Legal Lexikon

Wiki»Legal Lexikon»Strafrecht»Sittlichkeitsdelikte

Sittlichkeitsdelikte


Begriff und Definition von Sittlichkeitsdelikten

Sittlichkeitsdelikte sind rechtliche Tatbestände, die Verstöße gegen die sogenannte Sittlichkeit, also gegen die anerkannten Moral- und Ethikvorstellungen einer Gesellschaft, zum Gegenstand haben. Historisch und im Sprachgebrauch handelt es sich dabei insbesondere um Strafvorschriften, die den Schutz der sexuellen Selbstbestimmung, der öffentlichen Moral und der Integrität des Menschen bezwecken. Der Begriff selbst findet heutzutage im geltenden Gesetzestext keine unmittelbare Verwendung mehr, ist aber im straf- und rechtshistorischen Zusammenhang sowie in der Literatur weiterhin gebräuchlich.

Historische Entwicklung der Sittlichkeitsdelikte

Entstehung und Entwicklung im Strafrecht

Die Einordnung bestimmter Verhaltensweisen als Sittlichkeitsdelikte ist eng mit gesellschaftlichen Normen verbunden und unterlag erheblichen historischen Veränderungen. Bereits in frühen Kodifikationen – wie den Landrechten vergangener Jahrhunderte – waren Handlungen, die gegen das empfundene Sittlichkeitsgefühl verstießen, strafbewehrt. Insbesondere Sexualdelikte, Ehebruch, Unzucht und Homosexualität galten lange Zeit als Sittlichkeitsvergehen.

Mit der Entstehung des modernen Strafrechts, insbesondere mit dem Inkrafttreten des Deutschen Strafgesetzbuches (StGB) im Jahr 1871, wurden diese Delikte systematisiert und unter bestimmten Tatbeständen normiert. Die gesellschaftlichen Einstellungswandel, etwa zu Fragen der Homosexualität und Prostitution, führten wiederholt zu Änderungen und Anpassungen.

Bedeutungswandel und Modernisierung

Im Laufe des 20. Jahrhunderts entwickelte sich die Rechtsprechung und Gesetzgebung immer mehr weg von einer abstrakten Sittenorientierung hin zum Schutz individueller Rechtsgüter, namentlich der sexuellen Selbstbestimmung oder der Unversehrtheit von Kindern und Jugendlichen. Viele klassische Sittlichkeitsdelikte wurden dekriminalisiert oder durch Tatbestände ersetzt, die einen konkreten Schutz individueller Rechte bezwecken.

Systematik und Einordnung im Strafgesetzbuch

Straftatbestände mit Bezug zur „Sittlichkeit“

Auch wenn der Ausdruck „Sittlichkeitsdelikt“ heute im Gesetzestext kaum Verwendung findet, sind die Sachverhalte weiterhin im Strafgesetzbuch schwerpunktmäßig im Dreizehnten Abschnitt des Besonderen Teils des StGB – „Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung“ (§§ 174-184k StGB) normiert. Dazu gehören insbesondere:

Sexueller Missbrauch von Kindern und Schutzbefohlenen (§§ 174-176c StGB)

Diese Vorschriften schützen insbesondere minderjährige und schutzbedürftige Personen vor sexuellen Übergriffen und Ausbeutung.

Sexuelle Nötigung, Vergewaltigung (§ 177 StGB)

Der Schutz der sexuellen Selbstbestimmung wird durch die Strafbarkeit von Handlungen gegen den Willen der betroffenen Person gewährleistet.

Exhibitionistische Handlungen, Verbreitung pornografischer Schriften (§ 183 ff. StGB)

Hierunter fallen Handlungen, bei denen gegen das sittliche Empfinden in der Öffentlichkeit, insbesondere durch zur Schau stellen geschlechtlicher Handlungen oder das zugänglich machen pornografischer Inhalte an Kinder und Jugendliche, verstoßen wird.

Verbot gewisser Formen der Prostitution und Zuhälterei (§§ 180a, 181a StGB a.F.)

Während Teile dieser Vorschriften reformiert oder aufgehoben wurden, bestehen besondere Schutzvorschriften für die Prostitution Minderjähriger sowie gegen ausbeuterische Zuhälterei.

Weitere relevante Tatbestände

Einige Sittlichkeitsdelikte können auch nach anderen Vorschriften verfolgt werden. Beispielsweise finden sich im Jugendmedienschutzrecht Bestimmungen gegen die Verbreitung jugendgefährdender Schriften.

