Begriff und Definition von praeter legem
praeter legem (lateinisch: „außerhalb des Gesetzes“, wörtlich „am Gesetz vorbei“) ist ein aus dem Lateinischen stammender Begriff im juristischen Sprachgebrauch, der eine bestimmte Beziehung zwischen Rechtssätzen beschreibt. Er bedeutet, dass eine Regelung „neben dem Gesetz“, also ergänzend, aber nicht im Widerspruch zu bestehenden Gesetzen geschaffen wird. Praeter legem kennzeichnet demnach eine Regel oder Rechtsanwendung, die eine Lücke des Gesetzgebers ausfüllt, ohne ausdrücklich mit dem Gesetzestext in Konflikt zu geraten.
Die Unterscheidung zu anderen lateinischen Rechtsbegriffen wie contra legem („gegen das Gesetz“) und intra legem („im Rahmen des Gesetzes“) ist von zentraler Bedeutung für das Verständnis des Begriffs und dessen Anwendung in der Rechtsdogmatik.
Historischer Hintergrund und Entwicklung
Ursprung und Entwicklung im römischen Recht
Der Gebrauch des Begriffs praeter legem geht auf das klassische römische Recht zurück, wo Rechtsprechung, Präjudizien und Sitten das positive Recht ergänzten. Im römischen Recht galt eine Handlung oder Regelung als praeter legem, wenn sie auf eine Regelungslücke zielte und der Gesetzgeber zu einem bestimmten Sachverhalt keine Vorschrift getroffen hatte.
Bedeutung in der neueren Rechtsgeschichte
Auch in der europäischen Rechtsgeschichte hat sich das Verständnis von praeter legem fortentwickelt. Insbesondere im Zusammenhang mit dem gesetzesergänzenden Richterrecht und Auslegungsmethoden wurde der Begriff zunehmend bedeutsam.
Systematik und Abgrenzung
Abgrenzung: praeter legem – contra legem – intra legem
Praeter legem
Regelungen oder Rechtsanwendungen, die eine im Gesetz nicht ausdrücklich geregelte Situation erfassen, wobei die gewählte Regelung weder ausdrücklich erlaubt noch verboten ist.
Contra legem
Kollision mit einer bestehenden gesetzlichen Vorschrift; eine Handlung oder Regel steht in direktem Gegensatz zur gesetzlichen Bestimmung.
Intra legem
Vollzug oder Interpretation innerhalb der vom Gesetz ausdrücklich vorgegebenen Regeln. Dabei wird der Gesetzestext angewandt und ausgelegt, ohne über dessen Wortlaut hinauszugehen.
Bedeutung der Systematik
Die Unterscheidung dient dazu, verschiedene Arten richterlicher und administrativer Rechtsfortbildung voneinander abzugrenzen sowie die Legitimität von Normergänzungen zu bewerten.
Dogmatische Einordnung und Anwendungsbereiche
Lückenfüllung im Recht
Praeter legem Anwendungen entstehen typischerweise, wenn der Gesetzgeber eine planwidrige oder bewusste Lücke im Recht hinterlässt. Richterliche Rechtssetzung oder Verwaltungspraxis greift dann ergänzend ein, um die Lücke mit allgemeinen Rechtsgrundsätzen, Sitten oder anerkannten Gepflogenheiten zu schließen.
Rechtsfortbildung und richterliche Praxis
In der richterlichen Rechtsfortbildung nimmt praeter legem eine zentrale Stellung ein. Gerichte sind insbesondere im Bereich des Zivilrechts, Handelsrechts oder Arbeitsrechts darauf angewiesen, bei Regelungslücken eine angemessene, mit dem System des Gesetzes vereinbare Lösung zu entwickeln. Dies geschieht etwa durch die Heranziehung von Gewohnheitsrecht, allgemeiner Rechtsgrundsätze, Treu und Glauben (§ 242 BGB) oder zum Schutze berechtigter Interessen.
Verbindung zum Gewohnheitsrecht
Gewohnheitsrecht wird als typisches Beispiel für praeter legem-Entwicklung betrachtet, da es neben dem geschriebenen Recht besteht und dieses ergänzt, solange es nicht widerspricht.
Beispiele für praeter legem in der Rechtsanwendung
Zivilrecht
Ein klassisches Beispiel ist die Entwicklung typischer Vertragstypen, die im BGB nicht ausdrücklich geregelt sind, wie Leasingverträge oder Factoring. Hier wendet die Rechtsprechung allgemeine schuldrechtliche Grundsätze praeter legem an.
