Definition und Bedeutung des Rechtszugs
Der Begriff Rechtszug bezeichnet im deutschen Zivil- und Strafprozessrecht die Gesamtheit aller Verfahrenshandlungen einschließlich sämtlicher Sach- und Streitgegenstände, die innerhalb eines gerichtlichen Instanzenzuges vom Eingang der Klage bis zur abschließenden Entscheidung durch das mit dem Rechtsstreit befasste Gericht behandelt werden. Der Rechtszug umfasst somit alles, was inhaltlich und verfahrensmäßig in einer Instanz eines gerichtlichen Verfahrens verhandelt und entschieden wird. Der Begriff ist zentral für das Verständnis der gerichtlichen Instanzenstruktur und Prozessführung und spielt insbesondere im Hinblick auf Rechtsschutz, Rechtskraft, Rechtsmittel und Verfahrensfortführung eine bedeutende Rolle.
Inhalt und Umfang des Rechtszugs
Abgrenzung zum Instanzenzug
Während der Instanzenzug die Gesamtheit aller Instanzen bezeichnet, die zur Entscheidung eines bestimmten Rechtsstreits sachlich und funktionell berufen sind (z.B. Amtsgericht, Landgericht und Oberlandesgericht im Zivilprozess), bezieht sich der Rechtszug konkret auf das Verfahren vor einer bestimmten Instanz. Jeder Instanzzug besteht somit aus mehreren Rechtszügen, wobei jeder Rechtszug mit einer neuen Instanz beginnt und mit deren abschließender Entscheidung endet.
Beginn und Ende des Rechtszugs
- Beginn: Ein Rechtszug wird durch die Erhebung einer Klage oder einen Antrag bei einem Gericht eröffnet. Im Strafverfahren entspricht dies regelmäßig der Zulassung der Anklage.
- Ende: Der Rechtszug endet mit einer instanzabschließenden Entscheidung des Gerichts, etwa einem Urteil, Beschluss oder einer anderweitigen Erledigung des Verfahrens (z.B. durch Klagerücknahme oder Vergleich).
Inhaltlicher Umfang
Der Rechtszug umfasst sämtliche prozessualen Vorgänge einschließlich
- Sachverhaltsfeststellung
- Beweisaufnahme
- Anträge und Erklärungen der Parteien
- prozessleitende und abschließende Entscheidungen des Gerichts
- Einwendungen und Einreden
- Nebenverfahren, soweit sie mit dem Hauptverfahren in Zusammenhang stehen
Rechtszug und Rechtsmittel
Bedeutung für die Einlegung von Rechtsmitteln
Dem Begriff des Rechtszugs kommt eine erhebliche Bedeutung für die Zulässigkeit und Zulässigkeitsvoraussetzungen von Rechtsmitteln (z.B. Berufung, Revision, Beschwerde) zu. Ein Rechtsmittel richtet sich in der Regel gegen die abschließende Entscheidung eines vorhergehenden Rechtszugs und eröffnet damit einen neuen Rechtszug in einer höheren Instanz.
Präklusion und Bindungswirkung
Mit dem Abschluss eines Rechtszugs sind grundsätzlich alle bis dahin geltend gemachten Angriffs- und Verteidigungsmittel präkludiert, d.h., sie können nicht mehr wirksam in einem späteren Rechtszug vorgebracht werden. Die gerichtlichen Feststellungen und Entscheidungen innerhalb eines abgeschlossenen Rechtszugs entfalten Bindungswirkung für weitere Rechtszüge im Instanzenzug, soweit sie nicht erfolgreich angegriffen werden.
Sachlich-rechtliche Bindungen
Der Rechtszug ist auch relevant bei der Beurteilung der Rechtskraft von Urteilen (§ 322 ZPO) und der Unanfechtbarkeit von Entscheidungen. Er regelt, was Gegenstand der Überprüfung im jeweiligen Rechtsmittelzug ist und hat somit Einfluss auf den Prüfungsumfang und die materiell-rechtlichen Grenzen weiterer Instanzen.