Ziele und Rechtsgüter

Schutz der sexuellen Selbstbestimmung

Zentrales Rechtsgut der heutigen Sittlichkeitsdelikte ist der Schutz der individuellen sexuellen Selbstbestimmung. Dies umfasst sowohl Schutz von Minderjährigen und schutzbefohlenen Personen als auch Schutz Erwachsener vor sexuellen Übergriffen.

Schutz öffentlicher Moral: Öffentlichkeitsdelikte

Daneben sind Normen erhalten geblieben, die explizit den Schutz der öffentlichen Moral und des allgemeinen Sittlichkeitsgefühls bezwecken, etwa durch die Ahndung von exhibitionistischen Handlungen oder öffentlichen sexuellen Handlungen.

Abgrenzung zu anderen Delikten

Unterschied zu Gewaltdelikten und anderen Straftatbeständen

Die Abgrenzung von Sittlichkeitsdelikten zu Gewalt- und Eigentumsdelikten erfolgt anhand des geschützten Rechtsguts: Liegt der Fokus auf der sexuellen Integrität oder dem sittlichen Empfinden, handelt es sich im Regelfall um ein Sittlichkeitsdelikt, auch wenn Überschneidungen denkbar sind – so etwa bei sexualisierter Gewalt.

Wegfall „unmoralischer“ Straftatbestände

Aus heutiger Sicht nicht mehr als Sittlichkeitsdelikte gelten frühere Tatbestände wie Ehebruch oder gleichgeschlechtliche Sexualität, die in ihrer historischen Fassung lediglich gegen damalige Moralvorstellungen verstießen, heute jedoch keine strafrechtliche Relevanz mehr besitzen.

Strafmaß und Sanktionen

Das Strafmaß für Sittlichkeitsdelikte variiert je nach Schwere der Tat erheblich und reicht von Geldstrafen bei leichteren Vergehen über mehrjährige Freiheitsstrafen bis zu besonders hohen Strafandrohungen in Fällen schwerwiegender sexualbezogener Gewalt- oder Missbrauchstaten. Die konkrete Strafzumessung berücksichtigt neben dem Tatgeschehen auch die Schutzbedürftigkeit des Opfers sowie etwaige Vorstrafen und die Tatmotivation.

Sittlichkeitsdelikte im internationalen Vergleich

Rechtliche Entwicklung in anderen Rechtsordnungen

Auch in anderen Ländern und Rechtskreisen gibt es vergleichbare Regelungen, die jedoch im Einzelnen erheblichen Unterschieden unterliegen. Während in westlichen Demokratien vielfach eine Liberalisierung und Fokussierung auf den Schutz individueller Rechte erfolgt ist, bleiben Sittlichkeitsdelikte in anderen Staaten weiterhin weit gefasst und von tradierten Moralvorstellungen geprägt.

Kritische Bewertung und aktuelle Diskussionen

Sittlichkeitsdelikte zwischen Individual- und Kollektivschutz

Die Diskussion um Sittlichkeitsdelikte spiegelt Kontroversen wider zwischen dem Schutz individueller Rechte einerseits und dem Bedürfnis einer Gesellschaft, gewisse moralisch-ethische Standards zu wahren andererseits.

Kritik und Reformbestrebungen

Kritiker sehen die Gefahr, dass unter dem Deckmantel des Sittenschutzes individuelle Freiheiten unangemessen eingeschränkt werden können. So werden Reformen gefordert, die ausschließlich individuelle Rechtsgüter und nicht abstrakte Sittennormen schützen.

Literaturhinweis zur Vertiefung

  • Fischer, Thomas: Strafgesetzbuch und Nebengesetze, aktueller Kommentar.
  • Roxin, Claus: Strafrecht Allgemeiner Teil.
  • Schönke/Schröder: Strafgesetzbuch Kommentar.

Zusammenfassung

Sittlichkeitsdelikte bezeichnen einen historisch gewachsenen, heute vor allem auf den Schutz sexueller Selbstbestimmung und Integrität gerichteten Bereich des Strafrechts. Während der Begriff selbst im geltenden Recht kaum noch verwendet wird, subsumieren sich darunter zahlreiche Tatbestände, die den Schutz individueller und gesellschaftlicher Rechtsgüter vor Verstößen gegen anerkannte ethische und moralische Normen bezwecken. Gesellschaftlicher Wandel und juristische Entwicklungen haben in den letzten Jahrzehnten zu einer deutlichen Verschiebung des Schutzbereichs und einer Reduktion rein sittlich motivierter Strafvorschriften geführt.

