Grundlagen und Entwicklung des Strafrechts in der DDR
Das Strafrecht in der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) war ein zentrales Element des sozialistischen Rechtssystems und diente zum einen dem Schutz des Staates, seiner gesellschaftlichen Ordnung und zum anderen der Steuerung des individuellen Verhaltens der Bürger. Es unterschied sich in Zielsetzung, Struktur und Rechtsanwendung signifikant vom bundesdeutschen Strafrecht und war eng mit den politischen und gesellschaftlichen Grundsätzen der SED-Diktatur verbunden. Die Entwicklung des Strafrechts in der DDR war geprägt vom Wechsel der Besatzungsmächte, dem Aufbau eines eigenen Staatswesens und der ständigen ideologischen Ausrichtung auf die sozialistische Gesellschaftsordnung.
Gesetzliche Grundlagen
Das Strafgesetzbuch der DDR (StGB-DDR)
Die wichtigste Rechtsquelle war das Strafgesetzbuch (StGB) der DDR. Zunächst galt nach 1945 und während der sowjetischen Besatzungszeit weiterhin das deutsche Strafgesetzbuch des Jahres 1871, modifiziert durch sowjetische Befehle und Verordnungen. Mit dem „Strafgesetzbuch der Deutschen Demokratischen Republik“ wurde 1968 ein eigenständiges kodifiziertes Strafrecht erlassen, welches 1974 überarbeitet wurde. Neben dem StGB gab es zahlreiche Nebengesetze und Sondervorschriften, etwa im Bereich des Wirtschaftsstrafrechts, des Militärstrafrechts und des Strafverfolgungsrechts für Jugendliche.
Aufbau des StGB-DDR
Das StGB-DDR war in einen Allgemeinen und einen Besonderen Teil gegliedert. Der Allgemeine Teil regelte allgemeine Grundsatzfragen wie die Voraussetzungen der Strafbarkeit, Strafen und Maßnahmen, Versuch und Teilnahme sowie die Verjährung. Der Besondere Teil fasste die einzelnen Delikte und Regelbeispiele zusammen, unterteilt etwa in Straftaten gegen den Staat, die staatliche Ordnung, die Wirtschaft, die individuelle Rechtsordnung und gegen die Person.
Wichtige Bereiche des StGB
- Straftaten gegen den Staat: Hierunter fielen unter anderem „Staatsverleumdung“, „Staatsfeindliche Hetze“ und andere so genannte politische Delikte, die oftmals der Sicherung der Ein-Parteien-Herrschaft dienten.
- Wirtschaftsstrafrecht: Umfasste spezifische Vorschriften zum Schutz des sozialistischen Eigentums, Bekämpfung des „Schwarzhandels“ und der „Spekulation“.
- Strafrechtliche Repressionen im Alltagsleben: Auch vermeintlich bagatellhafte Verstöße wie „asoziales Verhalten“ konnten mit haft- oder freiheitsentziehenden Maßnahmen geahndet werden.
Strafprozessordnung der DDR
Die Verfolgung strafbarer Handlungen regelte die Strafprozessordnung (StPO) der DDR. Diese unterschied sich erheblich in Aufbau und Inhalt von der westdeutschen StPO. Besonders markant war die Rolle der Staatsanwaltschaft und die begrenzte Stellung von Verteidigung und Beschuldigtenrechten. Viele Verfahrensgrundsätze waren darauf ausgerichtet, das Strafverfahren zügig und staatskonform zum Abschluss zu bringen.
Sonderstrafrecht und Nebenstrafrecht
Darüber hinaus bestanden spezifische Regelungen für Strafsachen im Bereich des Militärs (Militärstrafgesetzbuch), gegen Jugendliche (Jugendgerichtsgesetz der DDR) und für besondere gesellschaftliche Gruppen. Besonders das Wirtschaftsrecht und das Disziplinarrecht mit quasi-strafrechtlichen Sanktionsmöglichkeiten wiesen eine hohe Regelungsdichte auf.
Prinzipien und System der Strafrechtsanwendung
Funktion des Strafrechts im Sozialismus
Das Strafrecht wurde bewusst als Mittel zur „Umgestaltung der sozialistischen Gesellschaft“ eingesetzt. Neben dem präventiven und repressiven Charakter war eine wesentliche Funktion die politisch-ideologische Erziehung der Bürger im Sinne der SED. Bereits die Definition von Straftaten orientierte sich deshalb stark am Schutz des Staates, der sozialistischen Ordnung und am „Kollektivinteresse“.
