Begriff und Definition: More Economic Approach
Der More Economic Approach (MEA) ist ein aus dem Wettbewerbsrecht stammender Begriff, der die Abkehr von einer rein formalen, dogmatischen Auslegung hin zu einer stärker ökonomisch fundierten Analyse rechtlicher Fragestellungen beschreibt. Im Zentrum steht die Anwendung wirtschaftswissenschaftlicher Methoden und Modelle zur Bewertung von Fällen, insbesondere im europäischen Kartellrecht, Fusionskontrollrecht und Missbrauchsaufsicht.
Im Gegensatz zum früher dominierenden „formalistischen“ Ansatz („form-based approach“), bei dem bestimmte Verhaltensweisen nach ihrer äußeren Erscheinung beurteilt wurden, zielt der More Economic Approach darauf ab, die tatsächlichen wettbewerblichen Auswirkungen eines Verhaltens oder einer Transaktion im Einzelfall zu analysieren. Ziel ist eine sachgerechte, marktwirtschaftliche Entscheidungsfindung.
Entwicklung und Hintergrund
Ursprung im europäischen Wettbewerbsrecht
Der More Economic Approach hat seine Wurzeln insbesondere in der Rechtsprechung und Praxis der Europäischen Kommission sowie des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) im Bereich des Wettbewerbsrechts. Seit den frühen 2000er Jahren, insbesondere mit dem Modernisierungspaket der EU-Kommission und den überarbeiteten Leitlinien für die Anwendung der Art. 101 und 102 AEUV, wurde der ökonomische Ansatz verstärkt betont.
Vorausgegangen war Kritik am bis dahin üblichen Formalismus, der oft wenig Rücksicht auf die tatsächlichen Marktbedingungen nahm. Die Modernisierung sollte zu einer präziseren und zielgenaueren Anwendung des Wettbewerbsrechts führen.
Zielsetzung und Motive
Die Hauptziele des More Economic Approach liegen in folgenden Punkten:
- Individuelle Einzelfallprüfung: Analyse der realen Marktverhältnisse und Beurteilung der konkreten Wirkungen eines Verhaltens oder einer Transaktion.
- Vermeidung von Fehlentscheidungen: Reduzierung von Fehlanwendungen durch pauschale Annahmen oder Schematismen.
- Effizientere Rechtsdurchsetzung: Bessere Ausrichtung auf die tatsächlichen Wettbewerbsprobleme.
- Wirtschaftliche Fundierung: Berücksichtigung aktueller wirtschaftswissenschaftlicher Theorien und Methoden.
Anwendungsbereiche des More Economic Approach
Kartellverbot (Art. 101 AEUV)
Beim Verbot wettbewerbsbeschränkender Vereinbarungen erfolgt die Analyse unter dem More Economic Approach zweistufig: Zunächst wird geprüft, ob überhaupt eine relevante negative Wettbewerbswirkung vorliegt („by effect“-Analyse), anstatt allein auf eine formale Verhinderung („by object“) abzustellen. Die EU-Kommission berücksichtigt Marktmacht, Marktstruktur und potenzielle Effizienzgewinne. Dies fördert eine differenzierte und empirisch abgesicherte Bewertung.
Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung (Art. 102 AEUV)
Die Missbrauchsprüfung unter Art. 102 AEUV wurde traditionell formal anhand definierter Missbrauchstatbestände durchgeführt. Die Anwendung des More Economic Approach bedeutet hier eine stärkere Prüfung der Auswirkungen des Verhaltens (z. B. Verdrängungseffekte, Auswirkungen auf den Wettbewerb) anhand ökonomischer Modelle. Dabei werden Preis-Kosten-Tests, Marktanalysen und Effizienzzusagen berücksichtigt.
Fusionskontrolle
Bei der Fusionskontrolle gemäß der EU-Fusionskontrollverordnung (VO (EG) Nr. 139/2004) erfolgt eine prospektive Beurteilung, ob der Zusammenschluss eine erhebliche Behinderung wirksamen Wettbewerbs bewirken würde. Der More Economic Approach erfordert eine vertiefte Analyse der Marktstruktur, Prognosen über die zukünftigen Veränderungen und mögliche Effizienzgewinne.
Methodische Grundlagen des More Economic Approach
Wirtschaftswissenschaftliche Instrumentarien
Elemente des More Economic Approach sind beispielsweise:
- Marktabgrenzung mittels SSNIP-Test („Small but Significant and Non-transitory Increase in Price“)
- Berechnung von Marktanteilen und Preiselastizitäten
- Simulationen der Auswirkungen von Zusammenschlüssen
- Effizienzanalysen (Produktivitätssteigerungen, Innovationseffekte)
- „As Efficient Competitor“-Test zur Beurteilung von Behinderungsstrategien
Beweismaß und Datenanforderungen
Die Anwendung des More Economic Approach verlangt eine detaillierte Erhebung und Auswertung von Marktdaten, Preisentwicklungen, Kostenstrukturen sowie ökonometrische Analysen. Damit steigen sowohl die Anforderungen an die Argumentation als auch die Komplexität der Nachweisführung.
