Strafrecht in der DDR: Begriff, Funktion und Aufbau
Das Strafrecht in der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) bezeichnete das System von staatlichen Normen und Verfahren, das bestimmte Verhaltensweisen als strafbar definierte, entsprechende Sanktionen androhte und durchsetzte. Es diente nicht nur dem Schutz von Leben, Gesundheit und Eigentum, sondern in besonderem Maße der Sicherung der sozialistischen Staats- und Gesellschaftsordnung. Das Strafrecht war eng mit den politischen Zielen des Staates verknüpft und verstand sich als Mittel zur Erziehung der Bevölkerung zu einer „sozialistischen Persönlichkeit“.
Historische Entwicklung und Rechtsquellen
Nach der Gründung der DDR wurde das Strafrecht schrittweise an sozialistische Leitbilder angepasst. In den 1950er Jahren erfolgten erste umfassende Veränderungen, die das System deutlich von westdeutschen Entwicklungen trennten. Ein zentraler Meilenstein war die grundlegende Neufassung des Strafrechts in den späten 1960er Jahren, die das System vereinheitlichte und politisch akzentuierte. Ergänzende Änderungen folgten in den 1970er und 1980er Jahren. Neben dem materiellen Strafrecht regelte das Verfahrensrecht die Ermittlung, Anklage und gerichtliche Entscheidung. Die Auslegung wurde durch staatliche Leitlinien, Kommentierungen und die Praxis der Ermittlungs- und Justizorgane geprägt.
Grundprinzipien und Ziele
Sozialistische Gesetzlichkeit
Die „sozialistische Gesetzlichkeit“ sollte das Handeln von Behörden und Gerichten an die politisch definierten Rechtsnormen binden. Sie verband die Idee formaler Rechtsbindung mit der Verpflichtung auf die Ziele des sozialistischen Staates.
Schutz der Staats- und Gesellschaftsordnung
Besonderes Gewicht lag auf der Abwehr von Angriffen gegen Staat, Partei und die wirtschaftliche Planung. Handlungen, die als Gefährdung der politischen Ordnung verstanden wurden, standen im Mittelpunkt politischer Strafverfolgung.
Kollektive Verantwortung und Erziehung
Strafen sollten nicht nur vergelten, sondern die Verurteilten „erziehen“. Betriebe, Kollektive und gesellschaftliche Organisationen konnten in Ermittlungen, Erziehung und Bewährung einbezogen werden.
Prävention vor Repression
Prävention hatte eine hervorgehobene Rolle: Frühzeitige Einflussnahme, Erziehungsmaßnahmen und öffentliche Normvermittlung sollten strafbares Verhalten verhindern, zugleich aber Loyalität zur Ordnung sichern.
Straftatverständnis und Deliktsbereiche
Das DDR-Strafrecht unterschied zwischen allgemeinen Kriminaldelikten und politisch bzw. wirtschaftlich geprägten Tatbeständen. Die Interpretation richtete sich stark nach der „gesellschaftlichen Gefährlichkeit“ einer Handlung.
Politisch geprägte Delikte
Hierzu zählten unter anderem Äußerungen und Handlungen gegen die Staats- und Gesellschaftsordnung, die Verbreitung als staatsfeindlich eingestufter Inhalte, die ungesetzliche Überschreitung der Grenze oder die Unterstützung oppositioneller Gruppen. Die Bandbreite reichte von Meinungsäußerungen bis zu organisatorischen Handlungen.
Schutz des Volkseigentums
Delikte gegen das Volkseigentum wurden besonders gewichtet. Schon geringfügige Vermögensschädigungen konnten strenger bewertet werden als gleichartige Taten gegen persönliches Eigentum, da dem gemeinschaftlichen Vermögen eine zentrale Rolle zukam.
Wirtschafts- und Planungsdelikte
Handlungen, die die Planwirtschaft beeinträchtigten, etwa Verstöße gegen Devisen- oder Außenwirtschaftsregeln, Missbrauch von Funktionsstellungen in Betrieben oder Sabotage, wurden als ernsthafte Angriffe auf die ökonomische Basis des Systems gesehen.
