Begriff und rechtliche Einordnung der Parlamentsnötigung
Parlamentsnötigung ist ein eigenständiger Straftatbestand im deutschen Strafrecht, der sich durch die besondere Schutzbedürftigkeit parlamentarischer Entscheidungsfreiheit auszeichnet. Die Norm schützt die Funktionsfähigkeit und Unabhängigkeit der Volksvertretung und ihrer Mitglieder vor unzulässigen Eingriffen von außen. Parlamentsnötigung kommt insbesondere im Kontext politisch motivierter Handlungen oder Demonstrationen an oder in legislativen Stätten in Betracht.
Gesetzliche Regelung
Rechtsgrundlage
Die Parlamentsnötigung ist im Strafgesetzbuch (StGB) in § 106 geregelt. Die Vorschrift lautet:
§ 106 StGB – Nötigung von Verfassungsorganen
(1) Wer durch Gewalt oder durch Drohung mit Gewalt 1. den Bundespräsidenten oder einen anderen zur vertretenden Ausübung seines verfassungsmäßigen Amtes berufenen Träger eines Verfassungsorgans, 2. den Bundesrat, den Bundestag, eine Volksvertretung eines Landes oder einen ihrer Ausschüsse, 3. einen ihrer Präsidenten oder 4. ein Mitglied solcher Organe in der Ausübung ihrer Tätigkeit nötigt, wird mit Freiheitsstrafe nicht unter einem Jahr bestraft.
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(2) In minder schweren Fällen ist die Strafe Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren.
Die Vorschrift wurde geschaffen, um ein ungestörtes Funktionieren der Verfassungsorgane zu gewährleisten und sie vor Nötigung durch Einzelpersonen oder Gruppen zu schützen.
Tatbestandsmerkmale der Parlamentsnötigung
Tathandlung
Zur Verwirklichung des Tatbestandes der Parlamentsnötigung muss eine Nötigungshandlung vorliegen. Dies kann in Gestalt von Gewalt oder der Drohung mit Gewalt erfolgen. Gewalt meint dabei den Einsatz von physischer Kraft, die unmittelbar auf die Handlungsfreiheit der Verfassungsorgane oder ihrer Mitglieder einwirkt. Die Drohung mit Gewalt setzt die ernsthafte Ankündigung der Anwendung von Gewalt voraus.
Gewalt
Unter Gewalt ist physische Kraftentfaltung zu verstehen, die geeignet ist, eine gegenwärtige Willensentschließung zu beeinflussen. Dabei genügt nicht jede Gewaltanwendung, sondern sie muss spezifisch dazu bestimmt sein, die Tätigkeit des jeweiligen Verfassungsorgans oder dessen Mitglieder zu beeinträchtigen oder zu erzwingen.
Drohung mit Gewalt
Unter Drohung ist das Inaussichtstellen eines künftigen Übels zu verstehen, auf dessen Eintritt der Drohende Einfluss zu haben vorgibt. Im Kontext von Parlamentsnötigung ist dies regelmäßig die Androhung körperlicher Gewalt gegen Mitglieder des betroffenen Organs oder das Organ selbst.
Geschützte Rechtsgüter und Tatobjekte
Die Norm bezieht sich auf folgende Organe:
- Bundespräsident
- Bundestag und Bundesrat
- Volksvertretungen der Länder sowie deren Ausschüsse
- Präsidenten der genannten Organe
- Mitglieder der genannten Organe
Dadurch soll die institutionelle und individuelle Entscheidungsfreiheit aller relevanten politischen Körper gewahrt bleiben.
Subjektiver Tatbestand
Vorausgesetzt wird Vorsatz hinsichtlich aller objektiven Tatbestandsmerkmale. Der Täter muss also bewusst und gewollt einen der genannten Adressaten mittels Gewalt oder Drohung mit Gewalt nötigen wollen.
Rechtswidrigkeit und Schuld
Da § 106 StGB keinen eigenen Rechtfertigungsgrund kennt, kommen nur die allgemeinen Rechtfertigungsgründe des Strafrechts, wie insbesondere Notwehr (§ 32 StGB) oder Einwilligung, in Betracht. Deren Anwendbarkeit ist in der Praxis aufgrund der besonderen Schutzfunktion der Norm jedoch regelmäßig ausgeschlossen.
Strafrahmen und Strafzumessung
Der Grundtatbestand sieht eine Mindestfreiheitsstrafe von einem Jahr vor, was indexiert, dass Parlamentsnötigung als Verbrechen eingestuft ist. In minder schweren Fällen kann das Gericht eine Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren verhängen.
Eine versuchte Tat ist nach allgemeinen Grundsätzen strafbar, sofern die Schwelle zum Versuch (§ 22 StGB) überschritten wurde.