Sanktionssystem
Das Sanktionssystem umfasste:
- Freiheitsstrafe: In der Regel als Freiheitsentzug vollstreckt, teilweise auch als Bewährungsstrafe.
- Geldstrafe: Seltener ausgesprochen, da die Lebensumstände und das Wirtschaftssystem der DDR wenig Raum für diese Sanktionsform boten.
- Nebenstrafen und Maßregeln: Etwa Entzug bestimmter Rechte (z.B. Fahrerlaubnis, Aufenthaltsbeschränkungen), Arbeitsauflagen, Einweisung in Arbeitserziehungseinrichtungen.
Besonderheiten der Strafgerichtsbarkeit
Die Strafgerichtsbarkeit war auf mehreren Ebenen organisiert: Kreisgerichte, Bezirksgerichte und das Oberste Gericht der DDR. Ebenso existierten Militärgerichte, Sondergerichte und Disziplinargerichte mit teilweise voneinander abweichenden Zuständigkeiten.
Einfluss der Staatssicherheit
Die Staatssicherheit (Ministerium für Staatssicherheit – MfS) und das Innenministerium spielten eine zentrale Rolle bei der Strafverfolgung, insbesondere bei politischen Delikten. Verfahren in politisch relevanten Angelegenheiten wurden vielfach unter Ausschluss der Öffentlichkeit geführt, der Grundsatz des fairen Verfahrens war stark eingeschränkt.
Politische Delikte und staatliche Repression
Verfolgung politisch motivierter Delikte
Das Strafrecht diente gezielt der Disziplinierung und Einschüchterung politisch andersdenkender Bürger. Schon die Planung oder Bekundung abweichender Meinungen konnte als „staatsfeindliche Hetze“ (Art. 106 StGB-DDR) oder „ungesetzlicher Grenzübertritt“ strafrechtliche Konsequenzen nach sich ziehen. Politische Strafjustiz wurde häufig instrumentalisiert, um Systemkritiker, Oppositionelle und Ausreisewillige zu verfolgen.
Willkürprozess und Rechtsstaatlichkeit
Obwohl nach außen formale rechtsstaatliche Elemente vorhanden waren, unterschieden sich die Verfahren faktisch durch eine erhebliche Nähe der Gerichte zur SED und den Sicherheitsorganen. Unabhängigkeit der Gerichtsbarkeit war nicht realisiert; Urteile wurden häufig politisch gesteuert.
Strafvollzug und Resozialisierung
Strafvollzugspolitik
Ziel des Strafvollzugs war neben der Abschreckung insbesondere die sozialistische Umerziehung der Gefangenen. Arbeitspflicht, politische Indoktrination und eine strikte Kontrolle prägten den Haftalltag. Die Versorgungslage, medizinische Betreuung und die Behandlung von Gefangenen waren häufig unzureichend, insbesondere bei politischen Gefangenen.
Amnestien und Freikäufe
Im Verlauf der DDR-Geschichte wurden vereinzelt Amnestien gewährt. Zudem führte die Bundesrepublik Deutschland sogenannte „Häftlingsfreikäufe“ durch, bei denen politische Gefangene gegen Devisenzahlungen an die DDR in die Bundesrepublik ausreisen durften.
Bedeutung und Nachwirkungen nach 1990
Strafrechtliche Aufarbeitung
Mit der Wiedervereinigung Deutschlands 1990 wurde das DDR-Strafrecht außer Kraft gesetzt und durch das bundesdeutsche Recht ersetzt. Die strafrechtliche Aufarbeitung der Unrechtsjustiz und von Menschenrechtsverletzungen in der DDR erfolgte im Rahmen spezifischer Strafverfahren nach bundesdeutschem Recht. Hierbei spielten insbesondere die Verfolgung von Mauerschützen-Prozessen und die Ahndung von politischem Unrecht eine bedeutende Rolle.
