Legal Lexikon

Organstreitigkeiten


Begriff und Wesen der Organstreitigkeiten

Organstreitigkeiten stellen eine besondere Verfahrensart des deutschen Staatsorganisationsrechts dar. Sie dienen der Klärung von Meinungsverschiedenheiten oder Zweifeln über Rechte und Pflichten oberster Staatsorgane oder anderer durch das Grundgesetz oder in der Geschäftsordnung mit eigenen Rechten ausgestatteter Beteiligter. Rechtsgrundlage hierfür ist Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 Grundgesetz (GG), ergänzt durch die §§ 63 ff. Bundesverfassungsgerichtsgesetz (BVerfGG). Der Organstreit ist damit ein maßgebliches Instrument zur Wahrung der Verfassungsmäßigkeit staatlichen Handelns auf höchster Ebene und zur Sicherstellung der Gewaltenteilung sowie des Schutzes institutioneller Rechte.

Rechtliche Grundlagen und Rechtsquellen

Verfassungsrechtliche Fundierung

Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG bestimmt, dass das Bundesverfassungsgericht über „die Auslegung des Grundgesetzes bei Meinungsverschiedenheiten oder Zweifeln über den Umfang der Rechte und Pflichten eines der in diesem Grundgesetz genannten obersten Bundesorgane oder anderer Beteiligter“ entscheidet. Diese Funktion zielt darauf ab, Konflikte zwischen den Verfassungsorganen im Rahmen eines institutionalisierten und rechtsförmigen Verfahrens zu klären.

Einfachgesetzliche Ausgestaltung

Die einfachgesetzliche Ausarbeitung des Organstreitverfahrens erfolgt in §§ 63-67 BVerfGG. Diese Paragrafen definieren die Beteiligtenfähigkeit, das Verfahren, Prozessvoraussetzungen, das Antragsrecht und die Entscheidungswirkung des Bundesverfassungsgerichts.

Beteiligtenfähigkeit und Antragsberechtigung

Beteiligte im Organstreitverfahren

Beteiligte im Organstreit sind ausschließlich Verfassungsorgane des Bundes sowie „andere Beteiligte“, denen eigene Rechte durch das Grundgesetz oder durch Geschäftsordnungen eines Organs verliehen werden. Dazu gehören vor allem:

  • Bundestag
  • Bundesrat
  • Bundesregierung
  • Bundespräsident
  • Ausschüsse des Bundestages (zum Beispiel nach Art. 44 GG)
  • Bundestagsfraktionen
  • Bundeskanzler und Bundesminister
  • Oppositionsführerinnen im Bundestag
  • Abgeordnete mit eigenen prozessrechtlichen Befugnissen

Für Landesorgane ist ein entsprechendes Verfahren auf Länderebene vor den jeweiligen Landesverfassungsgerichten vorgesehen.

Zulässigkeitsvoraussetzungen

Eine Organstreitigkeit ist zulässig, wenn ein tatsächlicher Streit über den Umfang von Rechten oder Pflichten zwischen Beteiligten besteht, ein entsprechender Antrag gestellt und ein schutzwürdiges rechtliches Interesse dargelegt wird.

Rechte und Pflichten als Streitgegenstand

Gegenstand einer Organstreitigkeit können alle „eigenen Rechte und Pflichten“ sein, die einem Organ oder Beteiligten unmittelbar durch das Grundgesetz oder die Geschäftsordnung zugewiesen werden. Hierzu gehören insbesondere Mitwirkungsrechte, Informationsrechte, Kontrollrechte sowie verfahrensbezogene Rechte im Rahmen der Gesetzgebung, Kontrolle und Exekutive.

Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht

Einleitung und Ablauf des Verfahrens

Das Verfahren wird durch einen schriftlichen Antrag (§ 64 BVerfGG) eingeleitet. Im Antrag ist das Organ, gegen das sich das Verfahren richtet, zu bezeichnen sowie der genaue Antrag und die rechtliche Begründung darzulegen. Das Bundesverfassungsgericht prüft zunächst die Zulässigkeit, danach die Begründetheit des Antrags.

