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Offenkundige Tatsache


Begriff und Legaldefinition der Offenkundigen Tatsache

Die offenkundige Tatsache ist ein bedeutsamer Begriff im deutschen Recht, der insbesondere im Zivilprozessrecht, aber auch in anderen Rechtsgebieten Anwendung findet. Eine offenkundige Tatsache ist ein Sachverhalt, der allgemein bekannt oder ohne Weiteres aus zuverlässigen, allgemein zugänglichen Quellen feststellbar ist und daher keines Beweises bedarf. Die Vorschrift des § 291 der Zivilprozessordnung (ZPO) legt fest, dass Tatsachen, die gerichtskundig oder allgemein bekannt sind, keinem Beweis bedürfen. Dieser Grundsatz dient der Prozessökonomie, indem unnötige Beweisaufnahmen vermieden werden.


Allgemeine Charakteristika und Abgrenzung

Allgemeinbekanntheit und Gerichtskundigkeit

Die offenkundige Tatsache kann aufgrund zweier Alternativen angenommen werden:

  1. Allgemeinbekanntheit: Eine Tatsache ist allgemeinbekannt, wenn sie unter normalen Umständen jedem verständigen, durchschnittlichen Menschen bekannt ist oder zumindest von diesem leicht mit Sicherheit in Erfahrung gebracht werden kann. Hierzu zählen grundlegende naturwissenschaftliche Erkenntnisse, historische Ereignisse von hohem Bekanntheitsgrad oder aktuelle Geschehnisse von breiter öffentlicher Wahrnehmung.
  1. Gerichtskundigkeit: Gerichtskundig sind solche Tatsachen, die dem Gericht aufgrund amtlicher Wahrnehmung oder aufgrund seiner richterlichen Erfahrung aus früheren Verfahren bekannt sind. Dazu zählen beispielsweise die in der jeweiligen Region üblichen Geschäftszeiten von Behörden oder gerichtliche Erkenntnisse über allgemeine Abläufe im Gerichtsbezirk.

Abgrenzung zu beweisbedürftigen Tatsachen

Nicht alle Tatsachen, die im Alltag häufig anzutreffen sind, sind automatisch offenkundig im Sinne des § 291 ZPO. Bestehen Zweifel an der Allgemeinbekanntheit oder bestehen differenzierte Auffassungen (besonders bei wissenschaftlichen oder technischen Streitpunkten), ist die Eigenschaft als offenkundige Tatsache abzulehnen und der betreffende Sachverhalt ist beweisbedürftig.


Anwendungsbereiche und prozessuale Relevanz

Bedeutung im Zivilprozessrecht

Im Zivilprozess ist die Rolle der offenkundigen Tatsache besonders bedeutsam. Laut § 291 ZPO sind offenkundige Tatsachen sowohl im Erkenntnisverfahren als auch im Vollstreckungsverfahren von Bedeutung. Parteien können auf einen entsprechenden Beweisantritt verzichten, Richter sind berechtigt und verpflichtet, solche Tatsachen in ihre Entscheidungsfindung ohne Beweisaufnahme einzubeziehen. Die Parteien müssen bei offenkundigen Tatsachen auch nicht vorab ausdrücklich darauf hinweisen.

Bedeutung im Strafprozessrecht

Auch im Strafprozessrecht gemäß § 244 Abs. 3 Satz 2 StPO entfällt die Beweiserhebung, wenn gerichtskundige oder allgemeinbekannte Tatsachen vorliegen. Das Gericht kann den Sachverhalt als gegeben unterstellen, ohne über die Grenze in das Bereich der richterlichen Erfahrung hinauszugehen.

Bedeutung im Verwaltungsrecht

Im Verwaltungsverfahren ermöglicht § 24 VwVfG die Berücksichtigung offenkundiger Sachverhalte. Auch hier entfällt die Pflicht zur aufwändigen Sachverhaltsaufklärung, sofern Tatsachen als offenkundig angenommen werden können.


Voraussetzungen und Beispiele für Offenkundigkeit

Voraussetzungen für die Annahme der Offenkundigkeit

  • Hoher Bekanntheitsgrad: Die Tatsache muss in den maßgeblichen Verkehrskreisen (z.B. Öffentlichkeit, Fachkreise) ohne Weiteres als wahr anerkannt werden.
  • Zuverlässige Quellen: Die Information muss sich unkompliziert und zweifelsfrei aus zuverlässigen, allgemein zugänglichen Quellen (z.B. Duden, Kalender, öffentlich-rechtliche Statistiken) überprüfen lassen.
  • Kein spezielles Fachwissen: Die Feststellung der Offenkundigkeit darf keine besondere Sachkunde voraussetzen.