Rechtszug im Zivil-, Straf- und Verwaltungsprozess
Zivilprozess
Im Zivilprozess (§§ 253 ff. ZPO) gibt es meist drei Instanzen:
- 1. Rechtszug: Amtsgericht oder Landgericht erster Instanz
- 2. Rechtszug: Berufungsinstanz beim Landgericht oder Oberlandesgericht
- 3. Rechtszug: Revisionsinstanz beim Bundesgerichtshof
In jeder Instanz beginnt ein neuer Rechtszug, in dem sämtliche prozessualen Rechte neu ausgeübt werden können, soweit sie nicht präkludiert wurden.
Strafprozess
Im Strafverfahren findet der Begriff Rechtszug gleichfalls Anwendung; beispielsweise beginnt mit dem Urteil des Amtsgerichts der erste Rechtszug, mit der Berufung oder Revision ein neuer Rechtszug vor einem höheren Gericht.
Verwaltungsprozess und Sozialgerichtsbarkeit
Im Verwaltungs- und Sozialgerichtsverfahren wird ebenfalls zwischen verschiedenen Rechtszügen unterschieden, etwa zwischen
- Widerspruchsverfahren als Vorverfahren
- Verfahren vor dem Verwaltungsgericht
- Berufungsverfahren vor dem Oberverwaltungsgericht
- ggf. Revision vor dem Bundesverwaltungsgericht
Jeder Rechtszug ist dabei von eigenständiger Bedeutung für die Prüfung und Entscheidung der streitigen Rechtspositionen.
Unterscheidung zu verwandten Begriffen
Verfahrensstadium und Instanz
Der Begriff Instanz ist nicht mit dem des Rechtszugs gleichzusetzen. Während die Instanz die sachliche und funktionelle Zuständigkeit des jeweiligen Gerichts beschreibt, bezieht sich der Rechtszug auf das gesamte Verfahren innerhalb einer Instanz.
Prozessualer Streitgegenstand
Ein Rechtszug kann mehrere Streitgegenstände umfassen, sofern sie in einem Verfahren verbunden oder gemeinsam verhandelt werden. Im Unterschied dazu bezieht sich der Streitgegenstand auf die konkrete Rechtsfrage oder den Anspruch, dessen Entscheidung begehrt wird.
Praktische Konsequenzen
Der Rechtszug hat zahlreiche praktische Auswirkungen, u.a.
- für die Verjährung durch Rechtsanhängigkeit,
- für die Hemmung von Fristen,
- für die Bindungswirkung vorangegangener Entscheidungen auf weitere Instanzen,
- als Bestimmungsgrundlage für die Kostentragung und Kostenteilung (§§ 91 ff. ZPO),
- für den Umfang der Rechtskraft und Präklusion prozessualer Erklärungen.
Rechtsquellen und Literatur
Wesentliche rechtliche Grundlagen zum Begriff und zur Bedeutung des Rechtszugs finden sich insbesondere in
- der Zivilprozessordnung (ZPO),
- der Strafprozessordnung (StPO),
- der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO),
- der Sozialgerichtsbarkeit (SGG).
Die einschlägige Literatur ergänzt die richterliche Auslegung und Anwendung.
Zusammenfassung
Der Rechtszug ist ein wesentlicher Begriff des deutschen Prozessrechts. Er kennzeichnet jeweils das gesamte gerichtliche Verfahren innerhalb einer Instanz vom Eingang bis zur abschließenden Entscheidung und bildet die Grundlage für die differenzierte Betrachtung von Verfahrensabläufen, Rechtsmittelmöglichkeiten und prozessualen Bindungswirkungen. Seine genaue Abgrenzung und Anwendung sind unerlässliche Voraussetzungen für das Verständnis der gerichtlichen Rechtsdurchsetzung und der Wirkungen gerichtlicher Entscheidungen im Verfahrensrecht.
