Begriff und Bedeutung von lex posterior
Lex posterior ist ein Grundsatz des Rechts, der besagt, dass das jüngere Gesetz (lateinisch: lex posterior) das ältere Gesetz im Fall eines Normwiderspruchs verdrängt. Diese Regel dient der Lösung von Normenkollisionen im Zeitverlauf und ist ein zentrales Prinzip in allen Rechtsordnungen, die einem geschriebenen Gesetzesrecht folgen. Der vollständige lateinische Grundsatz lautet: lex posterior derogat legi priori, was übersetzt bedeutet: „das spätere Gesetz setzt das frühere außer Kraft“.
Anwendungsbereich und Funktion
Geltung im nationalen Recht
Die Regel lex posterior kommt zur Anwendung, wenn zwei oder mehrere Gesetze denselben rechtlichen Sachverhalt unterschiedlich regeln und zwischen ihnen ein zeitlicher Abstand besteht. Bei widersprüchlicher Regelung ist das zeitlich spätere Gesetz maßgeblich, sofern dieses keine spezielle Regelung zur Fortgeltung des älteren Rechts enthält oder als Spezialgesetz anzusehen ist.
Anwendbarkeit im internationalen Recht
Auch im internationalen Recht findet das Prinzip Anwendung. Es wird insbesondere bei der Auslegung und Anwendung internationaler Verträge samt nationalem Recht herangezogen, wenn mehrere völkerrechtliche Verträge zu einem Sachverhalt existieren, die zeitlich nacheinander geschlossen wurden.
Grenzen der Geltung
Das Prinzip lex posterior gilt nicht uneingeschränkt. Seine Reichweite und Durchsetzung ist durch weitere Kollisionsregeln eingeschränkt, insbesondere durch das lex specialis-Prinzip („das speziellere Gesetz geht dem allgemeineren vor“) oder höherrangige Rechtsnormen, wie etwa Verfassungsrecht oder supranationales Recht in föderalen oder internationalen Rechtsordnungen.
Voraussetzungen und Anwendungsvoraussetzungen
Tatbestandliche Voraussetzungen
Für die Anwendung von lex posterior müssen folgende Bedingungen erfüllt sein:
- Mehrere Normen: Es müssen mindestens zwei Rechtsnormen existieren, die denselben Sachverhalt regeln.
- Gleicher Regelungsbereich: Beide Normen müssen denselben Adressatenkreis und die gleiche Materie betreffen.
- Zeitlicher Vorrang: Eine der Normen muss zeitlich nach der anderen erlassen worden sein.
- Widerspruch: Es muss eine inhaltliche Kollision vorliegen, sodass beide Normen nicht nebeneinander vollziehbar sind.
Abwägung mit Spezialitätsprinzip (lex specialis)
Tritt gleichzeitig der Spezialitätsgrundsatz in Kraft, so ist zu prüfen, ob das jüngere Gesetz allgemein oder speziell auf den streitigen Sachverhalt zugeschnitten ist. Im Zweifelsfall geht stets das speziellere Gesetz vor, auch wenn es älter ist.
Rechtsfolgen der Anwendung
Außerkrafttreten des früheren Rechts
Die Anwendung von lex posterior hat zur Folge, dass das ältere Gesetz, soweit es mit dem neueren unvereinbar ist, insoweit keine Geltung mehr beanspruchen kann. Dabei ist das ältere Gesetz nicht generell aufgehoben, sondern nur in dem Maße, wie es vom späteren Gesetz verdrängt wird.
Teilnichtigkeit und Fortgeltung
Ist die Kollision nur partiell gegeben, bleibt das ältere Gesetz soweit anwendbar, wie keine Kollision mit dem späteren Gesetz vorliegt. Dabei können Gerichte im konkreten Einzelfall entscheiden, inwiefern eine Verdrängung erfolgt.
Lex posterior im Gesetzgebungsverfahren
Gesetzgeber bemühen sich regelmäßig, durch sogenannte Übergangs- und Schlussvorschriften oder ausdrückliche Aufhebungsanordnungen, die Anwendung des lex-posterior-Prinzips präziser zu steuern. Fehlen solche Bestimmungen, tritt das Prinzip lex posterior als Auslegungsregel in Kraft.
Beispiele und Relevanz in der Praxis
Beispiel aus dem Strafrecht
Ergeht nach Erlass eines Strafgesetzes ein neues Gesetz, das denselben Tatbestand regelt, aber abweichende Rechtsfolgen vorsieht, so verdrängt das jüngere Gesetz das ältere in seinem Anwendungsbereich.
