Begriff und rechtliche Einordnung des Pflichtangebots
Das Pflichtangebot ist ein zentraler Begriff des Kapitalmarktrechts und beschreibt das gesetzlich vorgeschriebene Übernahmeangebot an die Aktionäre einer börsennotierten Gesellschaft. Die Vorschrift verfolgt das Ziel, eine faire und gleichmäßige Behandlung der Anteilsinhaber sicherzustellen, wenn ein Kontrollerwerb über eine börsennotierte Gesellschaft stattfindet. Das Pflichtangebot spielt insbesondere im Zusammenhang mit Übernahmen, Zusammenschlüssen und dem Erwerb von Mehrheiten in Aktiengesellschaften eine bedeutende Rolle.
Gesetzliche Grundlagen
WpÜG – Wertpapiererwerbs- und Übernahmegesetz
Die maßgeblichen Regelungen zum Pflichtangebot finden sich im deutschen Recht im Wertpapiererwerbs- und Übernahmegesetz (WpÜG). Das Gesetz regelt Transparenz, Struktur und Ablauf von öffentlichen Übernahmeangeboten und setzt damit die europäische Übernahmerichtlinie (2004/25/EG) in nationales Recht um.
§ 35 WpÜG – Auslösungstatbestand
Gemäß § 35 WpÜG entsteht die Pflicht zur Abgabe eines Angebots, wenn ein Bieter erstmals die Kontrolle über eine Zielgesellschaft erlangt. Als Kontrolle gilt das Halten von mindestens 30 % der Stimmrechte an einer Gesellschaft mit amtlicher Notierung oder im regulierten Markt notiert.
Umfang der Verpflichtung
Das Pflichtangebot muss sich an sämtliche Inhaber von Aktien und aktienähnlichen Wertpapieren der Zielgesellschaft richten. Es ist bedingungsfeindlich auszugestalten; Bedingungen, die die Annahme des Angebots an Voraussetzungen knüpfen, wie zum Beispiel das Erreichen einer Mindestannahmeschwelle, sind unzulässig.
Ablauf eines Pflichtangebots
Erwerbskonstellationen
Das Pflichtangebot wird ausgelöst durch den direkten oder indirekten Erwerb von Kontrollmehrheiten. Dazu zählen konzernrechtliche Verflechtungen, Zwischenschaltung von Tochtergesellschaften, und abgestimmtes Verhalten mehrerer Erwerber (sog. acting in concert i.S.d. § 30 WpÜG).
Anzeige- und Veröffentlichungspflichten
Innerhalb einer Frist von sieben Kalendertagen nach Erwerb der Kontrolle muss der Bieter seine Kontrollübernahme der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) sowie der Zielgesellschaft anzeigen und die Veröffentlichung dieser Mitteilung sicherstellen (§ 35 Abs. 1 WpÜG).
Anschließend muss innerhalb weiterer vier Wochen der Angebotsunterlage bei der BaFin vorgelegt und, nach deren Billigung, unverzüglich veröffentlicht werden.
Angebotsbedingungen
Das Pflichtangebot muss unter Berücksichtigung des Mindestpreises abgegeben werden, der sich nach dem gewichteten Börsenkurs im Zeitraum zuvor und etwaigen Vorauszahlungen des Bieters richtet (§ 31 WpÜG). Die Angebotsunterlage hat vollständige und wahre Angaben über das Angebot, den Bieter und seine Absichten zu enthalten.
Rechtsfolgen bei Pflichtverstößen
Verstößt ein Kontrollerwerber gegen die Pflicht zur Abgabe eines Pflichtangebots, treten verschiedene Sanktionen in Kraft:
- Stimmrechtsverbot: Die betroffenen Stimmrechte ruhen, solange das Pflichtangebot unterbleibt (§ 59 WpÜG).
- Verwaltungsrechtliche Maßnahmen: Die BaFin kann die Einhaltung der Pflicht erzwingen und Anordnungen treffen (§ 4 WpÜG).
- Schadensersatz: Aktionäre können für entstandene Schäden haftbar gemacht werden, wenn das Angebot nicht rechtzeitig oder zu günstigen Konditionen unterbreitet wird (§ 31 Abs. 6 WpÜG).
Ausnahme und Befreiung vom Pflichtangebot
Ausnahmen nach § 35 Abs. 3 WpÜG
Das Gesetz sieht bestimmte Fälle vor, in denen kein Pflichtangebot abgegeben werden muss, beispielsweise bei kurzfristigen Überschreitungen der Schwelle ohne dauerhafte Kontrollausübung.
Befreiung durch die BaFin (§ 37 WpÜG)
Die BaFin kann auf Antrag eine Befreiung vom Pflichtangebot erteilen, zum Beispiel bei der Durchführung von Sanierungsmaßnahmen, Konzerninterner Umstrukturierung, oder falls die Interessen der Aktionäre nicht beeinträchtigt werden.
Internationale Aspekte und Vergleich
Obwohl das Pflichtangebot auf deutschem Recht fußt, existieren ähnliche Regelungen auch in anderen europäischen Mitgliedstaaten infolge der Übernahmerichtlinie. Unterschiede bestehen insbesondere hinsichtlich der Kontrollschwelle sowie der Verfahrensgestaltung und Fristen.
