Begriff und Bedeutung der relativen Marktmacht
Die relative Marktmacht ist ein bedeutender Begriff im deutschen und europäischen Wettbewerbsrecht. Sie beschreibt eine besondere Form der wirtschaftlichen Machtstellung im Marktgefüge, bei der ein Unternehmen zwar nicht zwingend marktbeherrschend im klassischen Sinne ist, aber dennoch aufgrund seiner Stellung gegenüber bestimmten Marktteilnehmern eine überlegene Position innehat. Diese besondere Abhängigkeitssituation wird vor allem mit Blick auf kleine und mittlere Unternehmen relevant, die auf die Lieferungen oder Leistungen eines größeren oder bedeutenderen Unternehmens angewiesen sind. Die relative Marktmacht stellt damit einen wichtigen Schutzmechanismus im Kartellrecht dar.
Rechtlicher Rahmen der relativen Marktmacht
Gesetzliche Grundlagen
Die wesentlichen Regelungen zur relativen Marktmacht finden sich im Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB), insbesondere in den §§ 18 und 20 GWB. Während § 18 GWB die allgemeine Definition der Marktbeherrschung enthält und zwischen verschiedenen Formen differenziert – Einzelmarktbeherrschung, gemeinsame Marktbeherrschung sowie die relative und überlegene Marktmacht -, konkretisiert § 20 GWB die Missbrauchstatbestände.
Zu den wesentlichen Normen, die die relative Marktmacht betreffen, zählen:
- § 18 Abs. 3a GWB: Definition der relativen und überlegenen Marktmacht.
- § 20 GWB: Verbot bestimmter Verhaltensweisen marktmächtiger Unternehmen gegenüber abhängigen Unternehmen.
Auch auf europäischer Ebene, etwa durch Art. 102 AEUV (Verbot des Missbrauchs einer marktbeherrschenden Stellung), finden sich Parallelen, wobei der Begriff der relativen Marktmacht maßgeblich eine nationale Ausprägung darstellt.
Abgrenzung zu anderen Marktformen
Die relative Marktmacht grenzt sich ab von der klassischen Marktbeherrschung, die auf strukturbezogenen Kriterien (z. B. Marktanteil) aufbaut. Im Gegensatz dazu ist die relative Marktmacht beziehungsorientiert und setzt keine marktbeherrschende Stellung voraus. Sie bezieht sich jeweils auf das Verhältnis zu einzelnen oder bestimmten Gruppen von Marktteilnehmern, etwa Abnehmern oder Lieferanten.
Relative Marktmacht vs. absolute Marktbeherrschung
Während marktbeherrschende Unternehmen (absolute Marktbeherrschung) unabhängig von Wettbewerbern, Abnehmern und Lieferanten agieren können, haben relativ marktmächtige Unternehmen eine überlegene Stellung lediglich im Einzelfall gegenüber bestimmten Geschäftspartnern.
Relative vs. überlegene Marktmacht
Die überlegene Marktmacht ist ein noch weiter gefasster Begriff, der auch auf Nachfragerseite relevant wird, das heißt, wenn ein Kunde über eine derart starke Position verfügt, dass er einzelne Anbieter wirtschaftlich dominieren kann.
Merkmale und Voraussetzungen der relativen Marktmacht
Überlegene Stellung im Einzelfall
Ein Unternehmen besitzt relative Marktmacht, wenn andere Unternehmen für die Durchführung ihrer Geschäfte auf die fortgesetzte Geschäftsbeziehung mit ihm angewiesen sind und keine zumutbaren Ausweichmöglichkeiten haben. Zentral sind dabei folgende Merkmale:
- Abhängigkeitsverhältnis: Das abhängige Unternehmen ist auf die Belieferung oder den Absatz angewiesen, da es keine gleichwertigen Alternativen gibt.
- Fehlen zumutbarer Ausweichmöglichkeiten: Die Bezugnahme auf Alternativen muss sich am Einzelfall und an der jeweiligen Branche orientieren.