Beispiel aus dem Verwaltungsrecht
Wird ein Verwaltungsverfahren nach altem Recht eingeleitet, aber vor Abschluss durch eine Gesetzesänderung betrifft, ist zu prüfen, ob und inwieweit das neue Recht zur Anwendung kommt, gegebenenfalls unter Auslegung von Übergangsregelungen.
Verhältnis zum europäischen und internationalen Recht
Im Rahmen des supranationalen Rechts, insbesondere im Verhältnis von nationalem zu EU-Recht, ist das lex-posterior-Prinzip von nachrangiger Bedeutung. Hier geht der Anwendungsvorrang des Unionsrechts (sogenanntes „Primat des Unionsrechts“) regelmäßig vor. Kollisionen zwischen nationalem und Unionsrecht werden nach spezielleren vorrangigen Kollisionsregeln gelöst.
Wissenschaftliche Einordnung und Kritik
Die lex posterior-Regelung fördert Rechtsklarheit und Rechtssicherheit, indem sie verhindert, dass ältere inkompatible Normen neben neueren bestehen. Kritik erfährt das Prinzip dort, wo spätere Gesetze ungeprüft frühere, ausgereiftere Regelungen außer Kraft setzen oder wo der Gesetzgeber bei Novellierungen keine ausreichende Übergangsregelung vorsieht, was zu Unsicherheiten führen kann.
Zusammenfassung
Lex posterior beschreibt die Vorrangregel jüngeren Rechts vor älterem bei inhaltlicher Kollision. Es ist eines der bedeutendsten Auslegungs- und Anwendungskriterien im geschriebenen Recht. Seine praktische Bedeutung reicht von der Gesetzesanwendung durch Gerichte bis zu komplexen Gesetzgebungsvorhaben und internationalen Vertragswerken. Seine Geltung wird jedoch stets von anderen Kollisionsregeln sowie höherrangigem Recht überlagert und eingeschränkt.
Häufig gestellte Fragen
Wie wirkt das Prinzip lex posterior im Verhältnis zwischen Bundesrecht und Landesrecht?
Das Prinzip lex posterior – das jüngere Gesetz hebt das ältere auf – lautet grundsätzlich, dass bei widersprüchlichen Rechtsnormen innerhalb derselben Normstufe das zeitlich spätere Gesetz Anwendung findet. Im Verhältnis zwischen Bundesrecht und Landesrecht ist dieses Prinzip jedoch eingeschränkt. Maßgeblich ist hier zunächst der Anwendungsvorrang des Bundesrechts nach Art. 31 GG („Bundesrecht bricht Landesrecht“). Das bedeutet, selbst wenn ein Landesgesetz neuer ist als ein widersprechendes Bundesgesetz, kann das Prinzip lex posterior nicht dazu führen, dass das Landesrecht Vorrang genießt. Es kann also nicht durch ein nachträgliches Landesgesetz Bundesrecht verdrängt werden. Dagegen kann Bundesrecht, das später erlassen wird, widersprechendes älteres Landesrecht außer Kraft setzen – nicht durch Aufhebung, sondern im Sinne einer Nichtanwendbarkeit. Das lex posterior-Prinzip wirkt hier nur „horizontal“, also innerhalb der jeweiligen Rechtsordnung (Bund oder Land), nicht aber „vertikal“ zwischen Bund und Ländern.
Welche Rolle spielt lex posterior bei der Auslegung von Normenkollisionen innerhalb eines Gesetzes?
Bei der Auslegung und Anwendung eines Gesetzes kann es vorkommen, dass verschiedene Vorschriften innerhalb desselben Gesetzes im Widerspruch zueinanderstehen. Hier kommt das lex posterior-Prinzip zur Anwendung: Ist eindeutig feststellbar, dass eine spätere Vorschrift eine frühere Regelung des gleichen Gesetzes verdrängen will, geht die spätere Regelung vor. Allerdings wird dies oft im Gesetzgebungsverfahren schon durch ausdrückliche Aufhebungs- oder Änderungsanweisungen geregelt (sog. Derogationsklauseln). Fehlt eine solche Klausel, muss durch Auslegung ermittelt werden, ob der Gesetzgeber mit der Neufassung die ältere Norm tatsächlich aufheben oder nur ergänzen wollte. Das lex posterior-Prinzip ist daher nicht automatisch, sondern nur bei klar erkennbarem Regelungswillen des Gesetzgebers anzuwenden.
Greift das lex posterior-Prinzip auch bei kollidierenden Rechtsverordnungen und Satzungen?
