Begriff und Zweck von Rom II
Rom II bezeichnet eine europäische Regelung, die festlegt, welches materielle Recht auf außervertragliche Schuldverhältnisse mit grenzüberschreitendem Bezug anzuwenden ist. Es geht dabei nicht um die Zuständigkeit von Gerichten oder die Vollstreckung von Entscheidungen, sondern ausschließlich um die Frage, nach welchem nationalen Recht ein Anspruch aus einer Schädigung oder einem vergleichbaren Ereignis zu beurteilen ist. Ziel ist, vorhersehbare und einheitliche Anknüpfungen zu schaffen, Rechtszersplitterung zu vermeiden und den Binnenmarkt zu unterstützen.
Anwendungsbereich
Sachlicher Anwendungsbereich
Rom II erfasst grundsätzlich außervertragliche Schuldverhältnisse. Dazu gehören vor allem Ansprüche aus unerlaubter Handlung sowie bestimmte Anspruchsgruppen, die ohne Vertrag entstehen oder neben einen Vertrag treten.
Typische Fallgruppen
- Schädigungen durch Unfälle, etwa im Straßenverkehr
- Produkthaftung für fehlerhafte Waren
- Umweltschäden
- Verstöße gegen Regeln des lauteren Wettbewerbs und gegen Kollektivinteressen von Verbraucherinnen und Verbrauchern
- Eingriffe in Rechte des geistigen Eigentums
- Ungerechtfertigte Bereicherung
- Geschäftsführung ohne Auftrag
- Haftung im Vorfeld eines Vertragsabschlusses (vorvertragliche Haftung)
Ausnahmen
Bestimmte Materien sind ausgenommen. Dazu zählen insbesondere familien- und erbrechtliche Fragen, gesellschaftsinterne Angelegenheiten, Beweis- und Verfahrensrecht sowie die Verletzung von Persönlichkeitsrechten durch Medieninhalte. Diese Bereiche werden durch andere Regeln oder das Recht des angerufenen Staates bestimmt.
Räumlicher und zeitlicher Geltungsbereich
Rom II gilt in grenzüberschreitenden Konstellationen und verweist auf das Recht eines bestimmten Staates. Es findet unabhängig davon Anwendung, ob das danach berufene Recht zu einem Mitgliedstaat oder zu einem Drittstaat gehört (universelle Anwendung). Für rein innerstaatliche Sachverhalte bleibt das nationale Recht maßgeblich.
Kollisionsrechtliche Grundprinzipien
Allgemeine Anknüpfung bei unerlaubter Handlung
Ausgangspunkt ist das Recht des Staates, in dem der Schaden eintritt. Haben Schädiger und Geschädigte ihren gewöhnlichen Aufenthalt im selben Staat, so gilt in der Regel das Recht dieses Staates. In Ausnahmefällen kann ein offensichtlich engerer Zusammenhang zu einem anderen Staat eine abweichende Anknüpfung rechtfertigen.
Parteiabrede (Rechtswahl)
Für außervertragliche Schuldverhältnisse kann das anwendbare Recht durch Vereinbarung bestimmt werden. Dies ist nur in engen Grenzen möglich, um schutzwürdige Interessen, insbesondere gegenüber nicht gleichstarken Parteien und unbeteiligten Dritten, nicht zu beeinträchtigen. Zwingende Schutzvorschriften eines Staates bleiben unberührt.
Ausschluss der Rück- und Weiterverweisung
Rom II verweist auf das materielle Recht des berufenen Staates. Verweisungen dieses Rechts auf ein anderes Recht (sogenannte Rück- oder Weiterverweisung) bleiben außer Betracht.
Besondere Anknüpfungen
Produkthaftung
Bei Schäden durch fehlerhafte Produkte wird vor allem darauf abgestellt, wo die geschädigte Person ihren gewöhnlichen Aufenthalt hat und ob das Produkt dort in Verkehr gebracht wurde. Sind diese Voraussetzungen nicht erfüllt, kommen andere Anknüpfungen in Betracht, etwa der Ort des Erwerbs oder der Schadenseintrittsort.
Unlauterer Wettbewerb und Kollektivinteressen
Bei Beeinträchtigungen des Wettbewerbs oder kollektiver Verbraucherinteressen ist grundsätzlich das Recht des Marktes maßgeblich, der betroffen ist. Bei grenzüberschreitenden Maßnahmen können mehrere Marktordnungen parallel berufen sein.
Umweltschäden
Für Umweltschäden ist regelmäßig das Recht des Ortes maßgeblich, an dem der Schaden eintritt. Unter bestimmten Voraussetzungen kann auch das Recht des Ortes des schädigenden Ereignisses herangezogen werden, um den Schutz Betroffener zu stärken.
Geistiges Eigentum
Bei Eingriffen in Rechte des geistigen Eigentums gilt das Recht des Staates, für den Schutz beansprucht wird. Dies trägt dem territorialen Charakter solcher Rechte Rechnung.
Ungerechtfertigte Bereicherung und Geschäftsführung ohne Auftrag
Diese Ansprüche knüpfen häufig an das Recht an, das dem zugrunde liegenden Verhältnis am nächsten steht. Besteht eine enge Verbindung zu einem anderen Rechtsverhältnis, folgt die Anknüpfung regelmäßig diesem Bezug, ansonsten gilt das Recht mit der engsten Verbindung.
