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Nachwirkung von Tarifverträgen


Nachwirkung von Tarifverträgen

Die Nachwirkung von Tarifverträgen bezeichnet die rechtliche Wirkung eines Tarifvertrags nach dessen Ablauf oder Kündigung, sofern keine neuen tariflichen Regelungen zwischen den Tarifvertragsparteien vereinbart werden. Das Nachwirkungsprinzip ist ein zentrales Element des kollektiven Arbeitsrechts und ermöglicht, dass bestimmte tarifliche Rechtsnormen über das Ende des formellen Bestehens des Vertrages hinaus fortgelten. Rechtliche Grundlagen, Voraussetzungen, Reichweite, Grenzen und die rechtspolitische Bedeutung der Nachwirkung werden im Folgenden umfassend dargestellt.


Rechtliche Grundlagen der Nachwirkung von Tarifverträgen

§ 4 Abs. 5 Tarifvertragsgesetz (TVG)

Die maßgebliche rechtliche Regelung findet sich in § 4 Abs. 5 TVG. Dieser normiert:
„Nach Beendigung des Tarifvertrags gelten die Rechtsnormen weiter, bis sie durch eine andere Abmachung ersetzt werden.“
Damit wird klargestellt, dass die betroffenen tariflichen Regelungen nicht unmittelbar mit Ablauf des Tarifvertrags wegfallen, sondern für die betroffenen Arbeitsverhältnisse fortgelten.


Voraussetzungen der Nachwirkung

Erfasste Arbeitsverhältnisse

Die Nachwirkung greift grundsätzlich nur in Arbeitsverhältnissen, in denen beide Voraussetzungen erfüllt sind:

  • Die Parteien des Arbeitsverhältnisses waren während der Laufzeit des Tarifvertrags tarifgebunden (§ 3 Abs. 1 TVG).
  • Das Arbeitsverhältnis bestand bereits bei Beendigung des Tarifvertrags.

Der Geltungsbereich der Nachwirkung erstreckt sich nicht auf Arbeitsverhältnisse, die erst nach Vertragsende begründet werden oder auf solche, in denen keine beiderseitige Tarifgebundenheit bestand.

Ablauf oder Kündigung des Tarifvertrags

Die Nachwirkung tritt ein mit dem Zeitpunkt des Endes der Laufzeit (Ablauf der Befristung) oder der rechtswirksamen Kündigung des Tarifvertrags, sofern kein neuer Tarifvertrag abgeschlossen wird.


Inhaltliche Reichweite der Nachwirkung

Welche Normen wirken nach?

Nachwirkungsfähig sind ausschließlich die sog. Normeninhaltlichen Bestimmungen eines Tarifvertrags gemäß § 1 TVG, d.h. Regelungen, die Inhalt, Abschluss, Beendigung und Ordnung des Arbeitsverhältnisses betreffen, z. B.:

  • Arbeitszeiten
  • Vergütungshöhe
  • Urlaubstage
  • Kündigungsfristen

Nicht nachwirkungsfähig sind hingegen schuldrechtliche Vereinbarungen und Regelungen über betriebliche Einrichtungen oder tarifliche Schlichtungsverfahren.

Fortdauer der Wirkung und Beendigung der Nachwirkung

Die Nachwirkung besteht solange fort, bis die betreffenden Arbeitsbedingungen durch eine „andere Abmachung“ ersetzt werden. Hierzu zählen:

  • Abschluss eines neuen Tarifvertrags mit gleichem Regelungsgegenstand
  • Abschluss einer Betriebsvereinbarung, soweit keine Tarifexklusivität vorliegt
  • Individualvertragliche Vereinbarungen zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer

Wurde eine arbeitsvertragliche Regelung bereits durch Nachwirkung eines Tarifvertrags gestaltet, kann sie jederzeit durch eine neue Vereinbarung modifiziert werden, sofern kein tariflicher Vorrang entgegensteht (§ 77 Abs. 3 BetrVG).


Grenzen der Nachwirkung

Unabdingbarkeit während der Nachwirkung

Während der Nachwirkung gelten die Tarifnormen als Mindestbedingungen. Sie können durch Arbeitsvertrag nur zugunsten des Arbeitnehmers, nicht aber zu dessen Ungunsten abbedungen werden, sofern keine Öffnungsklausel besteht.

Tarifexklusivität und Betriebsvereinbarungen

Soweit ein Arbeitnehmer nicht mehr tarifgebunden ist, können Betriebsvereinbarungen die nachwirkenden Regeln ersetzen, sofern sie nicht tariflich ausgeschlossen sind. Für tarifgebundene Arbeitnehmer gilt dies nicht, soweit Tarifvorrang besteht.

Ende der Nachwirkung bei Nachfolgetarifvertrag

Mit Inkrafttreten eines neuen Tarifvertrags mit identischem Regelungsbereich endet die Nachwirkung des alten Tarifwerks. Die neuen Normen lösen sodann die bisherigen nachwirkenden Bestimmungen ab.