- Überlegenheit im konkreten Verhältnis: Die Stellung des Unternehmens ist nicht generell, sondern spezifisch im Verhältnis zu bestimmten Geschäftspartnern überlegen.
Fallgruppen der Abhängigkeit
In der Rechtsprechung und Literatur werden verschiedene Arten der Abhängigkeit unterschieden:
Lieferantenabhängigkeit
Ein Unternehmen kann in eine Abhängigkeit geraten, wenn es auf zuliefernde Produkte oder Vorleistungen eines bestimmten Anbieters angewiesen ist.
Kundenabhängigkeit
Kunden können von bestimmten Abnehmern abhängig sein, etwa wenn diese einen großen Teil des Absatzes ausmachen und keine vergleichbaren Ausweichkunden vorhanden sind.
Programmabhängigkeit
Gerade im Medienbereich kann von einer Programmabhängigkeit gesprochen werden, wenn bestimmten Inhalteanbietern nur eine begrenzte Zahl an Vertriebskanälen zur Verfügung steht.
Innovationsabhängigkeit
In technologisch geprägten Märkten spielt auch der Zugang zu Innovationen eine Rolle. Abhängigkeit kann entstehen, wenn ein Unternehmen auf bestimmte technologische Standards oder Patente angewiesen ist.
Missbrauch der relativen Marktmacht
Die zentrale Regelung zum Missbrauchsverbot findet sich in § 20 GWB. Danach dürfen Unternehmen mit relativer Marktmacht ihre Stellung gegenüber abhängigen Unternehmen nicht missbräuchlich ausnutzen.
Beispiele für missbräuchliches Verhalten
- Unangemessene Einkaufs- oder Verkaufspreise
- Behinderung des Geschäftsverkehrs
- Diskriminierung zwischen Marktpartnern
- Verweigerung des Zugangs zu essenziellen Ressourcen (z. B. Daten, Infrastruktur)
Rechtsfolgen bei Missbrauch
Ein Verstoß gegen die Missbrauchsverbote kann durch die Kartellbehörde oder zivilrechtlich verfolgt werden. Zu den möglichen Rechtsfolgen gehören:
- Untersagungsverfügungen der Kartellbehörden
- Bußgelder
- Anspruch auf Schadensersatz und Unterlassung für Betroffene
Bedeutung in der Praxis
Schutz kleiner und mittlerer Unternehmen
Die Regelungen zur relativen Marktmacht dienen vor allem dem Schutz kleiner und mittlerer Unternehmen, die sich größeren Marktteilnehmern gegenüber in einer schwächeren Position befinden. Dadurch wird ein funktionsfähiger Wettbewerb gesichert und die Gefahr von Knebelverträgen und ungerechtfertigten einseitigen Geschäftsbedingungen reduziert.
Branchenbeispiele
Besondere Relevanz hat die relative Marktmacht in folgenden Sektoren:
- Handel: Beziehungen zwischen großen Einzelhändlern und Lieferanten.
- Digitalmärkte: Plattformökonomien, bei denen kleinere Anbieter auf die Reichweite großer Plattformunternehmen angewiesen sind.
- Medien: Sender oder Verleger im Verhältnis zu Inhalteanbietern oder Werbekunden.
Rechtsentwicklung und aktuelle Tendenzen
Mit der 10. und 11. GWB-Novelle sowie der zunehmenden Digitalisierung werden insbesondere Fragen um den Zugang zu Daten, Plattformen und Netzwerken immer wichtiger. Die Auslegung und Anwendung der Normen zur relativen Marktmacht wird dadurch weiter ausgedehnt und an die neuen Gegebenheiten angepasst.
