Unterlassung in Betracht kommen, sofern eine entsprechende Strafvorschrift besteht.

Wie wird der Tatbestandsirrtum im Strafverfahren festgestellt und bewertet?

Im Strafverfahren ist der Tatbestandsirrtum als innere Tatsache zu erforschen, sodass die Feststellungen hierzu aus den äußeren Umständen und aus dem Täterverhalten abgeleitet werden müssen. Hierbei können Aussagen des Täters, Zeugenaussagen, Situationsanalyse und Indizien Beachtung finden. Die Feststellung eines Tatbestandsirrtums ist Aufgabe des Tatrichters und unterliegt der freien richterlichen Beweiswürdigung gemäß § 261 StPO. Dabei gilt der Grundsatz, dass im Zweifel zugunsten des Angeklagten (in dubio pro reo) vorzugehen ist, wenn nicht mit Sicherheit festgestellt werden kann, dass der Täter den maßgeblichen Tatumstand positiv erkannt hat.