Rechtsprechung zur Nachwirkung von Tarifverträgen

Die Rechtsprechung, insbesondere des Bundesarbeitsgerichts (BAG), hat zahlreiche Aspekte der Nachwirkung konkretisiert. Wichtige Leitentscheidungen betreffen etwa:

  • Den Zeitpunkt des Entstehens der Nachwirkung (z.B. BAG, Urteil v. 24.04.1991 – 4 AZR 389/90)
  • Die Begrenzung der Nachwirkung auf Arbeitsverhältnisse, die während der Laufzeit beidseitig tarifgebunden waren (BAG, Urteil v. 20.02.2008 – 4 AZR 151/07)

Nachwirkung und Einzelarbeitsverträge

Bedeutung für neue Arbeitsverhältnisse

Für Arbeitsverhältnisse, die nach Ende des Tarifs geschlossen werden, findet die Nachwirkung keine Anwendung. Diese Arbeitsverhältnisse können allenfalls in Form einer arbeitsvertraglichen Bezugnahme an die Regelungen des abgelaufenen Tarifvertrags anknüpfen, unterliegen dann aber der Privatautonomie und nicht mehr der zwingenden Tarifbindung.

Änderungskündigung und Nachwirkung

Bei Änderungskündigungen ist die Nachwirkung ebenfalls zu berücksichtigen: Der Arbeitgeber kann die nachwirkende Regelung nur im Wege einer Änderungskündigung einseitig modifizieren, soweit die gesetzlichen Voraussetzungen hierfür vorliegen.


Bedeutung in der Praxis und rechtspolitische Diskussion

Die Nachwirkung von Tarifverträgen sichert den Fortbestand bewährter Arbeitsbedingungen in Phasen tariflicher Unsicherheit oder Stillstand und verhindert das plötzliche Entstehen tarifloser Zustände. Sie stellt ein wichtiges Gleichgewicht zwischen dem Interesse der Beschäftigten an Bestandsschutz und der Verhandlungsautonomie der Tarifparteien dar.

Rechtspolitisch wird diskutiert, ob die Nachwirkung zeitlich begrenzt oder mit weitergehenden Ersatzmechanismen ergänzt werden sollte, um etwa langwierige tariflose Zustände zu vermeiden.


Literatur und weiterführende Informationen

  • Wlotzke/Wißmann: Tarifvertragsgesetz, 5. Aufl., München 2021
  • Däubler/Kittner/Klebe/Wedde: Tarifvertragsrecht, 5. Aufl., Frankfurt a. M. 2018
  • BAG Entscheidungssammlung zum Schlagwort „Nachwirkung von Tarifverträgen“

Zusammenfassung:
Die Nachwirkung von Tarifverträgen ist ein zentrales Schutzinstrument im Arbeitsvertragsrecht, das die Fortgeltung tariflicher Regelungen nach Vertragsende absichert. Sie schützt Arbeitnehmer vor abrupten Verschlechterungen und gibt Arbeitgebern Planungssicherheit bis zum Abschluss neuer Regelungen. Die Vielzahl von spezialgesetzlichen und richterrechtlichen Aspekten macht die Nachwirkung zu einem komplexen, jedoch praxisnahen Rechtsinstitut des Tarifrechts.

Häufig gestellte Fragen

Unter welchen rechtlichen Voraussetzungen wirkt ein Tarifvertrag nach?

Die Nachwirkung eines Tarifvertrags tritt gemäß § 4 Abs. 5 Tarifvertragsgesetz (TVG) ein, wenn der Tarifvertrag endet, sei es durch Zeitablauf, Kündigung oder aus anderen Gründen, und keine neue tarifliche Regelung besteht. Voraussetzung hierfür ist, dass das Arbeitsverhältnis der betroffenen Arbeitnehmer weiterhin besteht und bislang vom Tarifvertrag erfasst war. Für die Nachwirkung ist es unerheblich, ob ein Anschluss-Tarifvertrag existiert, solange für die von der Nachwirkung erfassten Arbeitsverhältnisse keine neuen kollektivrechtlichen oder einzelvertraglich abweichenden Regelungen geschaffen werden. Die Nachwirkung endet erst, wenn eine andere rechtswirksame Regelung – durch Tarifvertrag, Betriebsvereinbarung oder (zulässig) Einzelarbeitsvertrag – getroffen wird. Die Nachwirkung gilt nur für Normen des Tarifvertrags, die das Arbeitsverhältnis unmittelbar und zwingend betreffen (insbesondere bezüglich Arbeitsentgelt, Arbeitszeit und sonstiger Arbeitsbedingungen); schuldrechtliche Regelungen zwischen den Tarifvertragsparteien wirken dagegen nicht nach.

Für welchen Personenkreis gilt die Nachwirkung eines Tarifvertrags?

