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Nachwirkung von Betriebsvereinbarungen


Begriff und Bedeutung der Nachwirkung von Betriebsvereinbarungen

Die Nachwirkung von Betriebsvereinbarungen ist ein zentrales Rechtsinstitut im deutschen Arbeitsrecht. Es regelt, unter welchen Voraussetzungen und in welchem Umfang rechtswirksam gewordene Betriebsvereinbarungen über ihren eigentlichen Geltungszeitraum hinaus weiterhin auf das Arbeitsverhältnis einwirken. Die Nachwirkung sichert die Fortgeltung betrieblicher Regelungen, solange keine anderweitigen Abmachungen getroffen werden (§ 77 Abs. 6 Betriebsverfassungsgesetz – BetrVG).


Rechtsgrundlagen

Betriebsverfassungsgesetz (BetrVG)

Die Nachwirkung von Betriebsvereinbarungen ist gesetzlich in § 77 Abs. 6 BetrVG verankert. In Ergänzung hierzu sind auch die Regelungen aus §§ 77 bis 87 BetrVG zu berücksichtigen, da sie die inhaltliche und verfahrensmäßige Ausgestaltung sowie Beendigungsmodalitäten von Betriebsvereinbarungen betreffen.

Anwendungsbereich

Die Vorschrift des § 77 Abs. 6 BetrVG betrifft ausschließlich normative Betriebsvereinbarungen. Dies sind Regelungen, die zu unmittelbaren und zwingenden Wirkungen auf die einzelnen Arbeitsverhältnisse führen (z.B. zu Arbeitszeit, Urlaub, Entgeltgrundsätzen). Regelungsabreden, also rein schuldrechtliche Vereinbarungen zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat, unterliegen nicht der Nachwirkung.


Voraussetzungen der Nachwirkung

Beendigung der Betriebsvereinbarung

Die Nachwirkung tritt grundsätzlich dann ein, wenn eine Betriebsvereinbarung entweder

  • kraft Zeitablaufs (befristete Betriebsvereinbarung),
  • durch Kündigung einer der Parteien (ordentlich oder außerordentlich),
  • durch Aufhebungsvereinbarung oder
  • durch Betriebsübergang nach § 613a BGB,

beendet wird. Die Nachwirkung setzt jedoch voraus, dass noch keine neue Regelung – sei es durch eine neue Betriebsvereinbarung oder Einzelvertrag – getroffen wurde.

Keine Anwendung bei tariflichen Regelungen

Nach § 77 Abs. 3 BetrVG ist die Regelungssperre zu beachten: Soweit eine Angelegenheit durch Tarifvertrag geregelt ist oder üblicherweise geregelt wird, kann eine Betriebsvereinbarung nicht nachwirken, wenn ein Tarifvertrag an ihre Stelle tritt.

In Kraft bleibende Regelungen

Nachwirkende Regelungen gelten unmittelbar und zwingend für alle betroffenen Arbeitnehmer, es sei denn, für den jeweiligen Regelungsgegenstand wurde eine neue Abmachung getroffen.


Rechtswirkung der Nachwirkung

Inhalt der Nachwirkung

Während der Nachwirkungsphase bleibt der normative Inhalt der Betriebsvereinbarung bestehen. Die betroffenen Arbeitskonditionen können also weder einseitig durch den Arbeitgeber verschlechtert noch ohne Zustimmung des Arbeitnehmers abgeändert werden.

Dauer der Nachwirkung

Die Nachwirkung dauert fort, bis:

  • eine neue Betriebsvereinbarung abgeschlossen,
  • eine andere kollektivrechtliche Regelung (z. B. Tarifvertrag) in Kraft tritt oder
  • eine individualvertragliche Abmachung zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber getroffen wird.

Nach fortlaufender Rechtsprechung kann die Nachwirkung auch durch eine individualvertragliche Änderung beendet werden, sofern darin auf die nachwirkende Regelung ausdrücklich Bezug genommen wird.


Grenzen und Schranken der Nachwirkung

Regelungsersetzung und Sperrwirkung

Die Nachwirkung endet, wenn der Regelungsgegenstand durch eine neue kollektive oder individualvertragliche Regelung ersetzt wird. Dabei besteht jedoch die Besonderheit, dass eine durch Nachwirkung fortgeltende Betriebsvereinbarung nicht erneut durch einen Betriebsratsbeschluss oder eine einseitige Handlung des Arbeitgebers beendet werden kann.

Verhältnis zu anderen Rechtsquellen

Wird für denselben Regelungsgegenstand ein Tarifvertrag wirksam, geht dieser der nachwirkenden Betriebsvereinbarung vor und verdrängt sie mit Wirkung auf die individuellen Arbeitsverhältnisse (§ 77 Abs. 3 BetrVG).