Abgrenzung zur einfachen Nötigung
Während sich die klassische Nötigung gemäß § 240 StGB gegen beliebige Rechtsgüter oder Personen richtet, schützt § 106 StGB spezifisch die Funktionsfähigkeit der parlamentarischen Willensbildung. Zudem ist der Strafrahmen der Parlamentsnötigung erheblich strenger. Beide Tatbestände können in Tateinheit nebeneinander verwirklicht werden.
Fälle aus der Rechtsprechung
Im Zusammenhang mit Parlamentsnötigung haben sich deutsche Gerichte vereinzelt mit Situationen befasst, in denen beispielsweise Demonstrationen im Bundestagsgebäude oder Blockaden von Abstimmungen die Arbeit des Parlaments verhindert oder beeinflusst haben. Die Messlatte für eine Verurteilung liegt jedoch hoch: Nicht jede grobe Störung oder aggressive Protesthandlung erfüllt den Tatbestand. Gewalt oder eine einschlägige Gewaltdrohung gegen das Organ oder seine Mitglieder ist unabdingbar. Allein verbale Proteste oder der Versuch, die Debatte durch lautstarke Störaktionen zu beeinträchtigen, genügen nicht.
Schutz der parlamentarischen Demokratie
Parlamentsnötigung nimmt im Schutzsystem der parlamentarischen Demokratie in Deutschland eine zentrale Rolle ein. Das Grundgesetz garantiert als tragende Prinzipien die freie Mandatsausübung sowie die Gewaltenteilung. Die regelmäßige Anwendung und Durchsetzung der Strafvorschrift soll unzulässigen Druck auf Parlamentarier und Organe verhindern und unabhängige Entscheidungsfindung gewährleisten.
Strafprozessuale Besonderheiten
Der Straftatbestand des § 106 StGB ist ein Offizialdelikt. Die Strafverfolgung erfolgt regelmäßig von Amts wegen, bedarf also keiner zusätzlichen Anzeige oder Strafantragstellung durch Geschädigte oder Institutionen.
Verhältnis zu anderen Straftatbeständen
Insbesondere in Zusammenschau mit Landfriedensbruch (§ 125 StGB), Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte (§ 113 StGB) oder schwerem Hausfriedensbruch (§ 123 StGB) kann Parlamentsnötigung als qualifizierende Tatausführung in Betracht kommen. Im Einzelfall behalten jedoch die spezielleren Vorschriften Vorrang.
Literatur und weiterführende Informationen
- Fischer, Strafgesetzbuch und Nebengesetze, § 106 Rn. 1 ff.
- Tröndle/Fischer, StGB-Kommentar, § 106
- Schünemann, in: Schönke/Schröder, StGB-Kommentar, § 106
Hinweis: Dieser Artikel bietet eine strukturierte und umfassende Übersicht zum Begriff und Strafbestand der Parlamentsnötigung, ohne eine individuelle Rechtsberatung zu ersetzen.
Häufig gestellte Fragen
Welche Handlungen gelten als Parlamentsnötigung gemäß deutschem Strafrecht?
Unter Parlamentsnötigung versteht das deutsche Strafrecht gezielte Handlungen, durch die Mitglieder eines Parlaments – insbesondere des Bundestages oder eines Landtags – mittels Gewalt oder durch die Androhung ernstlicher Nachteile daran gehindert werden, ihre freien Willensentschlüsse zu fassen oder auszuüben. Hierzu zählen zum Beispiel der gewaltsame Zugang zu Sitzungssälen, körperliche Übergriffe auf Abgeordnete, massive Blockaden parlamentarischer Gebäude sowie das Verursachen einer spürbaren Bedrohungslage mit dem Ziel, die Entscheidungsfreiheit der Parlamentarier zu beeinträchtigen. Dabei ist es unerheblich, ob die Tat von außenstehenden Dritten oder Parlamentariern selbst begangen wird. Auch die sogenannte psychische Gewalt, etwa schwere Einschüchterungen, können unter bestimmten Voraussetzungen den Straftatbestand erfüllen, sofern sie geeignet sind, den freien Willen der Abgeordneten zu überlagern.
Wie unterscheidet sich Parlamentsnötigung von anderen Nötigungsdelikten?
Parlamentsnötigung ist ein speziellerer Straftatbestand aus dem Bereich der Nötigungsdelikte, der in § 106 des Strafgesetzbuches (StGB) geregelt ist und sich insbesondere durch sein geschütztes Rechtsgut – die Funktionsfähigkeit eines demokratischen Parlaments – von allgemeinen Nötigungsdelikten unterscheidet (§ 240 StGB). Während die allgemeine Nötigung auf die freie Willensentschließung beliebiger Personen abzielt, bezieht sich die Parlamentsnötigung ausschließlich auf Abgeordnete in ihrer Funktion als Mitglieder eines Gesetzgebungsorgans sowie auf das gesamte Organ. Parlamentsnötigung erfordert darüber hinaus stets eine erhebliche Beeinträchtigung der parlamentarischen Entscheidungsfreiheit und ist mit im Regelfall deutlich schärferen Strafandrohungen verbunden.