Häufig gestellte Fragen

Wie unterscheiden sich Sittlichkeitsdelikte von anderen Straftaten im Strafgesetzbuch?

Sittlichkeitsdelikte, auch Sexualdelikte genannt, unterscheiden sich insbesondere durch ihren Bezug auf die sexuelle Selbstbestimmung des Opfers und die damit verbundene Schutzfunktion des Gesetzgebers. Sie sind typischerweise in den §§ 174 ff. StGB geregelt und betreffen rechtswidrige Handlungen, die die sexuelle Integrität und freie Willensentschließung des Opfers verletzen. Im Unterschied zu anderen Straftaten wie Eigentums- oder Vermögensdelikten besteht das geschützte Rechtsgut bei Sittlichkeitsdelikten vordergründig in der sexuellen Unversehrtheit, der persönlichen Freiheit sowie dem sozialen Ansehen der betroffenen Person. Viele Sittlichkeitsdelikte beinhalten auch spezifische Strafzumessungsvorschriften, wie etwa besonders schwere Fälle, minderjährige oder besonders schutzbedürftige Opfer und die Möglichkeit des Ausschlusses des öffentlichen Interesses (z.B. bei Privatklagedelikten). Aufgrund der psychischen Auswirkungen auf das Opfer und die gesellschaftlichen Tabuisierungen sind diese Delikte in der Strafverfolgung oftmals mit besonderen prozessualen Anforderungen versehen, beispielsweise im Bereich Schutz der Opferrechte, Anonymisierung oder Aussagepsychologie.

Wann verjährt ein Sittlichkeitsdelikt und wie unterscheiden sich die Verjährungsfristen?

Die Verjährungsfristen für Sittlichkeitsdelikte hängen maßgeblich von der Schwere des konkreten Delikts und der potentiellen Strafandrohung ab. Grundsätzlich richtet sich die Verjährung nach § 78 StGB. So beträgt die Verjährungsfrist bei Verbrechen wie schwerem sexuellen Missbrauch in der Regel 20 Jahre, während leichtere Delikte, wie Exhibitionismus (§ 183 StGB), eine Verjährungsfrist von fünf Jahren vorsehen können. Bei bestimmten Taten, wie besonders schweren Formen des sexuellen Missbrauchs an Kindern (§ 176c StGB) oder Vergewaltigung mit Todesfolge, kann die Verjährung sogar bis zu 30 Jahre oder in besonders schweren Fällen komplett aufgehoben sein. Zudem beginnt bei Opfern, die zur Tatzeit minderjährig waren, die Verjährungsfrist gemäß § 78b Abs. 1 Nr. 1 StGB erst mit Vollendung des 30. Lebensjahres des Opfers zu laufen. Dies trägt dem Umstand Rechnung, dass die Aufdeckung solcher Taten oftmals erst Jahre oder Jahrzehnte später erfolgt.

Welche Beweismittel sind bei der Aufklärung von Sittlichkeitsdelikten zulässig und üblich?

Bei Sittlichkeitsdelikten ist die Beweislage durch die meist fehlenden objektiven Spuren und Zeugen häufig problematisch. Hauptbeweismittel sind in der Regel die Aussagen des Opfers und des Beschuldigten. Da keine Beweisregeln bestehen, ist der Richter verpflichtet, das Verfahren der freien Beweiswürdigung (§ 261 StPO) anzuwenden. Ergänzende Beweismittel können ärztliche Gutachten, rechtsmedizinische Befunde (z.B. Spermaspuren, Verletzungen), psychologische Gutachten zur Glaubhaftigkeit der Aussage, digitale Nachrichten, Chats oder Videoaufzeichnungen sein. Sachverständigengutachten gewinnen insbesondere bei Aussage-gegen-Aussage-Konstellationen an Bedeutung. Zeugen, die mittelbare Wahrnehmungen äußern (z.B. Veränderungen im Verhalten des Opfers), können relevant sein, allerdings ist hierbei stets kritisch zu würdigen, inwieweit deren Beobachtungen Rückschlüsse auf den Tatverlauf zulassen.

Welche besonderen Rechte haben Opfer von Sittlichkeitsdelikten im Strafverfahren?