Häufig gestellte Fragen
Wie viele Instanzen umfasst der Rechtszug im Zivilprozess und welche Bedeutung haben diese?
Der Rechtszug im Zivilprozess umfasst in der Regel drei Instanzen. Die erste Instanz ist das Amtsgericht oder Landgericht, wo der Rechtsstreit zunächst verhandelt und durch Urteil oder Beschluss entschieden wird. In der zweiten Instanz, dem Berufungsverfahren vor dem Landgericht (bei amtsgerichtlichen Entscheidungen) oder dem Oberlandesgericht (bei landgerichtlichen Entscheidungen), wird die Entscheidung der Vorinstanz überprüft. Ziel der Berufung ist es, sowohl tatsächliche als auch rechtliche Fehler der Entscheidung zu überprüfen. Die dritte Instanz ist das Revisionsverfahren vor dem Bundesgerichtshof (BGH), welches ausschließlich der Überprüfung von Rechtsfragen dient. Hier wird das Urteil der zweiten Instanz nur auf Rechtsfehler kontrolliert, tatsächliche Feststellungen werden grundsätzlich nicht mehr überprüft, es sei denn, es liegt ein Verfahrensfehler vor. Dieses dreistufige Instanzenmodell gewährleistet umfassenden Rechtsschutz und sichert eine möglichst fehlerfreie Rechtsprechung.
Kann der Rechtszug durch Vereinbarungen der Parteien verkürzt oder verlängert werden?
Parteien haben im Zivilprozess nur in sehr begrenztem Maße die Möglichkeit, den Rechtszug zu beeinflussen. Eine Verlängerung über die gesetzlich vorgesehenen Instanzen hinaus ist nicht zulässig. Allerdings können die Parteien durch sogenannte Schiedsvereinbarungen den ordentlichen Rechtsweg ausschließen und anstelle dessen ein Schiedsgericht anrufen, was einen von der staatlichen Gerichtsbarkeit gesonderten Rechtszug begründet. Zudem besteht im Rahmen von Gerichtsstandsvereinbarungen die Möglichkeit, das zuständige Gericht der ersten Instanz zu bestimmen, nicht jedoch den Instanzenzug zu verlängern oder weitere Rechtsmittel einzuführen. Eine Verkürzung des Rechtszugs ist durch ein Rechtsmittelverzicht möglich, beispielsweise kann auf die Einlegung der Berufung ausdrücklich verzichtet werden, was aber nur unter den Voraussetzungen des § 511 Abs. 2 ZPO wirksam ist und unter gerichtlicher Kontrolle steht.
Muss eine Instanz vollständig durchlaufen werden, bevor die nächste Instanz angerufen werden kann?
Generell muss die jeweilige Instanz abgeschlossen sein, bevor der Rechtsstreit in die nächste Instanz gelangt. Das bedeutet, dass eine Berufung nur gegen ein erstinstanzliches Urteil eingelegt werden kann und eine Revision ausschließlich gegen ein berufungsgerichtliches Urteil zulässig ist. In bestimmten Ausnahmefällen kann eine sofortige Beschwerde gegen beschlussartige Entscheidungen eingelegt werden, ohne dass ein Endurteil vorliegt. Ferner kennt das deutsche Prozessrecht das sogenannte „Sprungrechtsmittel“, wie die Sprungrevision (§ 566 ZPO), die unter bestimmten Voraussetzungen eine direkte Anrufung des Revisionsgerichts ohne Berufungsverfahren ermöglicht, wozu jedoch die Zustimmung der Gegenpartei und die Zulassung durch das zunächst zuständige Gericht erforderlich sind.
Unter welchen Voraussetzungen ist die Berufung im Rechtszug zulässig?
