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Marktmacht, relative


Begriff und rechtliche Einordnung der relativen Marktmacht

Die relative Marktmacht ist ein zentraler Begriff des deutschen und europäischen Wettbewerbsrechts und beschreibt eine besondere Konstellation ökonomischer Abhängigkeit im Verhältnis zwischen Unternehmen, die nicht notwendigerweise auf einer marktbeherrschenden Stellung basiert. Während die absolute Marktmacht regelmäßig an quantitativ messbare Marktanteile und eine überlegene Marktstellung anknüpft, richtet sich die Beurteilung der relativen Marktmacht insbesondere auf die strukturelle Abhängigkeit einzelner Marktteilnehmer vom Geschäftsverhalten anderer Unternehmen.

Definition der relativen Marktmacht

Unter relativer Marktmacht versteht man die Fähigkeit eines Unternehmens, gegenüber bestimmten anderen Unternehmen ohne marktbeherrschende Stellung, ein selbstständiges Verhalten in erheblichem Maße von sich aus durchzusetzen, insbesondere weil andere Unternehmen von der Zulieferung oder Abnahme bestimmter Waren oder Dienstleistungen in erheblichem Maße abhängig sind. Diese Situation tritt typischerweise dann auf, wenn alternative Beschaffungs- oder Absatzmöglichkeiten tatsächlich oder wirtschaftlich nicht oder nur sehr eingeschränkt vorhanden sind.

Abgrenzung zur absoluten Marktmacht

Die relative Marktmacht unterscheidet sich von der absoluten (marktbeherrschenden) Marktmacht vor allem dadurch, dass nicht eine überragende Stellung auf dem gesamten Markt, sondern ein spezifisches Übergewicht in der Beziehung zu einem oder mehreren Geschäftspartnern vorliegt. Während Marktbeherrschung regelmäßig anhand von Marktanteilen bestimmt wird, fokussiert sich die Ermittlung relativer Marktmacht auf die Frage, ob der abhängige Marktteilnehmer existenzielle oder strukturelle Geschäftsbeziehungen zu einem Anbieter oder Nachfrager hat, die ihn in der Geschäftsausübung wesentlich einschränken.

Gesetzliche Grundlagen

Vorschriften im deutschen Recht

Im deutschen Recht ist die relative Marktmacht besonders im Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB) geregelt. Zentrale Vorschrift ist § 20 GWB, der wettbewerbsbeschränkende Verhaltensweisen von Unternehmen mit relativer Marktmacht gegenüber kleinen und mittleren Unternehmen (KMU) untersagt.

§ 20 GWB Abs. 1 verbietet Unternehmen, von denen andere Unternehmen als kleine oder mittlere Unternehmen abhängig sind, diese ohne sachlich gerechtfertigten Grund ungleich zu behandeln oder sie am Bezug oder Absatz von Waren beziehungsweise Leistungen zu hindern. Die Norm soll speziell kleinere, oftmals gegenüber Großunternehmen schwächere Betriebe vor Missbrauch schützen und die Chancenvielfalt im Wettbewerb erhalten.

Kriterien der Abhängigkeit

Ob ein Unternehmen relativ marktmächtig ist, richtet sich insbesondere nach:

  • der wirtschaftlichen oder existenziellen Abhängigkeit des anderen Unternehmens,
  • der tatsächlichen Beschränkung auf wenige Bezugsquellen oder Absatzmöglichkeiten,
  • vertraglichen Bindungen,
  • Investitionsbindungen, die eine Wechselbereitschaft erschweren,
  • und dem Fehlen praktikabler Alternativen (z. B. wegen hohen Wechselkosten, spezifischer technologischer Standards, regionaler Verknappung).

Europarechtliche Bezüge

Im europäischen Kartellrecht findet sich keine ausdrückliche Regelung zur relativen Marktmacht. Die Europäische Kommission und der Gerichtshof haben jedoch auch Abhängigkeiten zwischen Unternehmen im Rahmen von Art. 102 AEUV (Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung) als mögliche Konstellation für wettbewerbswidriges Verhalten verstanden, falls eng definierte spezifische Machtpositionen vorliegen.

