Begriff und Grundlagen des Stakeholder Value
Der Begriff Stakeholder Value beschreibt in der betriebswirtschaftlichen und rechtlichen Theorie das Unternehmenskonzept, nach dem zentrale Unternehmensentscheidungen nicht ausschließlich an den Interessen der Anteilseigner (Shareholder), sondern an den Interessen sämtlicher Anspruchsgruppen („Stakeholder“) ausgerichtet werden. Er steht damit im Gegensatz zum Shareholder-Value-Konzept, das die Maximierung des Werts für Kapitalgeber (Aktionäre) in den Vordergrund stellt.
Stakeholder sind gesetzlich, vertraglich oder faktisch mit einem Unternehmen verbundene und von dessen Handlungen direkt oder indirekt betroffene Gruppen oder Einzelpersonen. Zu diesen Anspruchsgruppen zählen unter anderem Mitarbeitende, Kunden, Lieferanten, Gläubiger sowie die Allgemeinheit.
Rechtliche Einordnung und Entwicklung
Historische Entwicklung
Das Stakeholder-Value-Konzept gewann insbesondere durch gesellschaftlichen Wertewandel und erhöhte regulatorische Anforderungen im Bereich der Unternehmensverantwortung (Corporate Social Responsibility, CSR) an Bedeutung. Vor allem im angloamerikanischen Rechtsraum wurde zunächst der Shareholder-Value-Ansatz favorisiert. Im deutschen und europäischen Gesellschaftsrecht ist hingegen eine breitere Orientierung an den Interessen verschiedener Beteiligter historisch tief verwurzelt.
Gesetzliche Grundlagen in Deutschland
Die rechtliche Grundlage für das Stakeholder-Value-Konzept findet sich insbesondere in verschiedenen Regelungen des Gesellschaftsrechts und des Arbeitsrechts.
Aktiengesetz (AktG)
Nach § 76 Abs. 1 AktG hat der Vorstand einer Aktiengesellschaft die Gesellschaft eigenverantwortlich zu leiten und dabei sowohl die Interessen der Aktionäre als auch die Voraussetzungen für das dauerhafte Gedeihen des Unternehmens zu beachten. Die Pflicht des Vorstands, auf den Bestand und die Entwicklung des Unternehmens Rücksicht zu nehmen, wird von der Rechtsprechung und Literatur so interpretiert, dass eine einseitige Ausrichtung auf Aktionärsinteressen rechtlich unzulässig ist.
Berücksichtigung sonstiger Anspruchsgruppen
Mitbestimmungsgesetze wie das Betriebsverfassungsgesetz (BetrVG) oder das Mitbestimmungsgesetz (MitbestG) verpflichten Unternehmen, Mitarbeitende durch Betriebsräte beziehungsweise Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat an unternehmerischen Entscheidungsprozessen zu beteiligen. Diese gesetzlichen Vorgaben erweitern den Adressatenkreis unternehmerischer Verantwortlichkeit und stärken das Stakeholder-Value-Prinzip.
Gläubigerschutz
Bestimmungen zum Gläubigerschutz, insbesondere in den Vorschriften der Insolvenzordnung (InsO) und §§ 30, 31 GmbHG (Kapitalerhaltung bei der GmbH), fordern eine Berücksichtigung der Interessen der Gläubiger. Die Verletzung dieser Pflichten kann zu zivilrechtlicher Haftung der Geschäftsleiter führen.
Lieferkettensorgfaltspflichten
Mit dem Inkrafttreten des Lieferkettensorgfaltspflichtengesetzes (LkSG) in Deutschland wird von Unternehmen verlangt, Menschenrechts- und Umweltstandards auch entlang ihrer Lieferketten zu berücksichtigen. Dadurch werden sowohl arbeitnehmerbezogene als auch gesellschaftliche Interessen maßgeblich in die unternehmerische Entscheidungspraxis einbezogen.
Europarechtliche Anforderungen
Auf europäischer Ebene existieren zahlreiche Richtlinien und Verordnungen, die das Stakeholder-Value-Prinzip stärken. Dazu gehören beispielsweise die CSR-Berichterstattungspflichten (CSR-Richtlinie 2014/95/EU), die Taxonomie-Verordnung (VO (EU) 2020/852) sowie aktuelle Entwicklungen wie die Corporate Sustainability Due Diligence Directive (CSDDD).
Stakeholder Value in der Unternehmensführung
Corporate Governance
Ein wichtiger Bereich, in dem der Stakeholder Value rechtliche Bedeutung erlangt, ist die Ausgestaltung der Corporate Governance. Kodizes wie der Deutsche Corporate Governance Kodex (DCGK) fordern eine ganzheitliche Unternehmensführung, die neben den Eigentümerinteressen auch die Belange weiterer Stakeholder integriert. In Entscheidungsprozessen sind demnach ökologische, soziale und gesellschaftliche Auswirkungen zu berücksichtigen.