Die Berufung im zivilgerichtlichen Verfahren ist nur unter bestimmten Voraussetzungen statthaft. Nach § 511 ZPO muss der Wert des Beschwerdegegenstands 600 Euro übersteigen, es sei denn, das erstinstanzliche Gericht hat die Berufung ausdrücklich zugelassen. Weiterhin bedarf es eines zulässigen und fristgerechten Berufungseinlegens, wobei die Berufungsfrist grundsätzlich einen Monat ab Zustellung des vollständigen Urteils beträgt und die Berufungsbegründung binnen zwei weiterer Monate erfolgen muss. Inhaltlich kann die Berufung auf neue Tatsachen und Beweise gestützt werden, sofern diese in erster Instanz noch nicht berücksichtigt werden konnten und dies nicht auf Nachlässigkeit beruht (§ 531 Abs. 2 ZPO). Missachtet eine Partei diese Vorgaben, wird ihre Berufung als unzulässig verworfen.
Was ist der Unterschied zwischen einer Berufung und einer Revision im Rechtszug?
Der Kernunterschied zwischen Berufung und Revision liegt im Prüfungsumfang und den zugelassenen Angriffsmitteln. Die Berufung ist eine volle zweite Tatsachen- und Rechtsinstanz. Das bedeutet, dass das Berufungsgericht sowohl den Sachverhalt als auch die rechtlichen Würdigungen der Vorinstanz prüfen und neu bewerten kann. Somit können auch neue Tatsachen und Beweismittel eingeführt werden, sofern dies prozessual zulässig ist. Die Revision hingegen ist eine reine Rechtsinstanz vor dem Bundesgerichtshof. Sie überprüft das Berufungsurteil nur auf Rechtsfehler, also darauf, ob das Recht richtig angewendet wurde; neue Tatsachen, Beweise oder die erneute Tatsachenfeststellung sind grundsätzlich ausgeschlossen. Ziel der Revision ist primär die Sicherung einer einheitlichen Rechtsanwendung und Fortbildung des Rechts.
Inwiefern ist der Rechtszug im Strafprozess von dem im Zivilprozess verschieden?
Im Strafprozess unterscheidet sich der Rechtszug von dem des Zivilprozesses hinsichtlich des Instanzenzugs und der zugelassenen Rechtsmittel. Üblicherweise beginnt der Strafprozess vor dem Amts- oder Landgericht, je nach Schwere und Art der Tat. Hier kann auf Urteile des Amtsgerichts – wenn ein Einzelrichter entschieden hat – mittels Berufung das gesamte Verfahren einschließlich Tatsachen- und Rechtsfragen überprüft werden. Gegen Urteile der kleinen und großen Strafkammern am Landgericht ist hingegen die Revision statthaft, die sich im Wesentlichen auf die Kontrolle von Rechtsfehlern beschränkt. Eine Generalklausel für die Einlegung von Berufungen bei allen landgerichtlichen Urteilen gibt es im Strafrecht nicht. Zudem gelten für Strafverfahren besondere, häufig kürzere Fristen sowie spezifische Regeln zur Wiedereinsetzung und zur Zulässigkeit von Rechtsmitteln, die dem Schutz des Angeklagten und der Effektivität des Strafprozesses dienen.
Welche Rolle spielt die Zulassung der Revision im Rechtszug?
Die Revision zum Bundesgerichtshof steht nur für ausgesuchte, grundsätzliche Fälle offen und bedarf häufig der Zulassung. Eine Revision wird entweder vom Berufungsgericht zugelassen, wenn die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat, zur Fortbildung des Rechts oder zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung beiträgt (§ 543 ZPO). In bestimmten Fällen – etwa bei Verletzung von Verfahrensgrundrechten – ist die Revision auch ohne Zulassung zulässig. Die restriktive Zulassungspraxis dient dazu, den BGH als obersten Zivil- und Strafgerichtshof zu entlasten und dessen Funktion der Rechtsentwicklung und -vereinheitlichung zu fokussieren. Wird die Zulassung versagt, bleibt das Berufungsurteil rechtskräftig und der Rechtszug ist beendet.