Literaturverweise und weiterführende Vorschriften
Für tiefergehende Informationen empfehlen sich folgende Normen und Kommentierungen:
- § 18 und § 20 GWB (deutsches Kartellrecht)
- Art. 102 AEUV (europäisches Wettbewerbsrecht)
- Stellungnahmen des Bundeskartellamts
- Bundesgerichtshof, ständige Rechtsprechung zur relativen Marktmacht
Zusammenfassung
Die relative Marktmacht stellt ein bedeutendes Instrument im Wettbewerbsrecht dar, um Wettbewerbsbeschränkungen und unfaire Praktiken im Verhältnis zwischen wirtschaftlich überlegenen und abhängigen Unternehmen auszuschließen. Durch einen differenzierten rechtlichen Rahmen werden insbesondere kleine und mittlere Unternehmen vor Benachteiligungen geschützt und ein ausgewogener Wettbewerb gewährleistet. Die fortlaufende Anpassung der Vorschriften im Zuge digitaler Märkte und neuer Geschäftsmodelle unterstreicht die hohe praktische Relevanz dieses Rechtsbegriffs.
Häufig gestellte Fragen
Welche rechtlichen Maßstäbe findet die Feststellung von relativer Marktmacht Anwendung?
Die Feststellung relativer Marktmacht richtet sich nach dem deutschen und europäischen Kartellrecht, insbesondere nach § 20 GWB (Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen). Im Gegensatz zur absoluten Marktmacht, die sich auf die Alleinstellung oder Dominanz eines Unternehmens im relevanten Markt bezieht, beschreibt die relative Marktmacht eine besondere Konstellation zwischen Unternehmen. Hierbei werden Unternehmen geschützt, die in Bezug auf bestimmte Geschäftsbeziehungen von anderen Unternehmen abhängig sind, ohne dass diese eine marktbeherrschende Stellung inne haben müssen. Der Maßstab der Feststellung ist, ob ein Unternehmen im Vergleich zu bestimmten Nachfragern oder Anbietern eine überlegene Position hat, sodass diesen Geschäftspartnern keine ausreichenden und zumutbaren Ausweichmöglichkeiten bestehen. Die Prüfung erfolgt anhand von Kriterien wie der Verfügbarkeit alternativer Bezugs- und Absatzquellen, wirtschaftlicher oder technischer Abhängigkeit, Verhandlungsmacht sowie der tatsächlichen Marktdynamik und der Struktur des relevanten Wirtschaftszweigs.
Welche Unternehmen können sich auf den Schutz vor der Ausnutzung relativer Marktmacht berufen?
Vom Schutzbereich der relativen Marktmacht nach § 20 GWB können vor allem kleine und mittlere Unternehmen profitieren, die in spezifischen Geschäftsbeziehungen von größeren Marktteilnehmern abhängig sind. Besonders betroffen sind Unternehmen, denen es an wirtschaftlich zumutbaren Ausweichmöglichkeiten zu anderen Anbietern von Waren, Absatzmöglichkeiten oder Nachfragern fehlt. Auch Handelsunternehmen, Zulieferer, oder Dienstleister fallen häufig unter diesen Schutz, wenn sie erheblich auf die Geschäftsbeziehung zu einem größeren Unternehmen angewiesen sind. Die Schutzwirkung kann dabei unter bestimmten Umständen auch für andere marktseitige Gruppen, wie Franchise-Nehmer, Angehörige freier Berufe oder Vertragspartner in der digitalen Wirtschaft, einschlägig sein.
Welche konkreten Verhaltensweisen sind bei relativer Marktmacht rechtlich verboten?
Das Gesetz verbietet insbesondere die missbräuchliche Ausnutzung relativer Marktmacht. Zu den verbotenen Verhaltensweisen zählen insbesondere die unangemessene Behinderung, Diskriminierung, das Erzwingen unbilliger Einkaufs- oder Verkaufsbedingungen und die Verweigerung des Zugangs zu wesentlichen Geschäftsgrundlagen (z.B. Märkten, Plattformen oder Infrastrukturen), sofern kein sachlich gerechtfertigter Grund vorliegt. Zudem dürfen Unternehmen mit relativer Marktmacht keine sachlich nicht gerechtfertigten Unterschiede bei Entgelten, Vertragsbedingungen oder Liefermodalitäten machen. Die kartellrechtlichen Verbote beziehen sich also auf den Schutz der wettbewerblichen Entfaltungsfreiheit und die Vermeidung übermäßigen wirtschaftlichen Drucks auf abhängige Geschäftspartner.