Allgemeine Kriminalität
Klassische Deliktsbereiche wie Körperverletzung, Tötungsdelikte, Sexualdelikte, Eigentums- und Vermögensdelikte waren ebenfalls erfasst und strukturiert geregelt. Ihre Verfolgung diente sowohl dem Schutz individueller Rechte als auch der öffentlichen Ordnung.
Sanktionen und Maßnahmen
Hauptstrafen
Zentrale Strafen waren Freiheitsstrafe und Geldstrafe. Freiheitsstrafen wurden häufig mit Arbeitseinsatz vollzogen. Unter bestimmten Voraussetzungen war eine Aussetzung der Vollstreckung zur Bewährung möglich, verbunden mit Auflagen und gesellschaftlicher Betreuung.
Nebenstrafen und Zusatzfolgen
Zusätzlich konnten Rechte aberkannt, Gegenstände eingezogen oder weitere Beschränkungen angeordnet werden. Solche Nebenfolgen zielten darauf ab, weiteren Schaden zu verhindern und die Wirkung der Hauptstrafe zu verstärken.
Erziehungs- und Disziplinarmaßnahmen
Insbesondere bei geringer Schuld oder geringer gesellschaftlicher Gefährlichkeit standen Verwarnungen, Auflagen, Betreuung durch Kollektive und andere erzieherische Mittel zur Verfügung. Die Einbindung des sozialen Umfelds war typisch.
Strafverfolgung und Gerichtsorganisation
Ermittlungsorgane und Staatsanwaltschaft
Die Verfolgung oblag den Ermittlungsorganen, etwa der Volkspolizei, teils auch Bereichen des Staatssicherheitsapparats, sowie der Staatsanwaltschaft. Letztere hatte eine hervorgehobene Stellung bei der Überwachung der Einhaltung der staatlichen Rechtsordnung.
Gerichte und Verfahrensablauf
Strafsachen wurden von Gerichten entschieden, die zwischen Alltagskriminalität und politisch bedeutsamen Verfahren unterschieden. Verfahren konnten beschleunigt geführt werden. Die Beweisaufnahme stützte sich auf Ermittlungsakten, Zeugenaussagen und Geständnisse; die Öffentlichkeit war eingeschränkt möglich.
Verteidigung und Mitwirkung gesellschaftlicher Kräfte
Verteidiger konnten bereits im Ermittlungsverfahren hinzugezogen werden, der Zugang war in politisch sensiblen Verfahren jedoch teils begrenzt. Betriebe und Kollektive konnten in die Erziehungs- und Bewährungsprozesse eingebunden sein und Stellungnahmen abgeben.
Jugendstrafrecht in der DDR
Bei Jugendlichen und Heranwachsenden stand die Erziehung besonders im Vordergrund. Neben Freiheits- und Geldstrafen kamen erzieherische Maßnahmen zur Anwendung, etwa verstärkte Betreuung, Auflagen und die Einbindung von Schule, Betrieb oder Jugendhilfeeinrichtungen. Ziel war die formelle und gesellschaftliche Wiedereingliederung. In schwereren Fällen waren auch freiheitsentziehende Maßnahmen möglich.
Politische Dimension und Grundrechtsbezug
Das Strafrecht der DDR war eng mit der politischen Steuerung verknüpft. Meinungsäußerungen, Kontakte in den Westen, Versuche der Ausreise ohne Genehmigung und oppositionelle Aktivitäten konnten strafrechtlich verfolgt werden. Ermittlungen in politisch geprägten Verfahren wurden von Sicherheitsorganen koordiniert; die Verfahrensgestaltung und Haftbedingungen standen in der Kritik, insbesondere hinsichtlich der Transparenz und Wahrung individueller Rechte.