Das Verfahren ist grundsätzlich kontradiktorisch ausgestaltet: Das heißt, Antragsteller und Antragsgegner stehen sich als gleichberechtigte Parteien gegenüber. Das Gericht kann jedoch auch Dritte, deren Interessen beteiligt sind, anhören oder zur Verfahrensbeteiligung auffordern.

Besonderheiten und Verfahrensgrundsätze

Das Verfahren ist vom Amtsermittlungsgrundsatz (Untersuchungsgrundsatz) geprägt, d.h. das Gericht ist nicht an den Vortrag der Beteiligten gebunden, sondern kann von sich aus den Sachverhalt aufklären. Ferner sind Verhandlungen vor dem Bundesverfassungsgericht in der Regel öffentlich.

Mögliche Entscheidungen

Das Bundesverfassungsgericht entscheidet durch Urteil, welches gemäß § 31 Abs. 1 BVerfGG Gesetzeskraft besitzt. Das Gericht stellt fest, ob und in welchem Umfang Rechte oder Pflichten verletzt oder missachtet wurden. Es kann jedoch keinen Zwang zur Umsetzung seiner Entscheidungen anordnen, die Wirksamkeit entfaltet sich jedoch durch die Bindungswirkung seiner Auslegung.

Rechtliche Bedeutung und Funktion

Schutz der Verfassungsorgane und Wahrung der Gewaltenteilung

Organstreitverfahren erfüllen eine zentrale Funktion im System der Gewaltenteilung. Sie sichern die institutionelle Unabhängigkeit und Funktionsfähigkeit der Verfassungsorgane, indem sie deren Rechte gegen Übergriffe durch andere Organe oder durch die Missachtung durch Dritte verteidigen und damit die Verfassungsordnung und gegenseitigen Respekt unter den Verfassungsorganen festigen.

Präventiv- und Kontrollfunktion

Neben der Klärung bereits eingetretener Rechtsverletzungen ermöglicht der Organstreit auch die vorbeugende Sicherung von Rechten. Das Bundesverfassungsgericht kann festgestellt, dass ein bestimmtes Verhalten in Zukunft unterlassen werden muss beziehungsweise es unterbleiben muss, Rechte des Antragstellers zu verletzen.

Bindungswirkung der Entscheidungen

Die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts sind bindend für alle Verfassungsorgane des Bundes und der Länder sowie für alle Gerichte und Behörden (§ 31 Abs. 1 BVerfGG). Sie schaffen Verfassungsrecht und prägen die Auslegung und Anwendung des Grundgesetzes maßgeblich.

Abgrenzung zu anderen Verfahren

Ausschluss der Individualrechte

Der Organstreit ist kein Instrument zur Durchsetzung individueller Rechte der Amtsträger als Privatpersonen, sondern dient der Verteidigung institutioneller Rechte von Organen oder organähnlichen Beteiligten.

Unterscheidung zu anderen Verfahrensarten

Zu unterscheiden ist der Organstreit insbesondere von folgenden Verfahren:

  • Abstrakte Normenkontrolle (Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG): Dient der Überprüfung von Gesetzen auf ihre Verfassungsmäßigkeit.
  • Bund-Länder-Streit (Art. 93 Abs. 1 Nr. 3 GG): Klärt Kompetenzkonflikte zwischen Bund und Ländern.
  • Verfassungsbeschwerde (Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG): Sichert Individualrechtsschutz gegen Akte öffentlicher Gewalt.