Bewertung in der Rechtsgeschichte
Das Strafrecht der DDR wird heute von der Wissenschaft und in rechtsstaatlicher Perspektive überwiegend als repressives System mit erheblichen rechtsstaatlichen Defiziten und einer starken Bindung an politische Zweckmäßigkeit beurteilt. Viele Vorschriften wichen von modernen rechtsstaatlichen Grundsätzen, etwa dem Legalitätsprinzip, dem Bestimmtheitsgrundsatz und der richterlichen Unabhängigkeit erheblich ab.
Literaturhinweise und Quellen
Für eine vertiefende Beschäftigung mit dem Thema sind folgende Werke und Dokumente wesentlich:
- Strafgesetzbuch der DDR (1968, Fassung von 1974)
- Strafprozessordnung der DDR
- Dokumente des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS)
- Fachliteratur zur Rechtsgeschichte der DDR
Zusammenfassung:
Das Strafrecht in der DDR war eng mit der sozialistischen Staats- und Gesellschaftsordnung verflochten. Es diente nicht nur dem Schutz individueller Rechtsgüter, sondern in erster Linie der Durchsetzung und Sicherung der politischen Macht des Staates. Zahlreiche Regelungen richteten sich auf die Bekämpfung politisch unerwünschten Verhaltens. Nach Abschaffung der DDR wurde das System einer kritischen rechtshistorischen Bewertung unterzogen und viele Fehler durch die Aufarbeitung politisch motivierter Unrechtsurteile dokumentiert.
Häufig gestellte Fragen
Welche Arten von Strafen und strafrechtlichen Maßnahmen sah das Strafrecht der DDR vor?
Das Strafrecht der DDR unterschied zwischen Haupt- und Nebenstrafen sowie strafrechtlichen Maßnahmen. Zu den Hauptstrafen gehörten die Freiheitsstrafe, die mit und ohne Bewährung verhängt werden konnte, und die Geldstrafe. Die Todesstrafe wurde bis zu ihrer Abschaffung 1987 ebenfalls als Hauptstrafe geführt, allerdings in den letzten Jahren nur selten verhängt. Nebenstrafen waren der Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte, Berufsverbote oder das Verbot, bestimmte Tätigkeiten auszuüben. Zu den strafrechtlichen Maßnahmen zählten Sicherungsverwahrung, die Unterbringung in einer psychiatrischen Anstalt sowie erzieherische Maßnahmen, insbesondere bei Jugendlichen. Charakteristisch war für das DDR-System die enge Verbindung von Strafe und gesellschaftlicher Umerziehung, was sich auch in der Gesetzgebung widerspiegelte, etwa durch das sogenannte „Erziehungsverfahren“ für jugendliche Straftäter. Straftaten wurden zumeist als Verstöße gegen das gesellschaftliche Zusammenleben gesehen, wobei sowohl klassische Delikte als auch politische Straftaten umfangreich geregelt und teilweise sehr restriktiv verfolgt wurden.
Wie war das Strafverfahren in der DDR ausgestaltet und welche Rolle spielte die Staatsanwaltschaft?
Das Strafverfahren in der DDR folgte dem inquisitorischen Prinzip, wobei die Staatsanwaltschaft eine herausgehobene Stellung einnahm. Die Staatsanwaltschaft war nicht nur für die Verfolgung und Anklageerhebung zuständig, sondern auch für die umfassende Überwachung der Einhaltung der sozialistischen Rechtsordnung. Dabei hatte sie weitreichende Befugnisse im Ermittlungsverfahren, etwa die Leitung der Untersuchung und die Kontrolle über die Tätigkeit der Volkspolizei. Die Gerichte waren verpflichtet, die Sachverhaltsermittlung nicht auf das Tatsächliche zu beschränken, sondern auch den „gesellschaftlichen Charakter“ der Tat und der angeklagten Person zu beurteilen. Das Verfahren war durch eine geringe Beteiligung von Verteidigern und beschränkte Rechte der Angeklagten geprägt. Besonders bei politischen Verfahren griffen informelle Mechanismen und politische Einflussnahmen deutlich in das förmliche Verfahren ein.
Welche Tatbestände galten als „staatsgefährdende“ oder „politische“ Straftaten, und wie wurden sie verfolgt?