Welche Rechtsfolgen drohen bei einer Verurteilung wegen Parlamentsnötigung?
Bei einer Verurteilung wegen Parlamentsnötigung droht dem Täter eine erhebliche Freiheitsstrafe. Gemäß § 106 StGB liegt der Strafrahmen im Regelfall bei mindestens einem Jahr Freiheitsstrafe; in minder schweren Fällen kann das Gericht die Strafe mildern, jedoch beträgt auch dann die Mindeststrafe sechs Monate Freiheitsentzug. Zusätzlich können – insbesondere bei Beamten – disziplinarrechtliche Maßnahmen, Verlust von Ämtern oder der Aberkennung von Pensionsansprüchen hinzukommen. In schweren Fällen, zum Beispiel wenn durch die Nötigung eine Gefahr für Leib und Leben entsteht, können sich weitere Straftatbestände, wie etwa Körperverletzung oder Landfriedensbruch, mit teils noch höheren Strafandrohungen verwirklichen.
Kann der Versuch der Parlamentsnötigung bereits strafbar sein?
Ja, bereits der Versuch einer Parlamentsnötigung ist nach deutschem Recht strafbar. § 106 Abs. 2 StGB stellt klar, dass nicht nur die vollendete Tat, sondern auch jeder Versuch, die Entscheidungsfreiheit des Parlaments durch Nötigung zu beschränken, unter Strafe steht. Entscheidend ist hierbei nicht der Erfolgseintritt, sondern das zielgerichtete Handeln, das auf die Beeinflussung des Willens von Parlamentariern oder des gesamten Parlamentsorganes abzielt. Die Strafbarkeit des Versuchs dient dem besonderen Schutz des demokratischen Prozesses und soll bereits im Vorfeld etwaige Einflussnahmen verhindern.
Ist strafbare Parlamentsnötigung auch durch friedliche Demonstrationen möglich?
Friedliche Demonstrationen unterliegen dem grundrechtlichen Schutz der Versammlungsfreiheit nach Artikel 8 des Grundgesetzes. Sie stellen grundsätzlich keine Parlamentsnötigung dar, solange keine Gewalt angewandt, keine ernsthaften Nachteile angedroht werden oder die freie Willensbildung des Parlaments nicht gezielt und erheblich beeinträchtigt wird. Überschreiten Demonstrationen jedoch die Schwelle zur gewaltsamen Einflussnahme, etwa durch Blockaden von Parlamentszugängen, Androhung körperlicher Gewalt, massive Einschüchterungen oder gezielte Störungen wichtiger Sitzungen, kann dies als Parlamentsnötigung qualifiziert werden. Die juristische Einzelfallprüfung ist hierbei unerlässlich, da die Grenze zwischen legitimer politischer Meinungsäußerung und strafbarer Nötigung im Kontext des Parlaments besonders sorgfältig zu beurteilen ist.
Wie ist das Verhältnis zwischen Parlamentsnötigung und dem Immunitätsschutz der Abgeordneten?
Die Immunität der Abgeordneten (§ 46 GG und entsprechende Geschäftsordnungen) schützt Parlamentarier vor strafrechtlicher oder dienstrechtlicher Verfolgung für Handlungen, die in Ausübung ihres Mandats geschehen. Dieser Schutz bezieht sich aber nicht auf Straftaten wie die Begehung einer Parlamentsnötigung, sofern die Straftat nicht in einem unmittelbaren Zusammenhang mit der Ausübung des parlamentarischen Mandats steht. Im Gegenteil: Abgeordnete, die sich einer Parlamentsnötigung strafbar machen, können wegen des Missbrauchs ihrer parlamentarischen Rechte mit strafrechtlichen Konsequenzen und gegebenenfalls der Aufhebung ihrer Immunität durch das Parlament selbst rechnen. Das Ziel ist dabei stets, die Integrität und Funktionsfähigkeit des Parlaments zu wahren.
Gibt es Beispiele für die Anwendung des Straftatbestandes der Parlamentsnötigung in der deutschen Rechtsprechung?
Fälle von Parlamentsnötigung im Sinne des § 106 StGB sind in der deutschen Justizhistorie selten, da die Anforderungen an die Erfüllung des Tatbestandes sehr hoch sind. In politischen Ausnahmesituationen, etwa bei versuchten Staatsstreichen oder erheblichen Eingriffen in den gesetzgeberischen Prozess während Krisenzeiten, könnte der Straftatbestand jedoch einschlägig sein. Ein bekanntes historisches Beispiel in der deutschen Rechtswissenschaft ist der Kapp-Putsch von 1920, bei dem militärische Gewalt gegen die Regierung und das Parlament eingesetzt wurde. In der jüngeren Vergangenheit sind konkrete Verurteilungen aufgrund von Parlamentsnötigung jedoch kaum bekannt geworden, was auch die hohe Schutzschwelle für den parlamentarischen Entscheidungsprozess dokumentiert.