Bedeutung für den Anlegerschutz
Das Pflichtangebot ist ein zentrales Instrument des Anlegerschutzes im deutschen Kapitalmarktrecht. Es garantiert Minderheitsaktionären die Möglichkeit, ihre Anteile zu marktgerechten Konditionen zu verkaufen, sofern durch den Kontrollerwerb ein Wechsel der Mehrheitseigentümer erfolgt. Neben dem Schutz vor Benachteiligung trägt die Vorschrift zu Markttransparenz und Stabilität des Finanzsystems bei.
Literaturhinweise
- Baums, T./Drinhausen, K., „Das Übernahmerecht in Deutschland – Kommentar zum Wertpapiererwerbs- und Übernahmegesetz (WpÜG)“, C.H. Beck, 2022.
- Voigt, R., „Kapitalmarktrecht“, 5. Auflage, Nomos, 2021.
Dieser Beitrag bietet eine umfassende rechtliche Darstellung des Pflichtangebots im deutschen Kapitalmarktrecht. Die Zusammenhänge, Abläufe und Rechtsfolgen sind maßgeblich für das Verständnis von Unternehmensübernahmen und Transaktionen im regulierten Markt.
Häufig gestellte Fragen
Welche rechtlichen Folgen hat die Verletzung der Pflicht zur Abgabe eines Pflichtangebots?
Verletzt ein Bieter oder Kontrollerwerber die Pflicht zur Abgabe eines Pflichtangebots gemäß § 35 WpÜG, hat dies gravierende rechtliche Konsequenzen. Zunächst besteht die Möglichkeit, dass die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) aufsichtsrechtliche Maßnahmen ergreift, beispielsweise indem sie die Veröffentlichung eines Angebots anordnet. Darüber hinaus kann die BaFin Bußgelder verhängen, wenn der Erwerber seiner Pflicht nicht unverzüglich nachkommt. Zivilrechtlich ist besonders relevant, dass die Rechte aus den erworbenen Aktien, insbesondere das Stimmrecht, für die Dauer der Pflichtverletzung grundsätzlich ruhen. Ferner kann jeder außenstehende Aktionär einen Anspruch auf Unterlassung der Ausübung dieser Rechte gegen den Kontrollerwerber geltend machen, solange kein Pflichtangebot abgegeben wurde. In schwerwiegenden Fällen kann dies auch zur Rückabwicklung von bereits getätigten Geschäften führen, sollte die Transaktion gesetzeswidrig gewesen sein. Darüber hinaus kann die Verletzung der Angebotspflicht auch deliktische Haftungsansprüche Dritter begründen.
Wer ist nach dem Wertpapiererwerbs- und Übernahmegesetz (WpÜG) zur Abgabe eines Pflichtangebots verpflichtet?
Zur Abgabe eines Pflichtangebots ist nach § 35 WpÜG jede Person oder Unternehmensgruppe verpflichtet, die unmittelbar oder mittelbar die Kontrolle über eine börsennotierte Aktiengesellschaft mit Sitz in Deutschland erwirbt. Die Kontrolle wird im Regelfall dadurch erlangt, dass mindestens 30% der Stimmrechte an der Zielgesellschaft gehalten werden. Dabei werden sowohl direkt gehaltene Stimmrechte als auch solche, die über Tochtergesellschaften, durch gemeinsame Absprachen oder auf sonstige Art zugerechnet werden, berücksichtigt. Die Angebotspflicht kann eine natürliche oder juristische Person, aber auch eine Gesellschaft, eine Stiftung oder ein Trust treffen. Besonders komplex ist die Beurteilung in Fällen von sog. „acting in concert“, bei denen mehrere Parteien gemeinsam mit dem Ziel agieren, die Kontrolle zu übernehmen – auch dann sind sie gesamtschuldnerisch zur Abgabe des Pflichtangebots verpflichtet.
Welche Ausnahmen von der Pflicht zur Abgabe eines Pflichtangebots sind gesetzlich vorgesehen?
Das WpÜG enthält verschiedene Ausnahmeregelungen (§ 37 und § 38 WpÜG), bei deren Vorliegen die Pflicht zur Abgabe eines Pflichtangebots entfällt. Zu den wichtigsten Ausnahmen zählt beispielsweise der Erwerb der Kontrolle durch Erbgang, Schenkung oder im Rahmen von Sanierungsmaßnahmen unter staatsaufsichtlicher Beteiligung oder Vergleichsverfahren. Ebenfalls besteht eine Ausnahme, wenn die Kontrollschwelle von 30% der Stimmrechte zwar überschritten wird, andere Umstände jedoch eine tatsächliche Kontrolle ausschließen, wie etwa bei sogenannten „weißen Rittern“ oder „Sanierungsfällen“. Zudem kann die BaFin unter bestimmten Umständen auf Antrag des Erwerbers von der Angebotspflicht befreien, sofern überwiegende Interessen der Zielgesellschaft oder des Kapitalmarkts dies rechtfertigen. Die Ausnahmen sind jedoch stets eng auszulegen und bedürfen in der Regel einer expliziten Entscheidung der BaFin.