Arbeitsrecht
Im Arbeitsrecht wird vielfach auf Regelungen zurückgegriffen, die nicht explizit geregelt sind, z.B. bei der Rechtsfortbildung zum Gleichbehandlungsgrundsatz und zur Fürsorgepflicht des Arbeitgebers.
Strafrecht
Im Strafrecht ist die Anwendung praeter legem eingeschränkt, da das Analogieverbot (Art. 103 II GG) eine Gesetzeslückenfüllung zulasten des Beschuldigten grundsätzlich untersagt. Eine Anwendung praeter legem ist hier vor allem zu Gunsten des Angeklagten möglich.
Bedeutung und Kritik
Funktion im Rechtsstaat
Praeter legem ist ein notwendiges Instrument zur Sicherstellung der Vollständigkeit und Kohärenz des Rechtssystems. Es ermöglicht Flexibilität und Anpassungsfähigkeit des Rechts an gesellschaftliche Veränderungen, auch wenn der Gesetzgeber (noch) nicht tätig geworden ist.
Kritische Aspekte
Kritiker sehen in einer zu weiten Anwendung von praeter legem die Gefahr richterlicher Selbstermächtigung und eines Verstoßes gegen das Prinzip der Gewaltenteilung. Eine zu extensive Rechtsfortbildung kann das demokratische Prinzip der Gesetzgebung beeinträchtigen.
Zusammenfassung und Ausblick
Praeter legem bezeichnet das rechtsanwendende und rechtsfortbildende Handeln außerhalb, aber nicht gegen das Gesetz. Es dient der Schließung von Gesetzeslücken und ist in der modernen Rechtsanwendung unverzichtbar. Die klare Abgrenzung zu contra legem und intra legem bleibt wesentlich für die systematische Rechtsprechung und das Funktionieren eines auf Rechtsstaatlichkeit gegründeten Systems.
Literaturhinweise
- Canaris, Claus-Wilhelm: Die Feststellung von Lücken im Gesetz, Tübingen 1983.
- Larenz, Karl: Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 7. Aufl., München 1991.
- Engisch, Karl: Einführung in das juristische Denken, 11. Aufl., Stuttgart 1997.
- Baldus, Christian: Praeter Legem. In: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, 2. Aufl., Band 4, Berlin 2003, S. 258-259.
Siehe auch
- Lückenfüllung (Recht)
- Rechtsfortbildung
- Gewohnheitsrecht
- Contra legem
- Intra legem
- Analogie (Recht)
Häufig gestellte Fragen
Wie unterscheidet sich praeter legem von contra legem Entscheidungen in der Rechtsprechung?
Praeter legem bezeichnet Sachverhalte, die vom Gesetzgeber nicht explizit geregelt sind und bei denen eine Entscheidung im Sinne des Gesetzes, jedoch über dessen Wortlaut hinaus, erfolgt. Das Gericht oder die Behörde schließt dabei durch Auslegung oder Analogie Gesetzeslücken, ohne dem Gesetz direkt zu widersprechen. Dagegen stehen contra legem Entscheidungen, bei denen sich ein Gericht bewusst über den klaren Wortlaut oder erkennbaren Willen des Gesetzgebers hinwegsetzt. Während praeter legem der Ergänzung und Fortschreibung des Rechts dient, ohne den Rahmen der Gesetze zu sprengen, stellt contra legem einen bewussten Gesetzesverstoß dar, der regelmäßig als unzulässig bewertet wird. In der Rechtsprechung ist die Abgrenzung von zentraler Bedeutung, da praeter legem eine akzeptierte Methode der Rechtsfortbildung ist, sofern dadurch keine Wertungswidersprüche entstehen und die Grundprinzipien des Rechts gewahrt bleiben.
Welche Rolle spielt die praeter legem Anwendung bei der Lückenschließung im Gesetz?
Praeter legem Anwendung kommt vor allem zum Tragen, wenn das Gesetz für einen bestimmten Sachverhalt keine ausdrückliche Regelung vorsieht, eine sogenannte Regelungslücke besteht. In solchen Fällen sind Gerichte und Behörden verpflichtet, die rechtliche Lücke zu schließen, um eine sachgerechte Entscheidung treffen zu können. Dies erfolgt regelmäßig durch Analogiebildung, Systematische Auslegung oder die Heranziehung von Rechtsgrundsätzen, die im jeweiligen Rechtsgebiet fest etabliert sind. Die Anwendung von praeter legem setzt voraus, dass tatsächlich eine planwidrige Lücke im Gesetz vorliegt und die Schließung dieser Lücke im Einklang mit der Gesamtstruktur des Gesetzes steht. Die Gerichte bewegen sich hierbei innerhalb der Grenzen der Rechtsordnung und tragen zur Weiterentwicklung und Anpassung des Rechts an neue Lebenssachverhalte bei.
