Legal Lexikon

Wiki»Legal Lexikon»Erbrecht»nasciturus pro iam nato habetur

nasciturus pro iam nato habetur


Rechtsfigur: nasciturus pro iam nato habetur

Begriff und Bedeutung

Nasciturus pro iam nato habetur ist ein klassischer Rechtsgrundsatz aus dem römischen Recht und bedeutet wörtlich übersetzt „Der noch Ungeborene wird als bereits geboren angesehen“. Die Regel spielt insbesondere im Personen-, Erb- und Familienrecht eine bedeutende Rolle und ist bis heute in vielen nationalen Rechtsordnungen, darunter auch im deutschen und österreichischen Recht, von Relevanz.

Historische Entwicklung

Ursprung im römischen Recht

Der Grundsatz hat seinen Ursprung im römischen Recht und bezweckte den Schutz der Interessen des ungeborenen Kindes (nasciturus). Bereits im antiken Rom wurde der nasciturus fiktiv als lebend geboren behandelt, sofern dies zu seinen Gunsten, insbesondere im Erbfall, erforderlich war. Hierdurch konnte ein Erbrecht oder eine andere Rechtsposition entstehen, die ansonsten durch die Geburt nach Eintritt des Erbfalls ausgeschlossen gewesen wäre.

Rezeption in das moderne Recht

Durch die Rezeption des römischen Rechts gelangte der Grundsatz in zahlreiche europäische Rechtssysteme. Im deutschen Recht ist die Regel in § 1923 Abs. 2 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) normiert, ebenfalls findet sich entsprechende Regelungen in § 22 Allgemeines bürgerliches Gesetzbuch (ABGB) für Österreich sowie in weiteren europäischen Rechtsordnungen.

Rechtliche Ausgestaltung und Anwendung

Rechtsfähigkeit des nasciturus

Grundsätzlich beginnt die Rechtsfähigkeit eines Menschen in vielen Rechtssystemen erst mit der Geburt. Die Figur des nasciturus stellt eine wichtige Ausnahme dar: Das ungeborene Kind wird hinsichtlich bestimmter Rechte so behandelt, als sei es bereits geboren, jedoch beschränkt sich diese Fiktion ausschließlich auf Fälle, in denen dies zu Gunsten des Kindes gereicht (conditio pro onere).

Anwendungsbereiche

Erbrecht

Der wohl bedeutendste Anwendungsbereich ist das Erbrecht. Nach § 1923 Abs. 2 BGB gilt: „Wer zur Zeit des Erbfalls noch nicht geboren ist, aber bereits gezeugt ist, wird als vor dem Erbfall geboren angesehen.“ Damit kann ein noch ungeborenes, aber bereits gezeugtes Kind Erbe werden. Voraussetzung ist die spätere Lebendgeburt, da andernfalls gemäß § 1 BGB die Rechtsfähigkeit nicht eintritt. Die Vorschrift schützt damit das Erbrecht des noch ungeborenen Kindes.

Pflichtteilsrecht

In ähnlicher Weise erstreckt sich die Anwendung des Grundsatzes auf Pflichtteilsansprüche, wie sie in § 2303 BGB geregelt sind. Der nasciturus kann damit auch Pflichtteilsberechtigter werden, sofern er nach dem Tod des Erblassers geboren wird.

Familienrecht und Abstammungsrecht

Im Familienrecht, insbesondere im Abstammungsrecht, findet die Rechtsfigur Anwendung, etwa im Zusammenhang mit Unterhaltsansprüchen und Vaterschaftsfeststellungen. Die Fiktion einer schon bestehenden Person kann für Ansprüche auf Kindesunterhalt oder bei der Zuweisung elterlicher Sorge von Bedeutung sein.

Stiftungs- und Gesellschaftsrecht

Unter bestimmten Voraussetzungen kann der nasciturus auch im Gesellschafts- oder Stiftungsrecht Rechte geltend machen – etwa als Begünstigter einer Stiftung, wenn dies ausdrücklich vorgesehen ist.

Voraussetzungen für die Anwendbarkeit

Zeitpunkt der Zeugung

Elementare Voraussetzung ist, dass das Kind zur Zeit des relevanten Ereignisses (z. B. Erbfall) bereits gezeugt, aber noch nicht geboren ist. Frühere Rechtswirkungen für noch nicht gezeugte Nachkommen werden grundsätzlich nicht von der Regel erfasst.

Lebendgeburt

Die Rechtswirkung des Grundsatzes tritt nur ein, wenn das Kind tatsächlich lebend geboren wird. Dies dient als Schutzmechanismus vor missbräuchlicher Inanspruchnahme der Regel. Im Falle einer Totgeburt werden die Rechte rückwirkend als nicht entstanden betrachtet.