Anwendungsbeispiele und Fallgruppen

Klassische Fallgruppen aus der Praxis

Relative Marktmacht kann in den verschiedensten Wirtschaftszweigen auftreten, darunter:

  • Handelsstarke Unternehmen gegenüber Lieferanten (z. B. Einzelhandelsunternehmen mit hoher Abnahmekonzentration)
  • Plattformbetreiber gegenüber Software- oder Contentanbietern
  • Zulieferer, die einen wesentlichen Beitrag für die Produktion eines Großabnehmers leisten
  • Digitale Märkte, bei denen Netzwerkeffekte und Datenzugang zu einer Abhängigkeit führen

Typische Formen des Missbrauchs

Zu den typischen Missbrauchstatbeständen gehören:

  • Ungleichbehandlung von Vertragspartnern ohne sachlichen Grund
  • Liefer- oder Bezugsverweigerungen ohne gerechtfertigtes Motiv
  • Erzwingen unangemessen niedriger Preise oder überhöhter Konditionen
  • Diskriminierung beim Zugang zu essenziellen Daten oder Schnittstellen

Rechtliche Bewertung und Durchsetzung

Verfahren und Sanktionen

Die Durchsetzung wettbewerbsrechtlicher Ansprüche auf Grundlage relativer Marktmacht erfolgt regelmäßig im Wege von Verfahren vor den Kartellbehörden oder Zivilgerichten. Die Bundeskartellbehörde kann nach Maßgabe des § 32 GWB Anordnungen zur Abstellung des Missbrauchs treffen, während geschädigte Unternehmen darüber hinaus auf Unterlassung und Schadensersatz klagen können.

Die Beweislast für das Vorliegen von relativer Marktmacht und der Abhängigkeit trägt grundsätzlich das betroffene Unternehmen (Antragsteller), wobei die Behörden oder Gerichte eine umfassende Abwägung aller wirtschaftlichen und tatsächlichen Umstände vornehmen.

Bedeutung für die Marktpraxis

Die gesetzliche Anerkennung der relativen Marktmacht ist ein wichtiges Instrument zur Sicherung funktionsfähiger Wettbewerbsstrukturen insbesondere im Mittelstand und zur Verhinderung von Ausbeutungs- oder Diskriminierungslagen zugunsten mächtiger Marktakteure. Insbesondere im Zeitalter digitaler Plattformen, neuer Märkte und hybrider Beschaffungs- und Absatzstrukturen gewinnt die Beurteilung der relativen Marktmacht zunehmend an Bedeutung.

Literatur und weiterführende Rechtsquellen

  • Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB)
  • Entscheidungen des Bundesgerichtshofs (BGH) zur relativen Marktmacht, insbesondere im Bereich der Handelsketten, Energieversorgung und digitalen Märkte
  • Europäische Fallpraxis zum Art. 102 AEUV
  • Fachpublikationen zum Kartellrecht und marktbezogener Unternehmenspraxis

Die vorstehenden Ausführungen bieten eine umfassende Darstellung des Begriffs der relativen Marktmacht im Recht und beleuchten alle wesentlichen Aspekte von der Definition über die gesetzlichen Grundlagen bis hin zur praktischen Anwendung.

Häufig gestellte Fragen

Wann wird relative Marktmacht im rechtlichen Sinn angenommen?

Im rechtlichen Kontext, insbesondere nach deutschem und europäischem Kartellrecht, wird relative Marktmacht angenommen, wenn Unternehmen in ihrer Geschäftsbeziehung zu einem anderen Unternehmen in einer solchen Weise überragend abhängig sind, dass Letzteres auf das Ausweichen zu anderen Anbietern auf dem Markt wesentlich erschwert oder sogar unmöglich gemacht wird. Dies ist typischerweise dann der Fall, wenn das abhängige Unternehmen auf den Bezug oder Absatz spezieller Produkte oder Dienstleistungen angewiesen ist und keine realistische Möglichkeit hat, auf alternative Anbieter oder Abnehmer auszuweichen. Im deutschen Recht wird dies vorrangig durch § 20 GWB (Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen) geregelt. Die Feststellung einer relativen Marktmacht erfordert stets eine sorgfältige Einzelfallprüfung, bei der insbesondere die Marktzutrittsschranken sowie die wirtschaftlichen und strukturellen Rahmenbedingungen berücksichtigt werden. Auch das Maß der Abhängigkeit, der Umsatzanteil sowie die Vertragsstruktur sind ausschlaggebend.

Welche Rechtsfolgen hat die Feststellung relativer Marktmacht?

Wird relative Marktmacht rechtlich festgestellt, unterliegt das marktmächtige Unternehmen besonderen Verhaltenspflichten gegenüber den abhängigen Marktteilnehmern. Insbesondere das Verbot des Missbrauchs von Marktmacht greift nun wie etwa das Verbot der unangemessenen Behinderung oder Diskriminierung (§ 19 und § 20 GWB). Vertragliche Benachteiligungen, das Erzwingen unbilliger Konditionen oder das unangekündigte Beenden der Geschäftsbeziehungen können zur Sanktion durch die Kartellbehörden führen. Es drohen dann Bußgelder, Zwangsgelder sowie die Nichtigkeit kartellrechtswidriger Vereinbarungen. Für Geschädigte besteht zudem die Möglichkeit, einen Anspruch auf Unterlassung oder Schadensersatz geltend zu machen.