Beispiele für offenkundige Tatsachen

  • Geografische Daten wie der Verlauf der Elbe oder der höchste Berg Deutschlands
  • Allgemein anerkannte wissenschaftliche Erkenntnisse wie der Wechsel der Jahreszeiten
  • Öffentliche, amtliche Angaben wie Feiertage oder Wechsel der Uhrzeiten zwischen Sommer- und Winterzeit
  • Großereignisse wie Bundestagswahlen oder Fußball-Weltmeisterschaften, sofern sie unter üblichen Umständen einem breiten Publikum bekannt sind

Auswirkungen der Offenkundigkeit

Ausschluss der Beweiserhebung

Offenkundige Tatsachen werden vom Gericht ohne Beweisaufnahme berücksichtigt. Sie unterliegen auch keiner richterlichen Hinweis- oder Begründungspflicht in gleichem Maße wie andere Sachverhalte. Es besteht keine Bindung an entsprechende Vorbringen der Parteien, es genügt die allgemein zugängliche Erkenntnis.

Möglichkeiten zur Widerlegung

Die Eigenschaft als offenkundige Tatsache kann durch Nachweis gegenteiliger Umstände erschüttert werden. Gelingt der Nachweis, dass die behauptete Offenkundigkeit tatsächlich nicht vorliegt oder die Quelle einer Unrichtigkeit unterliegt, verliert der Sachverhalt seinen Status als offenkundige Tatsache.


Abgrenzung zu anderen Beweisregeln und Rechtsbegriffen

Unterschied zu Anscheinsbeweis und Indizien

Während die offenkundige Tatsache keiner Beweiserhebung bedarf, bleibt bei einem Anscheinsbeweis lediglich die Beweislast verschoben. Indizien wiederum bedürfen stets einer Gesamtbeurteilung und unterfallen dem Beweisverfahren.

Grenzen der Offenkundigkeit

Kommt das Gericht zu der Überzeugung, dass ein Umstand entgegen einer Partei als offenkundig eingestuft werden kann, ist dieser dennoch vollumfänglich zu prüfen. Maßgeblich ist die Überzeugungsbildung des Gerichts, die jedoch auf klar überprüfbare und nachvollziehbare Erkenntnisse gestützt sein muss.


Rechtsprechung und Praxisbeispiele

Die Rechtsprechung handelt Begriff und Anwendungsbereich der offenkundigen Tatsache regelmäßig recht restriktiv. Die Gerichte betonen, dass bei jedem Vorbringen genau zu prüfen ist, ob tatsächlich Offenkundigkeit vorliegt. In der Praxis werden beispielsweise Tagesgeschehen und statistische Daten des Statistischen Bundesamts häufig als offenkundig anerkannt. Dagegen sind wirtschaftliche Entwicklungen, Preisschwankungen oder regionale Besonderheiten mitunter gerade nicht offenkundig und bedürfen des Beweises.


Literaturverweise und Zusammenfassung

Die offenkundige Tatsache stellt einen bedeutenden prozessualen Vereinfachungsmechanismus dar, der der Beschleunigung gerichtlicher und behördlicher Verfahren dient. Ihre Anwendung erfordert ein hohes Maß an Sorgfalt bei der Prüfung der Voraussetzungen und muss stets unter Berücksichtigung der Interessen beider Parteien erfolgen.

Weiterführende Literatur:

  • Thomas/Putzo, ZPO, § 291
  • Zöller, ZPO, § 291
  • Löwe-Rosenberg, StPO, § 244

Zusammenfassung:
Die offenkundige Tatsache im deutschen Recht beschreibt Sachverhalte, die entweder allgemein bekannt oder ohne Weiteres zuverlässig feststellbar sind. Sie entlastet die Parteien und Gerichte von der Beweisaufnahme, ist jedoch streng und unter sorgfältiger Prüfung anzuwenden. Die genaue Definition und Anwendung finden sich in § 291 der ZPO sowie in entsprechenden Vorschriften anderer Verfahrensordnungen.


Schlagwörter: Offenkundige Tatsache, § 291 ZPO, allgemeinbekannte Tatsache, Gerichtskundigkeit, Beweisrecht, Zivilprozess, Prozessrecht, Beweiserleichterung

Häufig gestellte Fragen

Welche Kriterien müssen erfüllt sein, damit eine Tatsache als „offenkundig“ im rechtlichen Sinne gilt?

Eine Tatsache ist im rechtlichen Kontext dann als offenkundig anzusehen, wenn sie unmittelbar jedermann aus allgemein zugänglichen und zuverlässigen Quellen ohne nennenswerte Schwierigkeiten zur Kenntnis genommen werden kann. Dies setzt voraus, dass die Tatsache keine besonderen Fachkenntnisse oder spezielle Ermittlungen erfordert. Typischerweise handelt es sich dabei um Sachverhalte, die entweder zu den allgemeinen Lebenserfahrungen gehören oder aus allgemein zugänglichen öffentlichen Quellen, wie behördlichen Registern, Nachschlagewerken oder amtlichen Bekanntmachungen, mit Leichtigkeit entnommen werden können. Die Offenkundigkeit bezieht sich demnach nicht auf das Wissen einzelner Personen, sondern auf die allgemeine Zugänglichkeit und Erkennbarkeit innerhalb der beteiligten Verkehrskreise sowie der gerichtlichen Praxis. Maßgeblich ist, dass kein vernünftiger Zweifel an der Richtigkeit der Tatsache bestehen kann.

