Begriff und Grundgedanke der konkreten Betrachtungsweise im Strafrecht
Die konkrete Betrachtungsweise ist ein Grundprinzip der strafrechtlichen Beurteilung. Sie verlangt, dass rechtliche Fragen nicht losgelöst und schematisch beantwortet werden, sondern anhand der tatsächlichen Umstände des Einzelfalls. Maßgeblich ist, was im konkreten Geschehen tatsächlich vorlag, wie sich der Ablauf gestaltete und – dort, wo es darauf ankommt – welche Vorstellung die handelnde Person vom Geschehen hatte. Ziel ist eine wirklichkeitsnahe, faire und tatbezogene Bewertung, die weder Über- noch Unterbewertungen durch abstrakte Typisierungen zulässt.
Abgrenzung zur abstrakten Betrachtungsweise
Die abstrakte Betrachtungsweise arbeitet mit allgemeinen Regeln, Durchschnittswerten oder typischen Gefahrenlagen. Sie ist nützlich, um Grundsätze zu formulieren, reicht aber für die Entscheidung über Verantwortung im Einzelfall nicht aus. Die konkrete Betrachtungsweise setzt hier an: Sie fragt nach der tatsächlichen, individuellen Situation – also nach Ort, Zeit, Mittel, Handlungsablauf, Wissen und Können der Beteiligten sowie dem realen Risiko- und Schadenseintritt. So wird eine Einordnung ermöglicht, die den Besonderheiten des Einzelfalls gerecht wird.
Anwendungsfelder
Versuchsbeginn und unmittelbares Ansetzen
Ob ein Versuch begonnen wurde, beurteilt sich nach der konkreten Situation und dem Tatplan: Welche Schritte wurden bereits durchgeführt? Wie nah war der Ablauf nach der konkreten Vorstellung dem Erfolg? Entscheidend ist der faktische Gefährdungszuwachs im Einzelfall, nicht ein abstrakter Handlungsstufenplan.
Untauglicher Versuch
Auch bei einem von vornherein aussichtslosen Vorgehen wird konkret geprüft: Welche Mittel wurden verwendet? Welches Ziel sollte erreicht werden? War das Vorgehen nach der tatsächlichen Lage trotz Untauglichkeit so weit fortgeschritten, dass es als Versuch zu werten ist? Die konkrete Betrachtung stellt sicher, dass nicht die objektive Unmöglichkeit allein, sondern das wirklich getane und gewollte Handeln beurteilt wird.
Rücktritt vom Versuch und Rücktrittshorizont
Ob ein Rücktritt vorliegt, richtet sich nach dem konkreten Erkenntnisstand der handelnden Person nach der letzten Ausführungshandlung. Maßgeblich ist, was in diesem Moment aus ihrer Sicht noch zu tun war, um den Erfolg herbeizuführen oder abzuwenden. Die Beurteilung erfolgt ex ante und einzelfallbezogen.
Fahrlässigkeit – Vorhersehbarkeit und Vermeidbarkeit
Bei Fahrlässigkeitsvorwürfen wird konkret geprüft, ob der Erfolg unter den gegebenen Umständen vorhersehbar und vermeidbar war. Es geht um die tatsächliche Gefahrenlage, die zum Zeitpunkt der Handlung bestand, und um realistische Reaktionsmöglichkeiten. Pauschale Annahmen werden vermieden; entscheidend sind die tatsächlichen Gegebenheiten und die situative Belastung.
Objektive Zurechnung und Risikoerhöhung
Ob ein Erfolg objektiv zurechenbar ist, hängt davon ab, ob sich gerade das im konkreten Verhalten angelegte verbotene Risiko im Erfolg realisiert hat. Die konkrete Betrachtung klärt, ob der eingetretene Verlauf dem geschaffenen Risiko entspricht oder ob ein atypischer, eigenständiger Kausalverlauf den Erfolg prägte.
Unterlassungsdelikte und Handlungsmöglichkeiten
Bei Pflichtverletzungen durch Unterlassen wird konkret geprüft, welche Rettungs- oder Abwehrmaßnahmen in der tatsächlichen Lage möglich, zumutbar und erfolgversprechend waren. Dazu zählen reale Zeitfenster, verfügbare Mittel, körperliche und geistige Fähigkeiten sowie äußere Rahmenbedingungen.
Vermögensschaden und wirtschaftliche Betrachtung
Der Vermögensschaden wird häufig auf Basis einer konkreten Gesamtbetrachtung bestimmt: Wie stellte sich die Vermögenslage tatsächlich dar – vorher und nachher? Welche realen Risiken, Nachteile oder entgangenen Chancen traten ein? Dadurch wird vermieden, dass rein hypothetische oder generalisierte Annahmen die Beurteilung prägen.
Gefährdungsdelikte und konkrete Gefahr
Bei Gefährdungstatbeständen ist zwischen bloß möglicher (abstrakter) Gefahr und tatsächlicher, konkreter Gefahr zu unterscheiden. Eine konkrete Gefahr liegt vor, wenn die Situation im Einzelfall so zugespitzt ist, dass der Schadenseintritt nahe liegt. Diese Einordnung verlangt eine genaue Bewertung der tatsächlichen Umstände.