Welche Unternehmen sind typischerweise von relativer Marktmacht betroffen?

Typischerweise sind kleine und mittlere Unternehmen (KMU), Händler oder Zulieferer von relativer Marktmacht betroffen, sofern sie in besonderem Maße von den Geschäftsbeziehungen zu einem größeren Unternehmen abhängig sind. Besonders ausgeprägt zeigt sich die Problematik in Wirtschaftssektoren mit wenigen großen Nachfragern und vielen kleinen Anbietern (z.B. Lebensmitteleinzelhandel, Automobilindustrie, Plattformökonomie). Auch Start-ups, die auf Vertriebskanäle oder Plattformen angewiesen sind, können in eine solche Abhängigkeitslage geraten. Allerdings sind auch Großunternehmen nicht grundsätzlich von der Betrachtung ausgenommen, sofern eine einseitige Abhängigkeit zu einem anderen Unternehmen vorliegt.

Wie unterscheiden sich relative Marktmacht und marktbeherrschende Stellung rechtlich?

Die rechtliche Unterscheidung liegt im Charakter der Marktmacht: Während die marktbeherrschende Stellung eines Unternehmens auf dem gesamten relevanten Markt und gegenüber allen Marktteilnehmern ausgeübt wird, bezieht sich die relative Marktmacht ausschließlich auf das bilaterale Verhältnis zwischen zwei Unternehmen. Das Unternehmen mit relativer Marktmacht dominiert nicht notwendigerweise den gesamten Markt, ist aber für ein bestimmtes Unternehmen von solcher Bedeutung, dass es dieses unter Umständen beherrschen oder auch maßgeblich beeinflussen kann. Beide Konzepte unterliegen unterschiedlichen kartellrechtlichen Prüfmaßstäben und unterschiedlichen Eingriffsschwellen.

Wie wird die Abhängigkeit im Rahmen der relativen Marktmacht nachgewiesen?

Der Nachweis einer Abhängigkeit setzt eine umfassende Untersuchung der Markt- und Vertragsbeziehungen voraus. Zu prüfen ist, ob und inwieweit das betroffene Unternehmen realistischerweise auf andere Anbieter oder Nachfrager ausweichen kann (sog. Ausweichbarkeit). Wichtige Indizien sind unter anderem die Bindung an bestimmte Produkte oder Marken, die Bedeutung des Geschäftsvolumens, Ausschließlichkeitsvereinbarungen sowie technische oder rechtliche Hürden für einen Anbieterwechsel. Auch zeitliche Aspekte wie Kündigungsfristen und Wechselkosten werden berücksichtigt. Hilfreich für die Nachweisführung können interne Dokumente, Geschäftsberichte und Korrespondenzen sein.

Welche Rolle spielt relative Marktmacht bei digitalen Plattformen?

Im Kontext digitaler Plattformen gewinnt die relative Marktmacht zunehmend an Bedeutung, da Plattformbetreiber wie Online-Marktplätze, App-Stores oder soziale Netzwerke zu zentralen Gatekeepern für viele Anbieter geworden sind. Diese Gatekeeper-Funktion kann eine weitgehende wirtschaftliche Abhängigkeit bei Händlern, App-Entwicklern oder Contentanbietern begründen, da diese ohne Zugang zur Plattform oft keine realistische Absatzmöglichkeit haben. Das GWB-Digitalisierungsgesetz hat daher die Vorschriften zum Plattformmissbrauch weiter verschärft und gezielt auf Konstellationen der relativen Marktmacht bei Mehrseitigen Märkten sowie Netzwerkeffekten angepasst.

Gibt es Ausnahmen oder Rechtfertigungen für Verhaltensweisen trotz relativer Marktmacht?

Bestimmte Verhaltensweisen eines relativ marktmächtigen Unternehmens können trotz der bestehenden Marktmacht dann zulässig sein, wenn hierfür sachlich gerechtfertigte, objektive Gründe vorliegen. Etwa können Liefereinstellungen oder Vertragsbeendigungen zulässig sein, wenn das Verhalten des abhängigen Kunden eine erhebliche Vertragsverletzung darstellt oder Sicherheitsrisiken bestehen. Die Entscheidungsfreiheit des marktmächtigen Unternehmens bleibt grundsätzlich bestehen, muss jedoch verglichen mit dem Abhängigkeitsverhältnis verhältnismäßig ausgeübt werden. Ob ein sachlicher Grund besteht, wird stets im jeweiligen Einzelfall beurteilt.