Ja, das lex posterior-Prinzip gilt nicht nur bei Gesetzen im materiellen Sinn, sondern auch für andere Rechtsnormen gleicher Rangstufe, wie etwa Rechtsverordnungen und kommunale Satzungen. Voraussetzung ist jedoch stets, dass die Normen von derselben erlassenden Stelle stammen beziehungsweise im gleichen Rechtsbereich angesiedelt sind. Stehen sich etwa zwei kommunale Satzungen gegenüber, ist bei Widersprüchen das zeitlich letzte Regelwerk vorrangig. Ebenso verhält es sich bei Rechtsverordnungen eines Landesministeriums. Eine Besonderheit besteht jedoch darin, dass höhere Normen – etwa das Gesetz selbst im Verhältnis zur Verordnung – stets den Anwendungsvorrang genießen (lex superior).
Kann lex posterior durch besondere gesetzliche Anordnungen ausgeschlossen werden?
Das Prinzip lex posterior ist ein Auslegungsgrundsatz, der grundsätzlich gilt, soweit keine besonderen Bestimmungen getroffen wurden. Der Gesetzgeber kann jedoch ausdrücklich anordnen, dass eine neue Regelung keine Auswirkungen auf bestehendes Recht haben soll. Dies geschieht häufig durch sogenannte Erhaltungsklauseln oder durch exakte Definition des zeitlichen Geltungsbereichs einer Vorschrift (etwa durch Überleitungsvorschriften oder Anwendungsvorbehalte). Auch kann der Gesetzgeber festlegen, dass bestimmte ältere Normen trotz neuen widersprechenden Rechts weiter gelten. In der juristischen Praxis ist darauf zu achten, dass solche besonderen Regelungen die allgemeine lex posterior-Regel verdrängen.
Wie verhält sich lex posterior zu anderen Kollisionsregeln wie lex specialis oder lex superior?
Das lex posterior-Prinzip ist nur eine von mehreren Regeln zur Lösung von Normkonflikten. Vorrangig sind üblicherweise das lex superior-Prinzip („die höherrangige Norm geht vor“) und das lex specialis-Prinzip („die speziellere Norm verdrängt die allgemeinere“). Lex posterior findet nachrangig Anwendung: Stoßen auf gleicher Rangstufe und gleicher Spezifität zwei Normen aufeinander und gibt es keinen anderen Konfliktlösungsmechanismus, dann entscheidet die zeitliche Reihenfolge. Gibt es hingegen Unterschiede im Rang oder in der Spezifität, gehen diese Kriterien dem lex posterior-Prinzip vor. Ist also etwa eine ältere Spezialnorm mit einer neueren allgemeinen Vorschrift kollidiert, bleibt die Spezialnorm auch nach Erlass der neueren Norm in Kraft – es sei denn, diese hebt die Spezialnorm ausdrücklich auf.
Kommt das lex posterior-Prinzip bei der europäischen Normenhierarchie zur Anwendung?
Im Recht der Europäischen Union gilt das lex posterior-Prinzip grundsätzlich innerhalb der jeweiligen Normkategorie, etwa zwischen Verordnungen oder Richtlinien derselben Rangstufe. Jedoch ist hier besonders auf die Eigenheiten des supranationalen Rechts und die jeweilige Umsetzungsverpflichtung in nationales Recht zu achten. Ansonsten gilt in der Normenhierarchie der EU das lex superior-Prinzip, nach dem das Primärrecht stets Vorrang vor Sekundärrecht besitzt. Zwischen völkerrechtlichen Verträgen und nationalem Recht kann der Gesetzgeber im Einzelfall durch Transformation auch das lex posterior-Prinzip zur Anwendung bringen, insbesondere bei der Umsetzung von Richtlinien im nationalen Gesetzgebungsverfahren.
Welche Bedeutung hat lex posterior im Verwaltungsrecht, insbesondere bei Verwaltungsvorschriften?
Auch im Verwaltungsrecht, bei Verwaltungsvorschriften oder internen Richtlinien, gilt das lex posterior-Prinzip. Verwaltungsvorschriften stellen zwar keine Gesetze im rechtsdogmatischen Sinn dar, werden aber oftmals als innerdienstliche Anordnungen für Behörden verwendet. Kommt es zu Widersprüchen zwischen solchen Vorschriften derselben Behörde, ist in der Regel die zuletzt ergangene Anweisung maßgeblich, sofern der Regelungsbereich identisch ist. Zu beachten ist jedoch, dass Verwaltungsvorschriften nur die Verwaltung selbst binden, nicht aber unmittelbar den Bürger. Das lex posterior-Prinzip wirkt hier also primär im Innenverhältnis der Verwaltung.