Praxisrelevante Beispiele von Organstreitigkeiten

In der Praxis wurden Verfahren vor allem zur Klärung parlamentarischer Mitwirkungsrechte, Kontrollrechte der Opposition, Informationsrechte von Bundestagsabgeordneten, Vorrechte des Bundespräsidenten oder zur Sicherung der Unabhängigkeit des Bundesverfassungsgerichts selbst geführt. Die Zahl der Entscheidungen ist hoch und reicht von Fragen der Gesetzgebung bis zu innerparlamentarischen Rechten einzelner Fraktionen.

Literatur und weiterführende Hinweise

  • Maunz/Dürig, Grundgesetz-Kommentar, Art. 93 GG, Organstreitverfahren.
  • Scholz, Staatsrecht, Band I: Staatsorganisationsrecht.
  • Schmidt-Bleibtreu/Klein, Bundesverfassungsgerichtsgesetz, Kommentar zu § 63 ff. BVerfGG.*

Das Organstreitverfahren bleibt eines der zentralen Instrumente zur Vergewisserung, Sicherung und Fortentwicklung des deutschen Verfassungsrechts und trägt maßgeblich zur Erhaltung eines funktionierenden Staatsorganisationsrechts bei.

Häufig gestellte Fragen

Wie ist das gerichtliche Verfahren bei Organstreitigkeiten ausgestaltet?

Das gerichtliche Verfahren bei Organstreitigkeiten ist in Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG sowie in den §§ 13 Nr. 5, 63 ff. BVerfGG geregelt. Zuständig ist ausschließlich das Bundesverfassungsgericht, wobei die Antragstellung nur durch bestimmte Verfassungsorgane oder deren Teile möglich ist. Zulässigkeitsvoraussetzungen sind insbesondere die Beteiligtenfähigkeit, die Prozessfähigkeit und die Antragsbefugnis. Der Antrag muss innerhalb von sechs Monaten nach Bekanntwerden der beanstandeten Maßnahme oder Unterlassung erhoben werden (§ 64 Abs. 3 BVerfGG). Das Verfahren ist im Wesentlichen kontradiktorisch ausgestaltet, d.h. die Beteiligten haben Gelegenheit zur Stellungnahme, Beweisanträge sind zulässig und es besteht die Möglichkeit einer mündlichen Verhandlung. Die Entscheidung des Gerichts erfolgt per Beschluss oder Urteil und wirkt zwischen den Verfahrensbeteiligten (inter partes), kann aber faktisch Grundsatzwirkung für das gesamte Staatsorganisationsrecht entfalten.

Welche Organe und Organteile sind im Organstreitverfahren antragsberechtigt?

Antragsberechtigt im Organstreitverfahren sind ausschließlich die obersten Bundesorgane (z.B. Bundestag, Bundesrat, Bundesregierung, Bundespräsident) oder Teile dieser Organe, soweit ihnen eigene Rechte zustehen. Ob ein bestimmter Teil eines Organs antragsberechtigt ist, hängt davon ab, ob er durch das Grundgesetz mit eigenen Rechten ausgestattet ist (zum Beispiel eine Fraktion im Bundestag). Auch einzelne Mitglieder eines Organs sind nur dann antragsbefugt, wenn sie durch das Grundgesetz eine eigenständige Rechtsposition erhalten haben (etwa der einzelne Bundestagsabgeordnete im Rahmen von Art. 38 GG). Nicht antragsberechtigt sind außerhalb des Organkreises stehende Stellen oder Länderregierungen.

Welche Rechte können Gegenstand eines Organstreitverfahrens sein?

Im Organstreitverfahren können nur Rechte geltend gemacht werden, die Verfassungsorgane oder deren Teile durch das Grundgesetz zugewiesen bekommen haben, die sogenannten organschaftlichen Rechte. Das sind insbesondere Mitwirkungsrechte, Kontrollrechte, Initiativrechte oder Beteiligungsrechte, soweit sie sich unmittelbar aus dem Grundgesetz ergeben. Staatsbürgerliche Rechte, rechtliche Interessen oder bloße Kompetenzen ohne konkret benanntes Recht im GG sind hingegen nicht ausreichend. Das Bundesverfassungsgericht prüft die Verletzung dieser Rechte im Kontext des konkreten Konflikts, zum Beispiel bei der Missachtung parlamentarischer Beteiligungsrechte durch die Bundesregierung.