Kritik und Herausforderungen
Vorteile
- Einzelfallgerechtigkeit: Berücksichtigung der spezifischen Marktgegebenheiten
- Flexibilität: Vermeidung von pauschalen Verboten und Fehleinschätzungen
- Transparenz: Nachvollziehbare, ökonomisch fundierte Entscheidungen
Nachteile und Kritikpunkte
- Komplexität: Erhöhter Aufwand bei der Sachverhaltsaufklärung und Analyse.
- Rechtsunsicherheit: Weniger klare Grenzen und Vorgaben, dadurch potentiell mehr Auslegungsspielräume.
- Ungleichbehandlung: Unterschiede bei den verfügbaren Ressourcen können insbesondere bei kleinen Unternehmen zu Nachteilen führen.
Grenze des Ansatzes
In der Praxis bestehen weiterhin Situationen, in denen der formale Ansatz Anwendung findet, etwa bei bestimmten Hardcore-Kartellen („per se“-Verbot), bei denen die wettbewerbsbeschränkende Wirkung als evident angesehen wird.
Bedeutung in der Rechtsprechung und Gesetzgebung
Auf europäischer Ebene fanden zentrale Leitlinien wie die „Leitlinien zur Bewertung horizontaler Zusammenschlüsse“ und die „Leitlinien zur Anwendung von Artikel 102 AEUV“ deutliche Prägung durch den More Economic Approach. Die Rechtsprechung des EuGH und des Gerichts der Europäischen Union greift zunehmend auf ökonomische Argumente zurück, bleibt aber an die Maßstäbe des Unionsrechts gebunden.
Auch in Deutschland spiegelt sich der Ansatz im Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB) und der Praxis des Bundeskartellamts wider.
Internationale Relevanz und Vergleich
Der More Economic Approach ist nicht auf Europa beschränkt. Auch andere Rechtsordnungen wie in den USA nutzen ökonomische Methoden für kartellrechtliche Analysen. Unterschiede bestehen jedoch hinsichtlich der Gewichtung einzelner Methoden und der rechtsdogmatischen Einordnung.
Fazit
Der More Economic Approach hat das Wettbewerbsrecht maßgeblich modernisiert, indem ökonomische Erkenntnisse umfassend in die rechtliche Bewertung einbezogen werden. Er bietet Potential für passgenaue, effektive Rechtsanwendung, setzt aber hohe Anforderungen an Datenqualität, Methodik und Ressourcen aller Beteiligten. Die Entwicklung bleibt weiterhin von einem Spannungsfeld zwischen praktikabler Anwendung, Rechtssicherheit und wirtschaftlicher Fundierung geprägt.
Häufig gestellte Fragen
Wie wird der More Economic Approach im europäischen Kartellrecht praktisch angewendet?
Der More Economic Approach findet im EU-Kartellrecht insbesondere bei der Beurteilung wettbewerbsbeschränkender Vereinbarungen nach Art. 101 AEUV und bei der Missbrauchskontrolle marktbeherrschender Stellungen nach Art. 102 AEUV Anwendung. In der Praxis bedeutet dies, dass sich Behörden und Gerichte nicht mehr allein auf formale oder abstrakt-generelle Kriterien (z.B. die bloße Existenz einer Preisabsprache) stützen, sondern eine ökonomische Wirkungsanalyse durchführen. Hierbei werden die tatsächlichen oder potentiellen Auswirkungen einer Verhaltensweise auf den Wettbewerb geprüft, etwa mittels Preisdrucktests, Marktdefinition auf Basis von SSNIP-Tests oder der Bewertung von Effizienzgewinnen. Das Bundeskartellamt und die Europäische Kommission ziehen hierzu regelmäßig auch ökonomische Gutachten und Marktstudien heran, um fundierte Prognosen über Marktverhalten, Marktauswirkungen und Verbrauchervorteile zu erstellen. Auch wird versucht, Effizienzgewinne und Verbrauchervorteile als Rechtfertigungsgrund aktiv zu berücksichtigen, sofern diese nachweisbar sind.
Welche Anforderungen stellt der More Economic Approach an die Beweisführung im Kartellverfahren?