Opfer von Sittlichkeitsdelikten genießen im Strafverfahren besondere Schutzrechte. Dazu zählen insbesondere das Recht auf eine psychosoziale Prozessbegleitung, die Möglichkeit der Nebenklage (§ 395 StPO), das Recht auf anwaltlichen Beistand, die Anspruchnahme von Zeugenbeiständen sowie spezielle Schutzmaßnahmen im Rahmen der Gerichtsverhandlung, wie etwa die audiovisuelle Vernehmung (§ 58a StPO) oder eine Vernehmung unter Ausschluss der Öffentlichkeit (§ 171b GVG). Darüber hinaus kann das Gericht zur Vermeidung einer weiteren Traumatisierung eine direkte Konfrontation des Opfers mit dem Beschuldigten verhindern (Trennungsgebot). Opfer haben zudem Anspruch auf Unterrichtung über den Fortgang des Verfahrens sowie auf Informationen zu ihnen zustehenden Opferentschädigungsleistungen.

Welche Folgen hat eine Verurteilung wegen eines Sittlichkeitsdelikts im Hinblick auf das Führungszeugnis und das Berufsleben?

Eine rechtskräftige Verurteilung wegen eines Sittlichkeitsdelikts wird in der Regel in das polizeiliche Führungszeugnis eingetragen, wobei die Dauer der Eintragung nach §§ 34 ff. BZRG von der Höhe der verhängten Strafe abhängt. Besonders gravierend sind die berufsrechtlichen Konsequenzen, insbesondere für Tätigkeiten mit Kontakt zu Kindern oder Jugendlichen. Nach § 72a SGB VIII wird Personen, die wegen eines solchen Delikts verurteilt wurden, regelmäßig die Tätigkeit in der Kinder- und Jugendhilfe sowie in anderen sensiblen Bereichen untersagt. Auch ein Berufsverbot gem. § 70 StGB kann ausgesprochen werden, wenn zu befürchten ist, dass der oder die Verurteilte die Straftat im Rahmen einer beruflichen Tätigkeit wiederholt. Zudem können Verurteilungen zu erheblichen rufschädigenden Auswirkungen und gesellschaftlicher Ausgrenzung führen.

Gibt es Unterschiede im Strafmaß zwischen Erwachsenen- und Jugendstraftätern bei Sittlichkeitsdelikten?

Ja, das Strafmaß für jugendliche und erwachsene Täter unterscheidet sich wesentlich. Auf Jugendliche (im Sinne des JGG = 14 bis 17 Jahre) und heranwachsende Täter (18 bis 20 Jahre, wenn sog. Reifeverzögerung vorliegt) findet das Jugendgerichtsgesetz (JGG) Anwendung. Hier steht vorrangig der erzieherische Gedanke im Vordergrund, sodass Sanktionen eher milder ausfallen und soziale Maßnahmen (wie Erziehungsmaßregeln, Zuchtmittel, Jugendarrest) im Vordergrund stehen. Freiheitsstrafen werden nur bei schwersten Vergehen verhängt. Bei Erwachsenen dagegen erfolgt die Strafzumessung nach Maßgabe des StGB, wobei vor allem Spezialprävention und die Schwere des Unrechts im Fokus stehen. Die Straferwartungen nach Erwachsenenstrafrecht sind deutlich höher und können, insbesondere bei gravierenden Sittlichkeitsdelikten, zu langjährigen Freiheitsstrafen führen.

Inwieweit können Sittlichkeitsdelikte im Ausland verfolgt werden?

Nach deutschem Recht besteht unter bestimmten Voraussetzungen die Möglichkeit, in Deutschland Sittlichkeitsdelikte zu verfolgen, die im Ausland begangen wurden (sog. Auslandstaten). Gemäß § 7 Abs. 2 Nr. 1 StGB wird die Strafbarkeit deutscher Staatsbürger auch im Ausland nach deutschem Recht begründet, sofern die Tat am Tatort mit Strafe bedroht ist. Weiterhin werden gemäß § 5 Nr. 8 StGB bestimmte Sexualdelikte mit Bezug zu Minderjährigen unabhängig vom Tatort verfolgt (Weltrechtsprinzip), was vor allem dem Kampf gegen Sextourismus dient und dem Schutz globaler Rechtsgüter dient. Voraussetzung ist häufig die Anwesenheit des Täters auf deutschem Boden. Internationale Rechtshilfe und Auslieferungsabkommen können die Strafverfolgung zusätzlich erleichtern.