Haftungsrechtliche Aspekte
Geschäftsleiter unterliegen zahlreichen Haftungsrisiken, wenn sie berechtigte Interessen von Stakeholdern bei ihrer Geschäftsführung verletzen. Dies gilt etwa bei pflichtwidriger Missachtung von Mitbestimmungsrechten, Umweltschutzvorschriften oder Gläubigerschutz. Im Extremfall kann dies zu Schadensersatzansprüchen oder sogar zur persönlichen Haftung führen.
Stakeholder Value und nachhaltige Unternehmensführung
Nachhaltigkeitsrechtliche Pflichten
Steigende regulatorische Anforderungen im Bereich der Nachhaltigkeit erhöhen auch die Notwendigkeit zur Berücksichtigung von Stakeholderinteressen im Unternehmensalltag. Umweltrechtliche, sozialrechtliche und menschenrechtliche Vorschriften verpflichten Unternehmen dazu, Nachhaltigkeitsaspekte systematisch zu beachten und zu dokumentieren.
Berichtspflichten
Unternehmen unterliegen zunehmend gesetzlichen Berichtspflichten (z. B. durch das LkSG oder das CSR-Richtlinien-Umsetzungsgesetz), die Transparenz hinsichtlich der Auswirkungen des geschäftlichen Handelns auf Stakeholdergruppen herstellen sollen. Verstöße gegen diese Berichtspflichten können mit Bußgeldern und weiteren Sanktionen geahndet werden.
Internationale Perspektiven und Vergleiche
In den USA regeln Gerichtsurteile die Berücksichtigung von Stakeholderinteressen oft restriktiver als in Europa. Während dort tendenziell die Interessen der Anteilseigner vorherrschen, besteht in der Europäischen Union ein breiteres Verständnis von unternehmerischer Verantwortung. Landesrechtliche Unterschiede ergeben sich auch im Umfang der Mitbestimmungsrechte von Arbeitnehmenden und der Gewichtung gesellschaftlicher Belange in der Unternehmensführung.
Fazit
Der Stakeholder Value ist ein ganzheitlicher Ansatz der Unternehmensführung, der verbindlich gesetzliche und faktische Interessen unterschiedlicher Anspruchsgruppen in die Entscheidungsfindung einbezieht. Deutsche und europäische Gesetzgeber unterstützen das Stakeholder-Value-Prinzip durch zahlreiche Regelungen im Gesellschafts-, Arbeits-, Umwelt- und Nachhaltigkeitsrecht. Die Nichtbeachtung berechtigter Stakeholderinteressen kann rechtliche Konsequenzen nach sich ziehen. Die kontinuierliche Weiterentwicklung von gesetzlichen Rahmenbedingungen, insbesondere im Bereich Nachhaltigkeit und gesellschaftliche Verantwortung, wird die Bedeutung des Stakeholder Value im Unternehmensrecht weiter stärken.
Häufig gestellte Fragen
Inwiefern existieren gesetzliche Verpflichtungen für Unternehmen, Stakeholder-Interessen zu berücksichtigen?
Unternehmen sind in Deutschland und vielen anderen Jurisdiktionen primär verpflichtet, die Interessen ihrer Gesellschafter oder Aktionäre zu wahren (Shareholder-Value-Prinzip). Dennoch ergibt sich insbesondere aus dem Aktiengesetz (§ 93 AktG für Vorstandsmitglieder einer AG) und dem GmbH-Gesetz (§ 43 GmbHG für Geschäftsführer), dass auch Interessen anderer Stakeholder – wie etwa Arbeitnehmer, Gläubiger, Kunden oder die Allgemeinheit – zu berücksichtigen sind, sofern diese im Unternehmen berührt werden. Das deutsche Mitbestimmungsrecht (§ 76 Abs. 1 AktG) verpflichtet beispielsweise den Vorstand, das Unternehmen „unter eigener Verantwortung zum Wohle der Gesellschaft“ zu leiten, was implizit eine Abwägung verschiedener Interessen verlangt. Darüber hinaus gibt es zahlreiche Spezialgesetze wie das Betriebsverfassungsgesetz, das Mitspracherechte für Arbeitnehmer vorsieht. International, etwa durch die EU-Richtlinie zur nichtfinanziellen Berichterstattung (2014/95/EU), sind große Unternehmen zudem verpflichtet, nichtfinanzielle Aspekte und deren Auswirkungen auf Stakeholder zu dokumentieren. Damit ergibt sich ein umfassender rechtlicher Rahmen, der Stakeholder-Interessen – wenn auch nicht gleichrangig mit den Gesellschafterinteressen – rechtlich integriert.