Welche Anforderungen bestehen an die Gestaltung und den Inhalt eines Pflichtangebots?
Ein Pflichtangebot unterliegt strikten formellen und inhaltlichen Anforderungen, die sich aus §§ 11 ff. WpÜG und der WpÜG-Angebotsverordnung (WpÜGAngebV) ergeben. Das Angebot muss insbesondere klar und vollständig sämtliche Angebotsbedingungen, insbesondere den Angebotspreis und die Annahmefrist, enthalten. Zur Wahrung der Gleichbehandlung aller Aktionäre ist der Angebotspreis mindestens so hoch zu bemessen wie der höchste Preis, den der Bieter in den letzten sechs Monaten vor Kontrollerwerb gezahlt hat („Mindestpreisregel“). Zusätzlich müssen ausführliche Informationen zur Finanzierung des Angebots, zum Erwerber, zu Kooperationsabsichten sowie zu zukünftigen Absichten gegenüber der Zielgesellschaft dargelegt werden. Die Angebotsunterlage ist bei der BaFin einzureichen und darf erst nach deren Billigung veröffentlicht werden. Auch die Einhaltung der Veröffentlichungspflichten und die Gewährung der gleichen Handlungsbasis für alle Aktionäre (Equal Treatment) sind gesetzlich zwingend vorgeschrieben.
Wie läuft das Verfahren nach Erlangung der Kontrolle und bis zur Abgabe des Pflichtangebots ab?
Nach § 35 WpÜG muss der Kontrollerwerber unverzüglich, spätestens innerhalb von sieben Kalendertagen, die Erlangung der Kontrolle sowie seine Absicht, ein Pflichtangebot abzugeben, veröffentlichen. Anschließend ist die Angebotsunterlage zu erstellen, die alle erforderlichen Angaben gemäß WpÜG und der WpÜGAngebV enthält. Die Angebotsunterlage ist der BaFin zur Prüfung und Billigung vorzulegen. Erst nach Erhalt der Billigung darf das Angebot veröffentlicht werden. Die Angebotsfrist, während der die Aktionäre das Angebot annehmen können, beträgt in der Regel vier bis zehn Wochen. Während des gesamten Verfahrens gelten Insiderhandels- und Veröffentlichungsverbote, um marktmissbräuchliche Handlungen zu verhindern. Sämtliche Mitteilungen und Veröffentlichungen sind auch der jeweiligen Börse sowie der Zielgesellschaft zukommen zu lassen.
Welche Rolle spielt die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) im Rahmen des Pflichtangebotsverfahrens?
Die BaFin nimmt im Pflichtangebotsverfahren eine zentrale Rolle als Aufsichts- und Genehmigungsinstanz ein. Sie prüft die eingereichten Angebotsunterlagen umfassend auf Vollständigkeit, Rechtmäßigkeit und Transparenz, insbesondere im Hinblick auf den Schutz der Minderheitsaktionäre. Erst nach ihrer Billigung darf das Angebot durchgeführt werden. Bei festgestellten Rechtsverstößen kann die BaFin den Kontrollerwerber zur Nachbesserung auffordern oder ordnungsrechtliche Maßnahmen einleiten. Sie ist außerdem zuständig für die Gewährung von Ausnahmen oder Befreiungen von der Angebotspflicht und hat umfangreiche Ermittlungs- und Eingriffsrechte, um einen ordnungsgemäßen Ablauf des Übernahmeverfahrens sicherzustellen. Zudem veröffentlicht die BaFin wesentliche Entscheidungen und Mitteilungen, sodass eine hohe Transparenz des ganzen Übernahmeverfahrens gewährleistet bleibt.
Können Aktionäre einer Zielgesellschaft das Pflichtangebot rechtlich anfechten?
Aktionäre können die Rechtmäßigkeit eines Pflichtangebots in verschiedenen Aspekten überprüfen lassen und gegebenenfalls rechtlich anfechten. Kommt es etwa zu Zweifeln hinsichtlich der Angemessenheit des Angebotspreises, der Unvollständigkeit oder Fehlerhaftigkeit der Angebotsunterlage oder wird die Gleichbehandlung der Aktionäre nicht gewahrt, können betroffene Aktionäre und auch die Zielgesellschaft selbst bei der BaFin Beschwerden einreichen. Die BaFin kann daraufhin Korrekturen oder Untersagungen des Angebots anordnen. Darüber hinaus besteht die Möglichkeit, gerichtlich gegen den Kontrollerwerber oder das Angebot unmittelbar vorzugehen, z.B. auf Feststellung der Unwirksamkeit oder auf Unterlassung. Insbesondere im Fall von Täuschung, arglistiger Irreführung oder wesentlicher Verfahrensfehler ist die Anfechtung vor ordentlichen Gerichten möglich. Die Aktionäre können ihre Rechte individuell oder in Sammelklagen (Kapitalanleger-Musterverfahren) geltend machen.