Begrenzung auf Vorteil des Kindes

Der Grundsatz wird nur „zugunsten“ des Kindes (ad bonum nasciturus) angewendet. Er darf nicht zu einer Schlechterstellung führen und kann nicht zum Nachteil Dritter gegen das ungeborene Kind eingesetzt werden.

Abgrenzung zu vergleichbaren Rechtsgrundsätzen

Bedingte und aufschiebende Wirkung

Im Unterschied zur rein bedingten Rechtsposition erhält das ungeborene Kind durch den Grundsatz nasciturus pro iam nato habetur eine besondere rechtliche Stellung, die von einer aufschiebenden Bedingung (ad eventum nascendi) abhängt, nämlich der Lebendgeburt.

Schutzschirmfunktion

Der Grundsatz stellt eine Sonderregelung dar, die ausschließlich schutzorientierte Zwecke verfolgt und lediglich auf bereits gezeugte Lebewesen Anwendung findet.

Rechtsvergleichende Betrachtung

Deutschland

Im deutschen Recht ist das Institut explizit in § 1923 Abs. 2 BGB normiert. Weitere Anwendungsregelungen bestehen im Familienrecht und Minderjährigenrecht.

Österreich

Das ABGB übernimmt die Regelung über § 22 ABGB mit ähnlicher Ausgestaltung. Die Konsequenzen für das Erb- und Familienrecht bleiben vergleichbar.

International

Auch im schweizerischen Zivilgesetzbuch und in anderen kontinentaleuropäischen Kodifikationen wird der Grundsatz für besondere Schutzinteressen übernommen.

Praktische Bedeutung und aktuelle Entwicklungen

Bedeutung für die Nachlassplanung

Die Beachtung von nasciturus pro iam nato habetur ist insbesondere bei Testamentserrichtungen und Nachlassplanungen relevant, um sicherzustellen, dass alle potenziellen Erben, einschließlich ungeborener Nachkommen, berücksichtigt werden.

Bedeutung für vorgeburtlichen Schutz

Der Grundsatz trägt dazu bei, die vermögensrechtlichen Interessen des ungeborenen Kindes schon vor der Geburt abzusichern. Er steht damit am Schnittpunkt zwischen Lebensschutz, Sozialschutz und Erbrecht.

Rechtsprechung und Auslegung

Die genaue Anwendung wird durch Gerichte im Einzelfall geprüft. Streitfragen entstehen häufig bei der Abgrenzung der Begrifflichkeiten „gezeugt“ und bei der nachträglichen Überprüfung, ob eine Lebendgeburt vorliegt.

Literaturhinweise und Quellen

  • BGB, § 1, § 1923 Abs. 2
  • ABGB, § 22
  • Handwörterbuch zur Rechtswissenschaft
  • Palandt, BGB-Kommentar
  • Münchener Kommentar zum BGB

Diese Darstellung bietet eine umfassende Übersicht über den Grundsatz „nasciturus pro iam nato habetur“, dessen Hintergründe, rechtliche Ausgestaltung und praktische Auswirkungen. Der Begriff ist ein zentrales Instrument zum Schutz der Interessen ungeborener Kinder in verschiedenen Rechtsgebieten und trägt wesentlich zur Sicherstellung gerechter Vermögensübertragungen bei.

Häufig gestellte Fragen

Unter welchen Voraussetzungen wird der nasciturus rechtlich wie ein bereits geborener Mensch behandelt?

Im deutschen Zivilrecht sowie in verschiedenen europäischen Rechtsordnungen wird der nasciturus, also das ungeborene, aber bereits gezeugte Kind, in bestimmten Fällen so behandelt, als ob es bereits geboren wäre. Voraussetzung dafür ist stets, dass die Geburt später tatsächlich lebend erfolgt (conditio iuris: „nasciturus pro iam nato habetur, quotiens de commodis eius agitur“ – der Nasciturus wird als schon geboren betrachtet, soweit es zu seinem Vorteil gereicht). Die Fiktion gilt also immer nur dann, wenn sie dem Schutz der Rechte oder Ansprüche des nasciturus dient. Kommt das Kind tot zur Welt, waren alle zwischengeschalteten Rechtswirkungen hinfällig und entfalten von Anfang an keine Wirkung. Dieses Prinzip dient insbesondere dem Schutz unterhaltsrechtlicher, erbrechtlicher und schadensersatzrechtlicher Ansprüche, bei denen der nasciturus nur durch eine solche Gleichstellung Rechte erwerben könnte.

In welchen Rechtsgebieten findet das Prinzip insbesondere Anwendung?