Der More Economic Approach führt im Rechtsvollzug zu einer erhöhten Komplexität und damit zu gesteigerten Anforderungen an die Beweisführung. Statt sich auf typisierte, vermutete Auswirkungen zu stützen, sind konkret belegbare Analysen und empirische Nachweise gefordert, die etwa den Zusammenhang zwischen einer bestimmten Marktverhaltensweise und deren tatsächlichen Auswirkungen auf die Wettbewerbsstruktur oder die Konsumentenwohlfahrt belegen. Solche ökonomischen Analysen müssen nachvollziehbar und methodisch korrekt sein, was detaillierte Kenntnisse der Marktfunktionen, Zugang zu exakten Marktdaten und die korrekte Anwendung ökonometrischer Verfahren voraussetzt. Der gerichtlichen Kontrolle unterliegen insbesondere die Auswahl und Aussagekraft der verwendeten ökonomischen Methoden, sodass die Parteien häufig (Gegen-)Gutachten vorlegen und zu komplexen Argumentationen gezwungen sind; dies kann die Verfahrensdauer erheblich verlängern.
Welche Rolle spielen Effizienzgewinne und verbraucherbasierte Argumente im Rahmen des More Economic Approach?
Im Rahmen des More Economic Approach wird vermehrt geprüft, ob potentielle Effizienzgewinne – beispielsweise durch Produktions-, Vertriebs- oder Innovationssteigerung – die wettbewerbsbeschränkenden Effekte einer Kooperation oder Verhaltensweise aufwiegen können. Die Unternehmen müssen schlüssig darlegen, dass solche Effizienzgewinne vorliegen, diese durch die Verhaltensweise unmittelbar verursacht werden und letztlich auch an die Verbraucher weitergegeben werden. Die Behörden führen diesbezüglich Abwägungstests durch, wobei quantitativ und qualitativ dargelegt werden muss, dass der Gesamtbeitrag zum Gemeinwohl den potentiellen Schaden überkompensiert. Besonders relevant sind dabei sogenannte „consumer welfare“-Argumente, die eine Verbesserung der Verbraucherposition explizit in den Mittelpunkt stellen.
Welche Auswirkungen hat der More Economic Approach auf die Rechtssicherheit im Kartellrecht?
Die Einführung des More Economic Approach hat zu einem Spannungsverhältnis geführt: Einerseits erlaubt die stärkere Berücksichtigung der Marktrealität eine passgenauere und ökonomisch fundiertere Entscheidung. Andererseits nimmt die Rechtssicherheit ab, weil weniger auf starre, vordefinierte Rechtsnormen (wie etwa Blacklists bestimmter Verhaltensweisen) zurückgegriffen wird, sondern einzelfallbezogene, häufig schwer vorhersagbare Wirkungsanalysen entscheidend sind. Unternehmen sind deshalb gezwungen, im Vorfeld komplexe und kostspielige ökonomische Prüfungen durchzuführen, um eigene Markteintritte oder Kooperationsmodelle zu bewerten. Auch lässt sich der Ausgang behördlicher oder gerichtlicher Verfahren schwerer prognostizieren, was zu erhöhter Rechtsunsicherheit führt.
Kritisiert der More Economic Approach das bislang geltende formale Vorgehen im Kartellrecht?
Ja, der More Economic Approach wird explizit als Reaktion auf die traditionellen, eher formalen oder „form-basierten“ Ansätze verstanden. Kritisiert wird insbesondere, dass das frühere System häufig pauschale Verbote oder Erlaubnisse ausspricht, ohne ausreichend die Marktverhältnisse, die pro- und antikompetitiven Wirkungen einer Maßnahme oder die Vorteile bestimmter Kooperationsformen einzubeziehen. Der More Economic Approach stellt diesem System eine detaillierte und differenzierte Einzelfallprüfung entgegen, in der alle relevanten Marktmechanismen und tatsächlichen Auswirkungen berücksichtigt und gegeneinander abgewogen werden.
In welchen Grenzen stößt der More Economic Approach im kartellrechtlichen Verfahren?
Der More Economic Approach stößt insbesondere dort an Grenzen, wo Marktmechanismen zu komplex oder Marktdaten zu begrenzt sind, um belastbare ökonomische Analysen durchzuführen. Ebenso kann er an Grenzen stoßen, wo es auf schnelle und klare Entscheidungen für die Praxis ankommt, wie z.B. bei Offensichtlichkeitstatbeständen (hardcore restrictions) oder in Fusionskontrollverfahren mit engen Fristen. Auch besteht das Risiko einer Überfrachtung der Verfahren mit ökonomischem Sachverstand, was kleinere Unternehmen benachteiligen kann. Gerichte und Behörden müssen daher sorgsam abwägen, inwieweit eine weitergehende ökonomische Analyse sinnvoll oder praktikabel ist, und wann formale Regeln zum Tragen kommen sollten.