Welche Bedeutung hat das Rechtsschutzbedürfnis im Organstreitverfahren?

Ein Rechtsschutzbedürfnis ist auch im Organstreitverfahren unerlässlich. Es fehlt, wenn der Streitgegenstand bereits erledigt ist oder die Klärung keinen praktischen Nutzen mehr bringt. Allerdings erkennt das Bundesverfassungsgericht das fortbestehende Rechtsschutzinteresse oft dann an, wenn die zu klärende Rechtsfrage auch in Zukunft potentiell erneut auftreten kann („Wiederholungsgefahr“), oder wenn dem Schutz organschaftlicher Rechte grundsätzliche Bedeutung zukommt. Eine „bloße Rechtsmeinungsverschiedenheit“ genügt hingegen nicht; erforderlich ist ein echter Streit über konkrete Rechtspositionen.

Ist ein Organstreitverfahren auch gegen mehrere Antragsgegner möglich?

Ja, ein Organstreitverfahren kann sich gegen mehrere Organbeteiligte richten, sofern jeder für sich antragsgegnerfähig ist und dem Gegenstand des Rechtsstreits nach eine Verletzung organschaftlicher Rechte durch mehrere Beteiligte in Betracht kommt. Das Bundesverfassungsgericht kann die Verfahren anschließend miteinander verbinden oder getrennt entscheiden (§ 24 BVerfGG). Die Anträge müssen jedoch jeweils hinreichend bestimmt und auf den jeweiligen Antragsgegner bezogen formuliert werden. Zudem kann das Gericht im Rahmen seiner verfahrensleitenden Befugnisse weitere Organe als Beteiligte beiziehen, sofern dies für die Klärung des Sachverhalts erforderlich ist.

Welche Rechtsfolge hat eine Entscheidung im Organstreitverfahren?

Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts im Organstreitverfahren bindet grundsätzlich nur die Verfahrensbeteiligten. Diese Bindungswirkung gilt unmittelbar, sodass die unterlegene Seite gegebenenfalls organisatorische oder rechtliche Handlungen nachzuholen bzw. zu unterlassen hat. In Ausnahmefällen hat die Entscheidung kraft faktischer Autorität jedoch auch eine allgemeine Leitbildfunktion für das künftige Verhalten aller Verfassungsorgane. Das Bundesverfassungsgericht kann im Urteil nicht nur die Verletzung oder Nichtverletzung von Rechten feststellen, sondern auch Folgerungen zur Wiederherstellung des verfassungsmäßigen Zustands anordnen (§ 35 BVerfGG). Eine Revision oder Berufung gegen die Entscheidung ist nicht vorgesehen, allerdings kann das Verfahren auf Antrag nachträglich wieder aufgenommen werden, wenn neue Tatsachen oder Beweismittel bekannt werden, die eine abweichende Entscheidung rechtfertigen würden (§ 79 BVerfGG).

Wie wird ein Organstreitverfahren typischerweise abgeschlossen?

Ein Organstreitverfahren mündet regelmäßig in einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, die als Urteil oder Beschluss ergeht. Das Gericht stellt fest, ob und inwieweit das geltend gemachte Recht verletzt oder nicht verletzt wurde. Die Entscheidung muss begründet werden und entfaltet gegenüber allen Beteiligten Bindungswirkung. Zusätzlich veröffentlicht das Gericht die Entscheidung in den amtlichen Sammlungen, sodass sie auch für vergleichbare zukünftige Fälle als Orientierung dienen kann. In Fällen, in denen sich der Streitgegenstand während des Verfahrens erledigt, wird das Verfahren für erledigt erklärt.