Wie wird eine Gesetzeslücke festgestellt, die praeter legem gefüllt werden kann?
Eine Gesetzeslücke, die einer praeter legem Ergänzung zugänglich ist, wird in mehreren Schritten festgestellt. Zunächst prüft das Gericht, ob der vorgelegte Sachverhalt im Gesetz ausdrücklich geregelt ist. Lässt sich keine ausdrückliche Norm finden, untersucht das Gericht, ob der Gesetzgeber bewusst auf eine Regelung verzichtet hat (sogenannte bewusste Regelungslücke) oder ob es sich um eine planwidrige Unvollständigkeit handelt, bei der der Gesetzgeber eine Regelung wahrscheinlich gewollt hätte, sie jedoch übersehen hat. Letzteres qualifiziert als echte Gesetzeslücke. Entscheidend ist hierbei eine sorgfältige Auslegung des Gesetzestextes unter Berücksichtigung systematischer, teleologischer und historischer Gesichtspunkte. Stellt das Gericht eine derartige Lücke fest, darf es diese mittels praeter legem schließen, sofern die entwickelte Lösung mit dem Gesetzeszweck und dem Regelungskonzept übereinstimmt.
Welche methodischen Vorgehensweisen sind bei einer praeter legem Rechtsfortbildung maßgeblich?
Die praeter legem Rechtsfortbildung setzt eine methodisch begründete Vorgehensweise voraus. Zu den zentralen Methoden zählen die Analogie (Schließen von Lücken durch Übertragen von Regelungen auf vergleichbare nicht geregelte Sachverhalte), die Anwendung ungeschriebener Rechtsgrundsätze sowie die systematische und teleologische Auslegung. Die Auswahl der Methode hängt vom jeweiligen Rechtsgebiet, der Art der Lücke und dem Gesetzeszweck ab. Insbesondere die Analogie ist bedeutsam, wenn ein vergleichbarer Fall bereits geregelt ist und ein ähnlicher Regelungsbedarf besteht. Voraussetzung für jede Methode ist, dass kein Wertungswiderspruch zum bestehenden Recht entsteht und die Schließung der Lücke im Einklang mit den tragenden Grundsätzen des jeweiligen Gesetzes steht.
Welche verfassungsrechtlichen Grenzen sind bei praeter legem zu beachten?
Auch eine zulässige Rechtsfortbildung praeter legem unterliegt verfassungsrechtlichen Schranken. Zu beachten sind insbesondere das Prinzip der Gewaltenteilung, das Legalitätsprinzip und das Verbot der Retroaktivität. Gerichte dürfen eine Gesetzeslücke nur dann praeter legem füllen, wenn sie nicht in die gesetzgeberische Gestaltungsfreiheit eingreifen, also das Feld des Gesetzgebers nicht ungebührlich vorwegnehmen oder Gesetzeszwecke konterkarieren. Das Ergebnis der Rechtsfortbildung muss mit dem allgemeinen Gleichheitssatz (Art. 3 GG), dem Bestimmtheitsgebot und anderen Grundrechten vereinbar sein. Zudem dürfen keine neuen Pflichten oder Strafen geschaffen werden, die nicht im Gesetz verankert sind. Die richterliche Rechtsfortbildung ist stets darauf beschränkt, die Intention des Gesetzgebers zu respektieren und zu unterstützen, nicht aber eigene politische Vorstellungen zu verwirklichen.
In welchen Rechtsgebieten wird die praeter legem Methode besonders häufig angewandt?
Die Notwendigkeit zur Rechtsfortbildung praeter legem tritt insbesondere in dynamischen Rechtsbereichen wie dem Zivilrecht, Verwaltungsrecht oder dem Arbeitsrecht auf, wo gesellschaftlicher und technischer Wandel immer wieder zu neuen, vom Gesetzgeber nicht vorhergesehenen Konstellationen führt. Auch im Strafrecht kann die Methode in Ausnahmefällen angewandt werden, allerdings stark eingeschränkt durch das Analogieverbot zuungunsten des Täters (Art. 103 Abs. 2 GG). Besonders im Familienrecht, im Bereich des Schuldrechts oder im Verwaltungsprozessrecht werden Gesetzeslücken regelmäßig durch praeter legem geschlossen, wobei sich die Rechtsprechung auf bestehende Wertentscheidungen des Gesetzgebers und anerkannte Rechtsgrundsätze stützt.