Wie wird Abhängigkeit im rechtlichen Sinne festgestellt?
Die Feststellung der Abhängigkeit im Rahmen relativer Marktmacht erfordert eine genaue Prüfung der wirtschaftlichen Verhältnisse zwischen den Beteiligten. Es wird analysiert, ob für das abhängige Unternehmen wirtschaftlich zumutbare Ausweichmöglichkeiten zu anderen Unternehmen bestehen. Maßgeblich ist dabei, wie der Markt strukturiert ist, ob es Zugang zu alternativen Absatz- oder Bezugsquellen gibt, und welcher Aufwand nötig wäre, einen anderen Geschäftspartner zu gewinnen. Sind diese Möglichkeiten tatsächlich oder rechtlich nicht gegeben oder mit erheblichen Nachteilen, Risiken oder Verzögerungen verbunden, wird eine Abhängigkeit angenommen. Zusätzlich werden auch Faktoren wie die Dauer und Intensität der Geschäftsbeziehung oder branchenspezifische Gegebenheiten berücksichtigt.
Welche Rolle spielt die Digitalisierung für die relative Marktmacht?
Mit der zunehmenden Digitalisierung haben insbesondere digitale Plattformen und Netzwerke als Anbieter oder Nachfrager eine verstärkte Relevanz bei der relativen Marktmacht erlangt. Gerade im Bereich der Plattformökonomie sind Unternehmen, Händler oder Dienstleister oft auf zentrale Plattformen angewiesen, um ihre Produkte oder Dienstleistungen anzubieten. Die Besonderheit liegt darin, dass Plattformbetreiber zwar nicht den gesamten Markt beherrschen müssen, jedoch eine überlegene Position gegenüber bestimmten Nutzergruppen einnehmen können, weil diesen keine vergleichbaren Alternativen zur Verfügung stehen. Gesetzgeber und Gerichte achten daher verstärkt darauf, dass relative Marktmacht auch im digitalen Sektor adressiert wird und Missbrauchsmöglichkeiten angemessen verhindert werden.
Wie unterscheidet sich relative Marktmacht von marktbeherrschender Stellung im rechtlichen Kontext?
Im rechtlichen Kontext wird zwischen marktbeherrschender Stellung (§ 18 GWB) und relativer Marktmacht (§ 20 GWB) unterschieden. Die marktbeherrschende Stellung bezieht sich auf die Gesamtmarktsituation und prüft, ob ein Unternehmen keinem wesentlichen Wettbewerbsdruck ausgesetzt ist, sodass es unabhängig von Wettbewerbern, Nachfragern und anderen Marktakteuren agieren kann. Relative Marktmacht dagegen bezieht sich auf einzelne Geschäftsbeziehungen und schützt abhängige Unternehmen, selbst wenn der stärkere Marktteilnehmer kein Monopol oder Oligopol innehat. Während die Schwelle der Marktbeherrschung hoch ist, setzt das Konzept der relativen Marktmacht erheblich früher an und ermöglicht so einen erweiterten Schutzkreis im Kartellrecht.
Welche rechtlichen Konsequenzen drohen bei einem Verstoß gegen die Regeln zur relativen Marktmacht?
Ein Verstoß gegen die kartellrechtlichen Vorschriften zur Ausnutzung relativer Marktmacht kann verschiedene rechtliche Konsequenzen haben. Betroffenen Unternehmen stehen zivilrechtliche Ansprüche auf Unterlassung und auf Schadensersatz zur Verfügung. Die Kartellbehörden (wie das Bundeskartellamt) können zudem wettbewerbsrechtliche Maßnahmen anordnen, beispielsweise bestimmte Vertragsklauseln untersagen oder strukturelle Maßnahmen erzwingen. Im Rahmen von Ermittlungen und Verfahren kommt es oft zu erheblichen Prüfungen der Marktverhältnisse, was für Unternehmen mit entsprechender Marktmacht intensive Compliance-Anstrengungen erforderlich macht. Letztlich kann ein Verstoß auch öffentlichkeitswirksame Sanktionen und Reputationsschäden nach sich ziehen.