Strafvollzug
Der Vollzug verstand sich als erzieherisch. Arbeitseinsatz, kollektive Disziplin und politische Schulung spielten eine Rolle. Haft in politisch geprägten Fällen war häufig mit strengen Auflagen und Kontrolle verbunden. Zielvorgaben zur „Umerziehung“ wurden mit praktischen Erfordernissen des Vollzugs verknüpft. In Einzelfällen kam es zu Freikäufen von Inhaftierten gegen Leistungen aus dem Westen.
Umbrüche 1989/1990 und rechtliche Aufarbeitung
Mit den politischen Veränderungen 1989/1990 verloren zahlreiche Tatbestände ihre Grundlage. Es folgten Amnestien, die Entkriminalisierung politischer Delikte und die Überprüfung sowie Korrektur zahlreicher Entscheidungen. Nach der Wiedervereinigung setzte eine rechtliche Aufarbeitung ein: Unrechtsurteile wurden aufgehoben, Betroffene rehabilitiert und Ansprüche geregelt. Zugleich wurden Verantwortliche für schwere Rechtsverletzungen im Rahmen des geltenden Rechts zur Verantwortung gezogen.
Einordnung und Abgrenzung
Das Strafrecht der DDR kombinierte bekannte Kategorien allgemeiner Kriminalität mit politisch und wirtschaftlich geprägten Straftatbeständen. Zentrale Unterschiede zu westdeutschen Entwicklungen lagen in der ideologisch gesteuerten Ausrichtung, der starken Betonung des Schutzes der Staatsordnung, den weit interpretierten Tatbeständen und der Rolle der Sicherheitsorgane. Gemeinsamkeiten bestanden in der Bekämpfung allgemeiner Kriminalität und der Zielsetzung, Rechtsfrieden und öffentliche Sicherheit zu sichern.
Häufig gestellte Fragen (FAQ) zum Strafrecht in der DDR
Was verstand die DDR unter Strafrecht?
Das Strafrecht definierte verbotene Verhaltensweisen, legte Strafen fest und regelte Verfahren. Es diente dem Schutz von Individuum und Gesellschaft, stand aber besonders im Dienst der Sicherung der sozialistischen Staats- und Gesellschaftsordnung.
Welche Ziele verfolgte das Strafrecht der DDR?
Es sollte Rechtsfrieden herstellen, die sozialistische Ordnung schützen und durch Strafe und Erziehung künftige Rechtsverletzungen verhindern. Prävention, gesellschaftliche Einflussnahme und Erziehungswirkung waren zentrale Leitlinien.
Wie war die Strafverfolgung organisiert?
Ermittlungen führten Ermittlungsorgane wie die Volkspolizei, in politisch geprägten Fällen unter Mitwirkung von Sicherheitsdiensten. Die Staatsanwaltschaft leitete und überwachte die Verfolgung. Gerichte entschieden über Schuld und Strafe.
Welche Rolle spielte das Ministerium für Staatssicherheit?
In politisch bedeutsamen Verfahren war das Ministerium für Staatssicherheit in Informationsgewinnung, Überwachung und Ermittlungen eingebunden. Die Zusammenarbeit mit Staatsanwaltschaft und Gerichten prägte die Verfolgung politischer Delikte.
Welche Strafen und Maßnahmen gab es?
Hauptsächlich Freiheits- und Geldstrafen, ergänzt durch Nebenfolgen wie Einziehung oder Aberkennung bestimmter Rechte. Zudem kamen Erziehungs- und Bewährungsmaßnahmen zur Anwendung, oft unter Einbindung von Betrieben oder Kollektiven.
Wie war das Jugendstrafrecht ausgestaltet?
Bei Jugendlichen stand die Erziehung im Vordergrund. Neben Strafen gab es erzieherische Maßnahmen, Auflagen und betreuende Einflussnahme durch Schule, Betrieb oder Jugendhilfe. In schweren Fällen waren freiheitsentziehende Maßnahmen möglich.
Was änderte sich nach 1989/1990?
Politisch geprägte Tatbestände wurden entkriminalisiert, Amnestien erlassen und zahlreiche Entscheidungen überprüft. Nach der Wiedervereinigung erfolgten Rehabilitierungen und die rechtliche Aufarbeitung von Unrechtsurteilen.