Prüfungsmaßstab und Beweiswürdigung
Die konkrete Betrachtungsweise setzt eine tragfähige Tatsachengrundlage voraus. Feststellungen erfolgen zeitlich bezogen auf den maßgeblichen Beurteilungszeitpunkt (regelmäßig ex ante), um Rückschaufehler zu vermeiden. Aussagen, Sachbeweise und Indizien werden so zusammengeführt, dass der reale Ablauf und die tatsächliche Gefahrenlage möglichst genau abgebildet werden.
Dogmatische Einordnung und Grenzen
Bindung an Tatsachenbasis
Die Bewertung stützt sich auf festgestellte Tatsachen. Wo Fakten fehlen, sind Schlüsse nur im Rahmen tragfähiger Indizien zulässig. Die konkrete Betrachtung ist keine Einladung zur Spekulation, sondern zu präziser Tatsachenarbeit.
Rolle der Wertungen
Auch bei konkreter Sicht bleiben normative Maßstäbe bedeutsam, etwa beim Schutzgut, bei der Risikoverteilung oder bei Zumutbarkeiten. Die konkrete Betrachtung liefert die Tatsachenbasis; die rechtliche Wertung ordnet sie ein.
Vermeidung von Rückschlüssen ex post
Bewertungen dürfen nicht allein vom eingetretenen Erfolg her rückwärts gedacht werden. Maßgeblich ist der Erkenntnis- und Gefahrenstand zum Zeitpunkt der Handlung. So wird verhindert, dass ein eingetretener Schaden die Einschätzung der vorherigen Risiken überzeichnet.
Verhältnis zu allgemeinen Lebensrisiken
Nicht jedes Risiko ist einem Handelnden zurechenbar. Die konkrete Betrachtung grenzt belastbare, geschaffene oder erhöhte Risiken gegenüber allgemeinen, hinzunehmenden Lebensrisiken ab. Nur erstere können Grundlage strafrechtlicher Verantwortung sein.
Zusammenfassung
Die konkrete Betrachtungsweise stellt den Einzelfall in den Mittelpunkt. Sie prüft, welche Risiken tatsächlich entstanden, wie sich der Ablauf real gestaltete und welche Vorstellungen und Möglichkeiten in der Situation bestanden. Dadurch ermöglicht sie eine präzise und gerechte Zurechnung, die weder in abstrakten Schemata verharrt noch die gebotenen normativen Grenzen überschreitet.
Häufig gestellte Fragen
Was bedeutet „konkrete Betrachtungsweise” im Strafrecht?
Sie beschreibt die einzelfallbezogene Beurteilung von Tatsachen, Gefahren, Handlungen und Vorstellungen der Beteiligten. Entscheidend ist das tatsächlich Geschehene und Erkennbare, nicht ein typischer oder durchschnittlicher Verlauf.
Worin unterscheidet sich die konkrete von der abstrakten Betrachtungsweise?
Die konkrete Betrachtung bewertet den realen Einzelfall, während die abstrakte Betrachtung mit allgemeinen Regeln, Durchschnittswerten oder typischen Gefahren arbeitet. Im Strafrecht ist für die Verantwortlichkeit regelmäßig die konkrete Betrachtung maßgeblich.
Welche Rolle spielt die Vorstellung der handelnden Person?
In Bereichen wie Versuch und Rücktritt ist die Sicht der handelnden Person zum maßgeblichen Zeitpunkt zentral. Sie beeinflusst, wie nah eine Handlung am Erfolg war und ob ein Rücktritt vorliegt. Die Beurteilung erfolgt dabei bezogen auf die konkrete Situation.
Wie wirkt sich die konkrete Betrachtungsweise bei Fahrlässigkeit aus?
Sie führt dazu, dass Vorhersehbarkeit und Vermeidbarkeit anhand der realen Umstände bewertet werden: konkrete Gefahrenlage, situative Belastungen, verfügbare Mittel und zeitliche Abläufe. Pauschale Annahmen sind zu vermeiden.
Welche Bedeutung hat sie für die objektive Zurechnung?
Ein Erfolg ist objektiv zurechenbar, wenn sich das im konkreten Verhalten angelegte Risiko im Erfolg realisiert hat. Die konkrete Betrachtung klärt, ob gerade dieses Risiko den Erfolg prägte oder ein eigenständiger, atypischer Verlauf dazwischentrat.
Was ist unter einer konkreten Gefahr zu verstehen?
Eine konkrete Gefahr liegt vor, wenn im Einzelfall aufgrund der tatsächlichen Situation der Schadenseintritt nahe liegt. Es genügt nicht, dass ein Schaden nur generell möglich wäre.
Gibt es Grenzen der konkreten Betrachtungsweise?
Ja. Sie ist an festgestellte Tatsachen gebunden und wird durch normative Maßstäbe strukturiert. Rückschaufehler sind zu vermeiden, und allgemeine Lebensrisiken dürfen nicht ohne Weiteres zugerechnet werden.