Gibt es Haftungsrisiken für die Unternehmensleitung bei Missachtung von Stakeholder-Interessen?
Die Unternehmensleitung kann haftungsrechtlich belangt werden, wenn die Missachtung von Stakeholder-Interessen zu einem Organisationsverschulden oder Verstoß gegen gesetzliche Pflichten führt. Vernachlässigt ein Vorstand beispielsweise umweltrechtliche Vorgaben oder arbeitsrechtliche Bestimmungen, so kann dies zu Bußgeldern, Strafverfahren oder zivilrechtlicher Haftung führen. Das gilt besonders dann, wenn das Verhalten nicht nur gegen allgemeine Sorgfaltspflichten (§ 93 Abs. 1 AktG), sondern auch gegen konkrete Gesetzesnormen verstößt. Insbesondere im Fall insolvenzrechtlicher Überschuldung (z. B. bei Gläubigerinteressen) oder bei Pflichtverletzungen gegenüber Arbeitnehmern (z. B. infolge mangelnder Arbeitssicherheit) bestehen erhebliche Haftungsrisiken für die Leitungsorgane.
Welche Rolle spielen Stakeholder im Zusammenhang mit Corporate Governance Kodizes?
Der Deutsche Corporate Governance Kodex (DCGK) und ähnliche Regelwerke betonen die Bedeutung eines ausgewogenen Verhältnisses zwischen Unternehmensinteressen, Aktionärsinteressen und Stakeholder-Interessen. Zwar handelt es sich hierbei rechtlich meist um sogenannte „weiche“ Regulierung (Soft Law), doch wird von börsennotierten Unternehmen erwartet, die Beachtung der Kodexempfehlungen transparent zu erklären oder Abweichungen zu begründen (comply or explain-Prinzip, § 161 AktG). Eine Nichtbeachtung der Stakeholder-Perspektive kann Reputationsrisiken sowie mittelbar haftungsrechtliche Konsequenzen nach sich ziehen, falls dies zu Pflichtverletzungen oder Gesetzesverstößen führt.
Wie werden Stakeholderrechte durch Sondergesetze geschützt, und gibt es explizite Beteiligungsrechte?
Bestimmte Stakeholdergruppen genießen rechtlichen Schutz und Beteiligungsrechte durch spezielle Gesetze. Für Arbeitnehmer gelten umfangreiche Beteiligungsrechte aus dem Betriebsverfassungsgesetz (BetrVG) und Mitbestimmungsgesetz (MitbestG), darunter Informations-, Beratungs- und Mitbestimmungsrechte im Aufsichtsrat. Für Umweltbelange existieren Beteiligungsrechte nach dem Bundes-Immissionsschutzgesetz (BImSchG) und dem Umwelt-Rechtsbehelfsgesetz. Verbraucherschutzgesetze geben Kunden Möglichkeiten, sich bei Vertragsverletzungen zu wehren, und Gläubigerinteressen sind insbesondere im Insolvenzrecht (§§ 38 ff. InsO) geschützt. Solche gesetzlichen Regelungen verpflichten Unternehmen dazu, die Interessen der jeweiligen Stakeholdergruppe strukturell und prozessual zu berücksichtigen.
Wie werden Verstöße gegen Stakeholderrechte sanktioniert?
Verstöße gegen gesetzlich geschützte Stakeholderrechte können durch eine Vielzahl von Sanktionen geahndet werden. Dies reicht von aufsichtsrechtlichen Maßnahmen, über Bußgelder und Schadensersatzklagen bis hin zu strafrechtlicher Verfolgung der verantwortlichen Personen. Zudem können Stakeholder unter Umständen klagebefugt sein – dies betrifft etwa Arbeitnehmervertretungen, Umweltverbände oder Verbraucherorganisationen, die nach § 8 ff. UKlaG (Unterlassungsklagengesetz) Verbandsklagen einreichen können. Darüber hinaus drohen Reputationsverluste, die wiederum wirtschaftliche Sanktionen nach sich ziehen können.
Welche Berichtspflichten bestehen im Hinblick auf Stakeholderbelange?
Gesetzliche Berichtspflichten, die Stakeholderbelange betreffen, ergeben sich insbesondere aus der CSR-Richtlinie-Umsetzungsgesetz (CSR-RUG) und der EU-Richtlinie zur nichtfinanziellen Berichterstattung. Große Unternehmen sind verpflichtet, regelmäßig über Umwelt-, Sozial- und Arbeitnehmerbelange, Menschenrechte, Korruptionsbekämpfung und Diversität zu berichten. Diese Angaben müssen in den (Konzern-)Lagebericht (§§ 289b ff., 315b HGB) aufgenommen werden, was eine Transparenz über die Berücksichtigung von Stakeholderinteressen rechtlich vorschreibt und über entsprechende Offenlegungspflichten durch die Prüfung gesichert wird.