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Strafrechtstheorien


Begriff und Bedeutung der Strafrechtstheorien

Strafrechtstheorien bezeichnen in der Rechtswissenschaft die Gesamtheit der Theorien, Konzepte und Erklärungsansätze, mit denen Sinn, Zweck, Funktion und Legitimation des Strafrechts sowie der staatlichen Strafgewalt erklärt und begründet werden. Sie bieten einen wissenschaftlichen Rahmen zur Beurteilung, warum und wie der Staat Straftaten ahndet, welche Ziele dabei verfolgt werden und wie die einzelnen Institute des Strafrechts ausgestaltet sein sollten. Strafrechtstheorien beeinflussen maßgeblich die Gesetzgebung, Rechtsprechung und den gesellschaftlichen Diskurs rund um Kriminalität und Strafe.

Entwicklung der Strafrechtstheorien

Historische Entwicklung

Die Entwicklung von Strafrechtstheorien lässt sich grob in verschiedene historische Phasen einteilen. In der Antike und im Mittelalter überwogen Vergeltungsgedanken und sakrale Elemente. Erst ab der Aufklärung wurde verstärkt nach rationalen und zweckorientierten Begründungen für das staatliche Strafrecht gesucht.

  • Antike und Mittelalter: Strafen galten vor allem als Vergeltung oder Sühne – häufig verbunden mit einer göttlichen oder familiären Ordnung.
  • Neuzeit/Aufklärung: Philosophen wie Cesare Beccaria und Jeremy Bentham begründeten Theorien, die auf Abschreckung, Prävention und Humanität abzielten.
  • Moderne: Ab dem 19. Jahrhundert entwickelten sich differenzierte Theorien, die auch soziale, psychologische und politische Aspekte miteinbezogen.

Einteilung in Theorien der Strafe

Im Laufe der Zeit wurden verschiedene Kategorien von Strafrechtstheorien herausgearbeitet. Wesentlich ist die Unterscheidung zwischen absoluten und relativen Straftheorien sowie deren Verbindung in Vereinigungstheorien.

Absolute Straftheorien

Absolute Theorien sehen die Strafe als Selbstzweck, losgelöst von präventiven oder gesellschaftlichen Wirkungen. Hauptvertreter dieser Auffassung ist die Vergeltungstheorie.

Vergeltungstheorie

Die Vergeltungstheorie (auch als klassische Straftheorie bezeichnet) geht davon aus, dass die Strafe als gerechte Antwort auf die Übertretung einer gesellschaftlich anerkannten Norm unverzichtbar ist. Die Tat soll durch eine angemessene Strafe „ausgeglichen“ werden. Immanuel Kant argumentierte, dass der Mensch als Zweck an sich selbst strafe verdient habe, ohne Rücksicht auf mögliche gesellschaftliche Nutzen.

  • Kernpunkt: Ausgleich der Schuld durch eine proportional zur Tat bemessene Strafe.
  • Kritik: Fehlende Rücksichtnahme auf gesellschaftliche Wirkungen, keine Prävention.

Relative Straftheorien

Im Gegensatz dazu stellen relative Straftheorien den Nutzen der Strafe für die Gesellschaft in den Vordergrund, nämlich durch Abschreckung, Besserung oder Sicherung. Sie begreifen Strafe als Mittel zum Zweck.

Spezialprävention

Ziel der Spezialprävention ist es, den Täter selbst entweder abzuschrecken (negative Spezialprävention) oder positiv zu beeinflussen und zu resozialisieren (positive Spezialprävention), um zukünftige Straftaten zu verhindern. Hierzu zählen insbesondere Maßnahmen wie Entzug der Fahrerlaubnis und therapeutische Maßnahmen.

Generalprävention

Die Generalprävention richtet sich an die Allgemeinheit. Die Strafe wirkt abschreckend auf potenzielle Täter (negative Generalprävention) oder stärkt das Vertrauen der Bevölkerung in die Rechtsordnung (positive Generalprävention). Der Staat tritt so als Garant der Normgeltung gegenüber der Allgemeinheit auf.

  • Negative Generalprävention: Abschreckung von Nachahmungstaten.
  • Positive Generalprävention: Stärkung des gesellschaftlichen Rechtsbewusstseins.

Vereinigungstheorien

Da weder absolute noch relative Straftheorien alleine alle Aspekte des Strafzwecks zufriedenstellend erklären können, wurden sogenannte Vereinigungstheorien entwickelt. Sie kombinieren die vergeltenden und präventiven Elemente und bilden heute die Grundlagen für den Umgang mit Strafe in den meisten modernen Rechtssystemen.