Welche rechtlichen Folgen hat es, wenn eine Tatsache als offenkundig angesehen wird?

Offenkundige Tatsachen unterliegen im deutschen Zivilprozess sowie im Verwaltungs- und Strafverfahren nach § 291 ZPO (Zivilprozessordnung) keiner Beweisaufnahme. Das Gericht darf und muss solche Tatsachen ohne Beweisaufnahme als wahr unterstellen, auch wenn keine der Parteien sie ausdrücklich behauptet oder zugestanden hat. Dies dient der Verfahrensbeschleunigung und der Vermeidung überflüssiger Prozesshandlungen, da die gerichtliche Kenntnis offenkundiger Umstände als allgemeines Wissen vorausgesetzt wird. Parteien können dem Gericht jedoch entgegentreten, wenn sie die Offenkundigkeit substantiiert bestreiten; das Gericht muss dann prüfen, ob die Voraussetzungen der Offenkundigkeit wirklich vorliegen.

Können auch Tatsachen aus dem ausländischen Recht offenkundig sein?

Im Grundsatz können auch Tatsachen, die sich auf das ausländische Recht beziehen, als offenkundig anerkannt werden, allerdings ist hier die Schwelle deutlich höher. Das deutsche Gericht hat nach § 293 ZPO das ausländische Recht von Amts wegen zu ermitteln, wobei eine Offenkundigkeit nur gegeben ist, wenn das ausländische Recht in Deutschland in gleicher Weise allgemein bekannt und zugänglich ist, wie dies für inländische Rechtsnormen gilt. In der Praxis ist die Offenkundigkeit ausländischen Rechts deshalb eine Ausnahme, etwa wenn bekannte internationale Übereinkommen oder weite Teile des ausländischen Rechts offiziell veröffentlicht und allgemein zugänglich sind.

Welche Rolle spielt die Offenkundigkeit im Strafprozessrecht?

Im Strafprozessrecht wirkt sich die Offenkundigkeit nach Maßgabe des § 244 Absatz 3 Satz 2 StPO (Strafprozessordnung) aus. Dort wird geregelt, dass das Gericht Beweisaufnahmen über Tatsachen, die offenkundig sind, unterlassen kann. Auch im Strafprozess müssen also solche Tatsachen vom Gericht von Amts wegen beachtet und – sofern feststellbar – in die Urteilsfindung einbezogen werden. Dies schließt beispielsweise auch sogenannte „gerichtskundige“ Tatsachen ein, also solche, die dem Gericht auf Grund dienstlicher Erfahrung bekannt sind. Auch hier ist jedoch auf die Anforderungen an die allgemeine Zugänglichkeit und mangelnden Zweifel an der Richtigkeit zu achten.

Wie unterscheidet sich die Offenkundigkeit von der gerichtskundigen Tatsache?

Die Begriffe „offenkundige Tatsache“ und „gerichtskundige Tatsache“ überschneiden sich, sind jedoch nicht identisch. Gerichtskundige Tatsachen sind diejenigen, die einem bestimmten Gericht aufgrund seiner eigenen Tätigkeit, Erfahrung oder seiner besonderen örtlichen oder sachlichen Zuständigkeit bekannt sind. Offenkundige Tatsachen hingegen sind solche, die allgemein, das heißt auch außerhalb des Gerichts, jedem zugänglich und ohne besonderen Aufwand ermittelbar sind. Während also gerichtskundige Tatsachen an das Wissen des konkreten Gerichts anknüpfen, beziehen sich offenkundige Tatsachen auf die Allgemeinheit.

Kann eine offenkundige Tatsache auch nachträglich bestritten oder widerlegt werden?

Obwohl das Gericht offenkundige Tatsachen grundsätzlich ohne Beweisaufnahme berücksichtigt, kann jede Partei Einwendungen erheben, wenn sie hinreichend substantiiert darlegt, dass die Tatsache entgegen der Annahme gerade nicht offenkundig ist oder mittlerweile Veränderungen eingetreten sind, die die frühere Offenkundigkeit entkräften. In einem solchen Fall ist das Gericht verpflichtet, den Einwand zu überprüfen und gegebenenfalls doch Beweis zu erheben. Die Feststellung der Offenkundigkeit ist somit nicht unanfechtbar, sondern unterliegt der richterlichen Überprüfung bei substantiiertem Bestreiten.

Gibt es eine zeitliche Begrenzung für die Offenkundigkeit von Tatsachen?

Der Status einer Tatsache als offenkundig kann sich im Zeitablauf ändern. Was heute allgemein bekannt und leicht überprüfbar ist, kann aufgrund veränderter tatsächlicher oder gesellschaftlicher Entwicklungen in Zukunft nicht mehr offenkundig sein. Dementsprechend beurteilt das Gericht die Offenkundigkeit immer mit Blick auf den Stand der Kenntnis und Erkennbarkeit zum Zeitpunkt der Entscheidung. Ereignen sich nachträglich Veränderungen oder verliert eine Tatsache ihren allgemeinen Bekanntheitsgrad, entfällt die Offenkundigkeit und es bedarf einer gesonderten Beweisführung.