Praxisrelevanz und Anwendungsbeispiele

Beispiele für typische nachwirkende Betriebsvereinbarungen

  • Arbeitszeitmodelle (z. B. Schichtpläne)
  • Vergütungs- und Prämienregelungen
  • Urlaubsgewährung und -verteilung
  • Regelungen zu betrieblicher Altersversorgung

In diesen Bereichen können während der Nachwirkungszeitlar keine beliebigen Änderungen eintreten, solange keine neue, diese Punkte betreffende Vereinbarung getroffen wurde.

Bedeutung für Arbeitnehmer und Arbeitgeber

Für Arbeitnehmer garantiert die Nachwirkung Kontinuität und Verlässlichkeit in ihren Arbeitsbedingungen. Arbeitgeber sind verpflichtet, selbst nach Ablauf einer Betriebsvereinbarung an deren normative Regelungen gebunden zu bleiben, solange keine neue Regelung erfolgt.


Nachwirkung und Betriebsübergang

Ein besonderer Fall ergibt sich beim Betriebsübergang nach § 613a BGB. Hier bestimmt die Rechtsprechung, dass nachwirkende Betriebsvereinbarungen als Teil des Arbeitsverhältnisses auf den Betriebserwerber übergehen. Die Regelungen behalten ihre Geltung bis zum Abschluss neuer Vereinbarungen oder Änderungen im Arbeitsvertrag.


Zusammenfassung

Die Nachwirkung von Betriebsvereinbarungen bildet ein wichtiges rechtliches Instrument im deutschen Kollektivarbeitsrecht. Sie bewirkt, dass die Rechte und Pflichten aus einer beendeten Betriebsvereinbarung weiterhin verbindlich sind, solange keine neue Regelung geschaffen wird. Rechtsgrundlage ist § 77 Abs. 6 BetrVG. Die Nachwirkung stellt sicher, dass betriebliche Regelungen nicht unbeabsichtigt entfallen und somit ein grundlegendes Maß an Rechtssicherheit für die Betriebsparteien gewährleistet bleibt. Ihre Geltung endet erst mit Inkrafttreten einer neuen kollektiv- oder individualrechtlichen Vereinbarung, wobei tarifliche Regelungen stets Vorrang genießen. Die Nachwirkung ist damit ein stabilisierender und schützender Faktor im Gefüge der betrieblichen Mitbestimmung.

Häufig gestellte Fragen

Wie lange wirkt eine Betriebsvereinbarung nach, wenn sie außer Kraft getreten ist?

Nach § 77 Abs. 6 BetrVG entfalten Betriebsvereinbarungen nach ihrem Außerkrafttreten grundsätzlich eine Nachwirkung, bis sie durch eine andere Abmachung ersetzt werden. Diese Nachwirkung sorgt dafür, dass die geregelten Inhalte weiterhin angewendet werden, obwohl die Betriebsvereinbarung formell beendet wurde. Allerdings beschränkt sich die Nachwirkung regelmäßig auf sogenannte normative Regelungen, also solche, die unmittelbar die Arbeitsbedingungen der Arbeitnehmer betreffen, wie etwa Arbeitszeit, Vergütung oder Urlaubsregelungen. Individuelle Regelungen oder betriebliche Abreden, die lediglich deklaratorischen Charakter haben, wirken dagegen nicht nach. Zu beachten ist, dass die Nachwirkung endet, sobald entweder eine neue Betriebsvereinbarung oder eine andere kollektivrechtliche Regelung getroffen wird, beispielsweise durch Tarifvertrag oder eine neue Betriebsvereinbarung. Auch Einzelabsprachen mit dem Arbeitnehmer können ausreichend sein, um die Nachwirkung enden zu lassen, soweit diese zulässig sind. Die Nachwirkung soll damit verhindern, dass der Arbeitnehmer plötzlich schutzlos gestellt ist, zu dem Zeitpunkt, an dem eine wirksame Betriebsvereinbarung endet und eine neue Kollektivregelung noch aussteht.

Welche Inhalte einer Betriebsvereinbarung unterliegen der Nachwirkung?

Nachwirkungsfähig sind ausschließlich die sog. normativen Bestimmungen einer Betriebsvereinbarung. Das sind Regelungen, die allgemeine und verbindliche Rechte und Pflichten für die Belegschaft schaffen – etwa zu Arbeitszeit, Pausen, Entgeltbestandteilen oder Urlaub. Nicht nachwirkungsfähig sind Regelungen, die rein schuldrechtlicher Natur sind, das heißt, solche, die lediglich das Verhältnis zwischen Betriebsrat und Arbeitgeber betreffen (z.B. Pflichten zur Zusammenarbeit oder Informationspflichten) oder individualrechtliche Ansprüche einzelner Arbeitnehmer begründen, sofern diese Ansprüche nicht unmittelbar auf normativen Vorschriften beruhen. Ebenso ausgenommen von der Nachwirkung sind freiwillige Betriebsvereinbarungen (§ 88 BetrVG), es sei denn, sie enthalten ausdrücklich eine Nachwirkungsklausel. In der Praxis ist bei der Prüfung der Nachwirkungsfähigkeit stets eine genaue Abwägung im Einzelfall erforderlich.