  • Beispiel in Deutschland: Die herrschende Vereinigungstheorie geht davon aus, dass Strafe notwendig ist, um das Recht zu bewähren (Generalprävention), dass sie dabei aber Schuld voraussetzt (Vergeltungselement).

Strafzweck im geltenden Recht

Strafzweck nach deutschem Strafrecht

Das Strafgesetzbuch (StGB) enthält in § 46 StGB eine Richtlinie für die Strafzumessung, in der unter anderem „Schuld des Täters“, „Wirkung der Strafe auf den Täter“ (Spezialprävention) und „Erwartungen der Allgemeinheit“ (Generalprävention) aufgeführt sind. Dies verdeutlicht die Umsetzung der Vereinigungstheorie im deutschen Strafjustizsystem.

Bedeutung für Strafzumessung und Sanktionen

Die Auswahl von Sanktionen (etwa Freiheitsstrafe, Geldstrafe, Maßregeln der Besserung und Sicherung) orientiert sich praktisch an spezial- wie generalpräventiven Erwägungen und dem Schuldgrundsatz. In den letzten Jahrzehnten ist zudem die Bedeutung der Resozialisierung als präventiver Zweck gestiegen.

Kritische Aspekte und Reformdiskussionen

Die Wirksamkeit und Gerechtigkeit der verschiedenen Straftheorien sind Gegenstand anhaltender rechtspolitischer und philosophischer Diskussionen. Kritisiert werden etwa:

  • Vergeltungstheorie: Gefahr von Rache statt Wiedergutmachung; mangelnder Opferschutz.
  • Präventive Theorien: Gefahr der Instrumentalisierung des Täters; mögliche Unverhältnismäßigkeit der Strafen.

Moderne Diskussionen beziehen vermehrt den Opferschutz, restorative justice, Täter-Opfer-Ausgleich und die Bedeutung des gesellschaftlichen Kontextes in die Bewertung von Strafe ein.

Bedeutung der Strafrechtstheorien in der Rechtsanwendung

Strafrechtstheorien haben unmittelbaren Einfluss auf die Auslegung und Anwendung von Strafnormen sowie die Entwicklung neuer gesetzlicher Bestimmungen und Reformen. Insbesondere bei der Beurteilung schuldmindernder Umstände, der Verhältnismäßigkeit von Sanktionen und der Einführung neuer Strafinstitute sind theoretische Grundlagen von zentraler Bedeutung.

Zusammenfassung

Strafrechtstheorien bilden die wissenschaftliche Grundlage für das Verständnis, die Rechtfertigung und die Ausgestaltung des Strafrechts. Sie lassen sich insbesondere unterscheiden in absolute Theorien (Vergeltung), relative Theorien (Prävention) und deren Kombination in Vereinigungstheorien. Die Praxis des modernen Strafrechts ist geprägt von diesem Zusammenspiel verschiedener Straftheorien, das in Gesetzgebung, Rechtsprechung und Rechtsanwendung fortwirkt und immer wieder Gegenstand wissenschaftlicher und gesellschaftlicher Debatten ist.

Häufig gestellte Fragen

Welche unterschiedlichen Hauptgruppen von Strafrechtstheorien existieren im deutschen Recht?

Im deutschen Recht unterscheidet man hauptsächlich zwischen absoluten, relativen und den sogenannten Vereinigungstheorien. Absolute Strafzwecktheorien begreifen Strafzwecke etwa als Schuld- oder Gerechtigkeitssühne und legen das Hauptgewicht auf die Vergeltung einer rechtswidrigen Tat. Die relative Theorie dagegen sieht den Hauptzweck der Strafe in ihrer präventiven Wirkung – also der Vermeidung weiterer Straftaten für die Zukunft; hierbei wird zwischen Spezialprävention (Abschreckung oder Besserung des Täters) und Generalprävention (Abschreckung der Allgemeinheit oder Festigung des Rechtsbewusstseins) unterschieden. Die Vereinigungstheorien, welche heute sowohl in Gesetzgebung als auch Rechtsprechung dominieren, versuchen, beide Ansätze in einem abgestuften Modell zu verbinden. Sie sehen die Strafe im Kern als schuldangemessen, fordern aber zugleich funktionale Begründungen der Strafzumessung, insbesondere zur Prävention.