Politische oder staatsgefährdende Straftaten nahmen im Strafrecht der DDR einen breiten Raum ein. Beispiele hierfür waren „staatsfeindliche Hetze“, „illegale Grenzübertritt“, „Zusammenrottung“, „Landesverräterische Agententätigkeit“ sowie „öffentliche Herabwürdigung staatlicher Organe“. Die Anwendung dieser teilweise sehr weit gefassten Tatbestände diente wesentlich dem Schutz des sozialistischen Staates und der herrschenden Partei. Die Verfolgung solcher Delikte erfolgte meist mit erhöhter staatlicher Aufmerksamkeit, oftmals unter Beteiligung der Stasi (MfS), die sowohl Beweisführung als auch Einflussnahme auf Urteil und Strafmaß übernahm. Die Urteile in Verfahren wegen politischer Delikte fielen meist härter aus als bei allgemeinen kriminellen Straftaten, teils mit langen Haftstrafen und zusätzlichen Maßnahmen wie Berufsverboten oder Ausbürgerungen.
Inwiefern unterschied sich das Strafrecht der DDR vom westdeutschen Strafrecht?
Das Strafrecht der DDR wies grundlegende Unterschiede zum westdeutschen Strafrecht auf. Während in der Bundesrepublik das Strafrecht auf den Prinzipien eines liberal-demokratischen Rechtsstaates basierte, war das DDR-Strafrecht auf den Schutz der sozialistischen Gesellschaft und deren politischen Ordnung ausgerichtet. Viele Straftatbestände waren speziell auf die Sicherung von Staat, Partei und gesellschaftlicher Ordnung zugeschnitten. Das individuelle Schuldprinzip wurde zugunsten des „sozialistischen Erziehungsauftrags“ relativiert. Eine weitere Besonderheit bestand in der ausgeprägten Verfolgung politischer Straftaten sowie einer stärkeren Verflechtung zwischen Justiz und Exekutive, insbesondere über das Ministerium für Staatssicherheit. Die Mitwirkungsrechte von Verteidigern und Angeklagten waren im DDR-Prozessrecht erheblich eingeschränkt.
Welche Rolle spielten die sogenannten „volkstümlichen Gerichte“ und die „gesellschaftlichen Kräfte“ bei der Strafverfolgung?
Im Strafrecht der DDR waren die volkstümlichen Gerichte, insbesondere die Kreis- und Bezirksgerichte, für die Durchführung von Strafverfahren zuständig. Ein wesentliches Element war die Einbindung „gesellschaftlicher Kräfte“, wie z. B. der Gewerkschaften, Betriebe oder Massenorganisationen, in die Strafrechtspflege. Laienrichter – in der DDR „Schöffen“ genannt – wurden aus der Bevölkerung berufen und wirkten an der Urteilsfindung mit. Ferner konnten gesellschaftliche Organisationen Eingaben machen, an Ermittlungs- und Erziehungsmaßnahmen beteiligt werden oder zur sozialen Kontrolle in Betrieben und Wohngebieten beitragen. Diese Einbindung sollte die sozialistische Erziehung und Kontrolle unterstützen, führte aber oft auch zu einer Politisierung des Verfahrens und einer Einschränkung individueller Rechte zugunsten kollektiver Interessen.
Wie wurden Jugendliche im Strafrecht der DDR behandelt?
Das Strafrecht der DDR sah für Jugendliche und Heranwachsende besondere Vorschriften vor, die stärker erzieherisch-umsorgend als repressiv geprägt sein sollten. Statt einer klassischen Bestrafung sollte häufig eine sozialistische Umerziehung und Wiedereingliederung in die Gesellschaft im Vordergrund stehen. Dazu gab es besondere Erziehungsverfahren; Maßnahmen wie die Überweisung in „Jugendwerkhöfe“ oder Erziehungsanstalten waren gängig. Bei jungen Täterinnen und Tätern konnte das Gericht „erzieherische Maßnahmen“ wie Belehrungen, die Verpflichtung zur Teilnahme an Arbeits- oder Ausbildungsmaßnahmen und Überwachung durch gesellschaftliche Kräfte wählen. Dennoch konnte im Einzelfall auch regulär nach Erwachsenenstrafrecht mit Freiheits- oder Geldstrafe verurteilt werden. Politisch missliebige Jugendliche waren nicht selten von verschärften Maßnahmen (z. B. Haft in Jugendwerkhöfen) betroffen.