Welche rechtlichen Konsequenzen ergeben sich für Arbeitnehmer während der Nachwirkung?

Während der Nachwirkung gelten die durch die Betriebsvereinbarung geregelten Arbeitsbedingungen weiterhin als Mindeststandards für die Arbeitnehmer, die zum Zeitpunkt des Außerkrafttretens von der Betriebsvereinbarung erfasst waren. Das bedeutet, dass Arbeitnehmer die Einhaltung dieser Regelungen gerichtlich einfordern können. Gleichzeitig kann der Arbeitgeber einseitig keine Verschlechterung der in der nachwirkenden Betriebsvereinbarung festgelegten Arbeitsbedingungen vornehmen. Erst durch eine neue kollektivrechtliche bzw. individualrechtliche Regelung können diese Bedingungen verändert werden. Damit ist ein gewisser Bestandsschutz für die betroffenen Arbeitnehmer gewährleistet, der allerdings nicht absolut ist, sondern im Falle einer neuen Regelung sofort wegfällt.

Kann die Nachwirkung einer Betriebsvereinbarung vertraglich ausgeschlossen oder modifiziert werden?

Die Nachwirkung gemäß § 77 Abs. 6 BetrVG ist dispositiv, das heißt, sie kann abweichend geregelt oder sogar ganz ausgeschlossen werden, sofern dies ausdrücklich in der Betriebsvereinbarung vereinbart oder nachträglich gemeinsam durch Arbeitgeber und Betriebsrat beschlossen wird. Ein Ausschluss der Nachwirkung erfordert jedoch eine eindeutige Regelung, aus der der Wille beider Parteien klar hervorgeht. Fehlt eine solche Bestimmung, gilt die gesetzliche Nachwirkungsregelung. Zu beachten ist, dass im Rahmen einer solchen Modifikation oder eines Ausschlusses die bestehenden arbeitsrechtlichen Verbote von Verschlechterungen (insbesondere im Umgang mit tariflichen Regelungen) sowie der Gleichbehandlungsgrundsatz zu berücksichtigen sind.

Endet die Nachwirkung automatisch mit dem Ausscheiden des Arbeitnehmers aus dem Unternehmen?

Die Nachwirkung bezieht sich auf alle Arbeitsverhältnisse, die zum Zeitpunkt des Außerkrafttretens durch die Betriebsvereinbarung erfasst waren. Scheidet ein Arbeitnehmer jedoch während der Nachwirkung aus dem Unternehmen aus, enden die Rechte aus der nachwirkenden Betriebsvereinbarung mit dem Beendigungszeitpunkt des Arbeitsverhältnisses. Ein nachwirkender Anspruch auf bestimmte Arbeitsbedingungen oder Leistungen besteht damit grundsätzlich nur so lange, wie das Arbeitsverhältnis fortbesteht. Ausnahmefälle sind nur möglich, wenn in der Betriebsvereinbarung explizite Nachbesserungsklauseln für ausgeschiedene Arbeitnehmer enthalten sind, was selten der Fall ist.

Greift die Nachwirkung auch für neu eintretende Arbeitnehmer?

Nein, die Nachwirkung einer Betriebsvereinbarung gilt ausschließlich für Arbeitnehmer, deren Arbeitsverhältnis bereits vor oder spätestens zum Zeitpunkt des Außerkrafttretens der Betriebsvereinbarung bestand. Arbeitnehmer, die erst nach diesem Zeitpunkt in das Unternehmen eintreten, fallen nicht unter den Schutz- und Regelungsbereich der nachwirkenden Vereinbarung. Für diese kann der Arbeitgeber die Arbeitsbedingungen frei gestalten, es sei denn, eine neue Betriebsvereinbarung oder eine andere kollektivrechtliche Regelung tritt zwischenzeitlich in Kraft.

Kann durch individualvertragliche Regelung die Nachwirkung abbedungen werden?

Grundsätzlich kann der Arbeitgeber mit dem einzelnen Arbeitnehmer vertragliche Abreden treffen, die anstelle der nachwirkenden Betriebsvereinbarung treten und deren Geltung beenden. Dies ist möglich, weil die Nachwirkung nach § 77 Abs. 6 BetrVG nur solange gilt, bis „eine andere Abmachung“ getroffen wird – und das kann auch eine Arbeitsvertragsänderung sein. Zu beachten ist jedoch, dass hier das Gebot der Freiwilligkeit gilt und keine Umgehung arbeitsrechtlicher Schutzvorschriften oder eine Schlechterstellung gegenüber kollektivrechtlichen Mindeststandards erfolgen darf. Jede individualvertragliche Änderung, die im Zusammenhang mit dem Wegfall einer nachwirkenden Betriebsvereinbarung getroffen wird, sollte daher sorgfältig juristisch geprüft werden.