Welche Rolle spielt die Schuld des Täters in den Strafrechtstheorien?

Insbesondere in der absoluten Theorie, die auf die Vergeltung der Tat abstellt, nimmt die Schuld des Täters eine herausragende Stellung ein – die Strafe soll ausschließlich als Ausgleich für begangenes Unrecht verhängt werden und darf grundsätzlich das Maß der individuellen Schuld nicht übersteigen (Schuldprinzip). Die relativen Theorien hingegen stellen eher auf die Wirkung der Strafe für die Gesellschaft oder den Täter selbst ab, das Schuldmaß kann dabei als nachrangig erscheinen. Allerdings verlangt das deutsche Grundgesetz (Art. 1 Abs. 1 und Art. 20 Abs. 3 GG) sowie § 46 Abs. 1 StGB, dass auch präventiv motivierte Strafen stets schuldangemessen sein müssen. Das Schuldprinzip fungiert daher als unverrückbare Begrenzung jeder Strafzumessung und hat auch in den Vereinigungstheorien konstitutive Bedeutung.

Wie fließen die Strafrechtstheorien in die Gesetzgebung und Rechtsprechung ein?

Das deutsche Strafrecht orientiert sich weitgehend an den Vereinigungstheorien, die im Strafgesetzbuch und der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs und des Bundesverfassungsgerichts Anklang finden. Die absolute Theorie prägt das Erfordernis der Schuld als Voraussetzung jeder Strafe; gleichzeitig finden die Gedanken der relativen Theorie Eingang in Regelungen wie § 46 Abs. 1 StGB, der als Strafzweck ausdrücklich auch aspects der General- und Spezialprävention nennt. Im Rahmen der Strafzumessung beurteilen Gerichte regelmäßig sowohl die schuldangemessene Ahndung der Tat als auch die präventiven Erwartungen an die Strafe.

Welche Kritikpunkte werden an den einzelnen Strafrechtstheorien diskutiert?

Die absolute Theorie wird oft dafür kritisiert, dass sie zu sehr auf Vergeltung und damit mitunter auf gesellschaftlich rückwärtsgewandte Strafbedürfnisse abstellt, ohne künftige Straftaten und die Interessen der Gesellschaft angemessen zu berücksichtigen. Die rein relative Theorie läuft hingegen Gefahr, den Täter zum Objekt staatlicher Gewalt zu machen, da sie vor allem auf Präventionsziele abstellt, wodurch das Schuldprinzip unterlaufen werden könnte. Beide Extrempositionen werden aus menschenrechtlichen und rechtsstaatlichen Gründen als unzureichend angesehen, weshalb die integrative Vereinigungstheorie heute als sinnvoller Kompromiss gilt, trotz fortbestehender Kritik an Abgrenzung und Konkretisierung ihrer einzelnen Elemente.

Welche Bedeutung kommt der Spezial- und Generalprävention im deutschen Strafrecht zu?

Generalprävention und Spezialprävention sind zentrale Begriffe der relativen Straftheorie und kommen im deutschen Recht insbesondere bei der Begründung des Strafbedarfs und der Strafzumessung zum Tragen. Die Generalprävention (Abschreckung der Allgemeinheit, Festigung des Rechtsbewusstseins) rechtfertigt die Verhängung einer Strafe, etwa um das gesellschaftliche Vertrauen in die Rechtsordnung zu schützen. Die Spezialprävention (Abschreckung oder Besserung des Einzeltäters) zielt darauf ab, den konkreten Täter von weiteren Straftaten abzuhalten. Beide Aspekte werden aber stets durch das Schuldprinzip begrenzt.

Spielt das Resozialisierungsgebot bei der Anwendung von Strafrechtstheorien eine Rolle?

Das Resozialisierungsgebot ist im Rahmen der spezialpräventiven Straftheorie angesiedelt und hat durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (insbesondere im Strafvollzugsrecht) eine hohe Bedeutung erlangt. Danach ist die Strafe nicht nur als bloßes Mittel der Vergeltung oder Abschreckung zu verstehen, vielmehr soll die Strafe dem Täter eine Perspektive zur Wiedereingliederung ins gesellschaftliche Leben ermöglichen. Dies hat mittlerweile auch im Gesetz Berücksichtigung gefunden, etwa in der Gestaltung des Strafvollzugs (§ 2 StVollzG) und bei Strafaussetzungsentscheidungen.