Nachwirkung entfaltet ihre Wirkung ausschließlich für Arbeitnehmer, die im Geltungsbereich des Tarifvertrags standen und deren Arbeitsverhältnis zum Zeitpunkt des Tarifendes noch fortbesteht. Maßgeblich ist, dass sowohl Arbeitgeber als auch Arbeitnehmer im ursprünglich zutreffenden tariflichen Geltungsbereich verblieben sind, das heißt, dass der Arbeitgeber tarifgebunden ist und der Arbeitnehmer Mitglied der tarifschließenden Gewerkschaft ist, beziehungsweise auf das Arbeitsverhältnis der Tarifvertrag wirksam angewendet wurde (z. B. durch Bezugnahmeklausel). Neue Arbeitsverhältnisse, die nach Ablauf oder Beendigung des Tarifvertrags begonnen werden, fallen nicht in die Nachwirkung: Für sie gilt vielmehr das allgemeine Arbeitsvertragsrecht oder andere kollektivrechtliche Regelungen, sofern solche existieren.

Welche Inhalte eines Tarifvertrags wirken nach?

Die Nachwirkung betrifft nur die sogenannten Normen, also die in § 3 Abs. 1 TVG beschriebenen Regelungen, die das einzelne Arbeitsverhältnis unmittelbar und zwingend betreffen. Dazu zählen insbesondere Regelungen zum Arbeitsentgelt, zur Arbeitszeit, zu Urlaub und zu weiteren allgemeinen Arbeitsbedingungen. Nicht nachwirkend sind dagegen schuldrechtliche Bestimmungen, die das Verhältnis zwischen den Tarifparteien betreffen (z. B. Regelungen zu Schlichtungsverfahren, Friedenspflicht, Beitragszahlungen), genauso wenig wie Regelungen, die ausschließlich für das kollektive Arbeitsrecht relevant sind. Auch Einmalzahlungen, die einen bestimmten Auszahlungstermin vorsehen und nach Vertragsende fällig werden, wirken in aller Regel nicht nach, sofern ihre Fälligkeit nach dem Endzeitpunkt des Tarifvertrags eintritt.

Wie lange dauert die Nachwirkung eines Tarifvertrags?

Die Nachwirkung eines Tarifvertrags endet, sobald eine andere rechtliche Regelung getroffen wird, die denselben Regelungsbereich erfasst. Dies kann durch einen neuen Tarifvertrag, eine Betriebsvereinbarung oder durch eine individualvertragliche Abrede erfolgen, sofern diese zulässig ist. Solange keine neue, anderweitige Regelung besteht, bleibt die nachwirkende Tarifnorm für die betroffenen Arbeitsverhältnisse unverändert in Kraft. Es gibt weder eine gesetzliche Höchstfrist noch eine automatische Begrenzung der Nachwirkungsdauer – die Nachwirkung kann daher notfalls über viele Jahre Bestand haben, was in der Praxis allerdings selten vorkommt.

Können nachwirkende Tarifvertragsbestimmungen einseitig geändert werden?

Nachwirkende Tarifnormen haben lediglich die Wirkung „dispositiver“ Rechtsnormen: Sie entfalten ihre Wirkung so lange, bis sie durch eine neue Regelung ersetzt werden. Eine einseitige Änderung oder Abweichung zu Ungunsten des Arbeitnehmers durch den Arbeitgeber ist nicht zulässig, da die Nachwirkung insoweit wie Tarifbindung wirkt. Änderungen zu Gunsten des Arbeitnehmers durch Einzelvereinbarung sind hingegen grundsätzlich zulässig. Eine kollektive Abweichung ist darüber hinaus durch eine neue Betriebsvereinbarung oder einen Folgetarifvertrag möglich, unter Beachtung der Sperrwirkung bestehender Tarifverträge gemäß § 77 Abs. 3 Betriebsverfassungsgesetz (BetrVG).

Welche Rolle spielen Bezugnahmeklauseln im Zusammenhang mit der Nachwirkung?

Bei Arbeitsverträgen, die tarifliche Regelungen durch sogenannte Bezugnahmeklauseln einbeziehen, stellt sich die Frage, ob und wie die Nachwirkung zum Tragen kommt. Hier wird im Einzelfall unterschieden: Enthält die Bezugnahmeklausel eine „dynamische“ Bezugnahme („jeweils in der geltenden Fassung“), endet die Anwendung mit dem Außerkrafttreten des Tarifvertrags und eine Nachwirkung besteht allenfalls bei ausdrücklicher Vereinbarung. Bei einer „statischen“ Bezugnahme („Tarifvertrag in der Fassung vom…“ oder „wie bei Einstellung“) kann der ursprünglich einbezogene Tarifvertrag auch nach seinem Ende als vertragliche Regelung fortgelten. Grundsätzlich bezieht sich die gesetzliche Nachwirkung jedoch nur auf die normative Wirkung des Tarifvertrags und nicht auf dessen arbeitsvertraglich vereinbarte Anwendung, sodass hier immer eine genaue Prüfung der jeweiligen Vertragsklausel erforderlich ist.