Die Fiktion des nasciturus, der als schon geborener Mensch gilt, findet vorrangig im Erbrecht, Familienrecht, Versicherungsrecht sowie im Schadensersatzrecht Anwendung. Im Erbrecht ermöglicht sie beispielsweise die Berücksichtigung des ungeborenen Kindes als Erbe (§ 1923 Abs. 2 BGB), im Familienrecht etwa bei Unterhaltsansprüchen oder Sorgerechtsfragen. Im Versicherungsrecht spielt sie beispielsweise bei der Bezugsberechtigung einer Lebensversicherung eine Rolle, sofern das kind als begünstigte Person eingesetzt wurde. Im Schadensersatzrecht kann das Kind, das erst nach dem schädigenden Ereignis lebend geboren wird, für während der Schwangerschaft erlittene Schäden Ersatz verlangen. In all diesen Bereichen sichert die Regelung des nasciturus dessen Rechtsposition umfassend ab.

Welche konkreten Rechte kann ein nasciturus erwerben?

Ein nasciturus kann vor allem Erbrechte, Pflichtteilsrechte, Unterhaltsrechte sowie Schadensersatzansprüche erwerben. Im Erbrecht steht ihm die Erbenstellung zu, als ob er zum Zeitpunkt des Erbfalls schon geboren gewesen wäre, sofern die Geburt lebend erfolgt. Gleiches gilt für Pflichtteilsansprüche nach § 2303 BGB. Im Familien- und Unterhaltsrecht hat der nasciturus Anspruch auf Unterhalt von dem Zeitpunkt der Empfängnis an, sofern die rechtlichen Voraussetzungen vorliegen. Ferner kann er Schadensersatzansprüche wegen vorgeburtlicher Schädigung geltend machen (§ 823 BGB), etwa im Fall eines medizinischen Behandlungsfehlers während der Schwangerschaft.

Kann der nasciturus auch beschränkt werden, etwa durch Ausschluss vom Erbe?

Ja, auch gegenüber dem nasciturus können vertragliche oder testamentarische Verfügungen getroffen werden, die dessen Rechte einschränken. So kann er durch letztwillige Verfügung von der Erbfolge ausgeschlossen werden, genauso wie bereits geborene Kinder. Die Gleichstellung gilt also nicht nur zugunsten des nasciturus, sondern auch hinsichtlich etwaiger Nachteilsregelungen oder Verfügungen, die gültig wären, wenn er schon geboren gewesen wäre.

Muss die Geburt lebend erfolgen, damit die Fiktion Wirkung entfaltet?

Die Fiktion der Gleichstellung mit einem bereits Geborenen entfaltet ausschließlich dann Rechtswirkung, wenn das Kind lebend geboren wird, d.h. zumindest ein Atemzug nach der Geburt beurkundet werden kann. Bei Todgeburt oder Fehlgeburt sind jedwede zwischenzeitlich erworbenen Rechte rückwirkend als nie entstanden zu betrachten. Das Gesetz schützt somit ausschließlich das potentiell lebensfähige Kind und trägt damit der engherzigen Zweckbindung dieses Instituts Rechnung.

Gibt es Unterschiede in der Behandlung des nasciturus im deutschen und europäischen Recht?

Das Grundprinzip „nasciturus pro iam nato habetur“ ist in vielen europäischen Rechtsordnungen etabliert. Unterschiede bestehen insbesondere im Anwendungsbereich und Ausgestaltung dieser Rechtsfigur. Während das deutsche Recht stets voraussetzt, dass die Gleichstellung nur im Interesse des nasciturus und bei lebender Geburt eintritt, gibt es Länder, in denen diese Fiktion möglicherweise weiterreichende oder restriktivere Wirkungen entfaltet. Im französischen Zivilrecht beispielsweise ist der Schutz des nasciturus sogar noch umfassender ausgestaltet. Nationale Besonderheiten sind daher stets im Einzelfall zu beachten.

Gibt es Ausnahmen, in denen der nasciturus nicht wie ein bereits Geborener behandelt wird?

Grundsätzlich gilt die Rechtsfiktion nur, soweit es um Vorteile für den nasciturus geht („quotiens de commodis eius agitur“). Steht die Wahrung von Interessen Dritter oder das öffentliche Interesse entgegen, wird der nasciturus nicht gleichgestellt. So können ihm keine Pflichten oder Nachteile auferlegt werden, solange er noch nicht geboren ist. Ebenso ist er weder delikts- noch geschäftsfähig. Zudem wird der nasciturus nicht bei der Berechnung bestimmter Höchstzahlen (zum Beispiel der Anzahl der Erben bei gesetzlichen Teilungsanordnungen) immer mitgezählt, sofern keine spezialgesetzliche Regelung dies bestimmt.