Vorvertragliche Haftung
Haftung im Zusammenhang mit Vertragsverhandlungen ohne zustande gekommenen Vertrag wird grundsätzlich nach dem Recht beurteilt, das zu dem in Aussicht genommenen Vertrag die engste Verbindung aufweist.
Umfang der Rechtsanwendung
Was das anwendbare Recht regelt
- Voraussetzungen für das Entstehen eines Anspruchs und Haftungsgründe
- Haftungsausschlüsse, Rechtfertigungs- und Entschuldigungsgründe
- Mitverschulden und Haftungsquoten
- Art und Umfang des ersatzfähigen Schadens, einschließlich Vermögens- und immaterieller Schäden
- Schadensbemessung und Zinsen
- Verjährung und Ausschlussfristen
- Übergang von Ansprüchen, Abtretung, Gesamtschuld und Innenausgleich
Eingriffsnormen und öffentliche Ordnung
Bestimmte zwingende Vorschriften eines Staates beanspruchen unabhängig vom berufenen Recht Geltung. Zudem kann die Anwendung ausländischen Rechts versagt werden, wenn dessen Ergebnis mit grundlegenden Wertungen der öffentlichen Ordnung des Gerichtsstaates unvereinbar wäre.
Mehrpersonenverhältnisse, Gesamtschuld und Übergang
Bei mehreren Verantwortlichen oder bei einem gesetzlichen Übergang von Ansprüchen (etwa auf Versicherer) bestimmt das berufene Recht, ob und in welchem Umfang Ausgleichs- und Rückgriffsansprüche bestehen und wie sie zueinander in Beziehung stehen.
Verhältnis zu anderen Rechtsakten
Rom II regelt ausschließlich das maßgebliche materielle Recht für außervertragliche Schuldverhältnisse. Vertragsverhältnisse werden durch eine eigenständige europäische Regelung erfasst. Fragen der gerichtlichen Zuständigkeit und der Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen richten sich nach gesonderten Instrumenten. Diese Bereiche sind voneinander unabhängig zu prüfen.
Durchsetzung und Verfahrensrecht
Rom II enthält keine Regeln zum Verfahren. Beweisfragen, Prozessablauf, Kosten und ähnliche Punkte richten sich nach dem Recht des angerufenen Gerichts. Die Beurteilung, welche Schadenspositionen dem Grunde und der Höhe nach ersatzfähig sind, ergibt sich aus dem nach Rom II berufenen materiellen Recht.
Häufig gestellte Fragen
Was umfasst Rom II inhaltlich?
Rom II legt fest, welches nationale materielle Recht auf außervertragliche Schuldverhältnisse mit Auslandsbezug anzuwenden ist. Erfasst werden insbesondere Ansprüche aus Schädigungen, Produkthaftung, Umweltbeeinträchtigungen, unlauterem Wettbewerb, Eingriffen in geistige Eigentumsrechte, ungerechtfertigter Bereicherung, Geschäftsführung ohne Auftrag und vorvertraglicher Haftung.
Gilt Rom II auch, wenn das berufene Recht aus einem Drittstaat stammt?
Ja. Rom II sieht eine universelle Anwendung vor. Das bedeutet, dass auch das Recht eines Drittstaates maßgeblich sein kann, wenn die Anknüpfungsregeln darauf verweisen.
Welches Recht gilt typischerweise bei einem Verkehrsunfall im Ausland?
Regelmäßig ist das Recht des Staates maßgeblich, in dem der Schaden eingetreten ist. Haben alle Beteiligten ihren gewöhnlichen Aufenthalt in demselben Staat, kann ausnahmsweise dessen Recht vorrangig sein. Bei einer besonders engen Verbindung zu einem anderen Staat ist eine abweichende Anknüpfung möglich.
Können die Beteiligten das anwendbare Recht selbst wählen?
Eine Rechtswahl ist in gewissen Grenzen möglich. Sie darf schutzwürdige Interessen nicht beeinträchtigen und kann zwingende Vorschriften einzelner Staaten nicht ausschließen. In vielen Konstellationen kommt eine Vereinbarung erst nach dem schädigenden Ereignis in Betracht.
Wie verhält sich Rom II zu Vertragsrecht und Zuständigkeit der Gerichte?
Rom II betrifft nur außervertragliche Schuldverhältnisse. Vertragsfragen werden durch eine eigene europäische Regelung erfasst. Die Zuständigkeit der Gerichte sowie Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen richten sich nach anderen Instrumenten und nicht nach Rom II.
Erfasst Rom II auch Verletzungen von Persönlichkeitsrechten im Internet?
Verletzungen von Persönlichkeitsrechten durch Medieninhalte werden von Rom II nicht erfasst. Solche Sachverhalte unterliegen anderen Anknüpfungsmechanismen oder dem Recht des angerufenen Staates.
Welche Rolle spielen zwingende Normen und die öffentliche Ordnung?
Zwingende Vorschriften eines Staates können unabhängig vom berufenen Recht Geltung beanspruchen. Außerdem kann die Anwendung ausländischen Rechts ausgeschlossen sein, wenn das Ergebnis grundlegenden Wertungen der öffentlichen Ordnung widerspricht.