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Konkrete Betrachtungsweise im Strafrecht


Begriff und Bedeutung der Konkreten Betrachtungsweise im Strafrecht

Die konkrete Betrachtungsweise ist ein zentrales methodisches Prinzip im deutschen Strafrecht. Sie beschreibt die dogmatische Herangehensweise, bei strafrechtlichen Vorwürfen und Tatbestandsmerkmalen nicht auf ein abstrakt-generelles Gefährdungspotential, sondern auf die tatsächlichen Umstände und den spezifischen Handlungsablauf im Einzelfall abzustellen. Die konkrete Betrachtungsweise steht damit im Gegensatz zur abstrakten Betrachtungsweise, welche sich allein auf die generellen Gefahren von Handlungen bezieht.

Die Anwendung dieser Methode beeinflusst insbesondere die Beurteilung der Kausalität, des objektiven Zurechnungszusammenhangs, der Versuchsstrafbarkeit und des Fahrlässigkeitsdelikts.


Anwendungsbereiche der Konkreten Betrachtungsweise

Kausalität und objektive Zurechnung

Im Rahmen der strafrechtlichen Kausalität wird zwischen verschiedenen Kausalitätsbegriffen unterschieden. Die konkrete Betrachtungsweise verlangt dabei, dass lediglich solche Kausalketten zu berücksichtigen sind, die sich im konkreten Geschehensablauf realisiert haben. Hypothetische Kausalität, also der bloße Umstand, dass eine Handlung abstrakt geeignet gewesen wäre, den Erfolg herbeizuführen, genügt nach der konkreten Betrachtungsweise nicht.

Auch die objektive Zurechnung verlangt, dass sich im Handeln des Täters gerade jene spezifische Gefahr verwirklicht, die durch die Norm verboten wird. Die konkrete Betrachtungsweise stellt insoweit eine restriktive Handhabung sicher und verhindert eine Ausdehnung der Strafbarkeit auf unerwünschte Risiken.

Versuchsbeginn und Rücktritt

Die Abgrenzung zwischen Vorbereitungshandlung und Versuchsbeginn richtet sich nach der konkreten Betrachtungsweise am Geschehensablauf. Maßgeblich ist, ob der Täter nach seinem Tatplan zur unmittelbaren Tatbestandsverwirklichung angesetzt hat. Konkretisierend fragt die Rechtsprechung, ob nach dem Gesamtbild der jeweiligen Handlung der Versuch der Tat unmittelbar bevorsteht und nicht mehr weit entfernt ist.

Auch für die Beurteilung des Rücktritts vom Versuch wird die konkrete Betrachtungsweise herangezogen. Entscheidend ist, ob im individuellen Fall aus Tätersicht noch eine vollständige Erfolgsverhinderung möglich war.

Fahrlässigkeitsdelikt

Im Rahmen von Fahrlässigkeitsdelikten spielt die konkrete Betrachtungsweise bei der Zurechnung des Erfolgs eine maßgebliche Rolle. Es wird geprüft, ob sich gerade diejenige Gefahr realisiert hat, die durch die Nichtbeachtung der Sorgfaltspflicht im jeweiligen Fall geschaffen wurde. Insbesondere im Zusammenhang mit atypischen Kausalverläufen bewirkt die konkrete Betrachtungsweise eine Einschränkung der Zurechnung.


Abgrenzung zur Abstrakten Betrachtungsweise

Die abstrakte Betrachtungsweise unterscheidet sich von der konkreten Betrachtungsweise dahingehend, dass sie lediglich auf die generelle Eignung eines Verhaltens zur Herbeiführung eines bestimmten Erfolges abstellt. Sie spielt vor allem bei der Deliktsqualifikation und bei der Prüfung des Tatbestandsmerkmals „Gefährlichkeit“ eine Rolle.

Die konkrete Betrachtungsweise verlangt hingegen eine detaillierte Prüfung des tatsächlich eingetretenen Kausalverlaufes und begnügt sich nicht mit theoretischen Überlegungen. Dadurch erfolgt eine Eingrenzung der Strafbarkeit auf solche Verhaltensweisen, bei denen sich das durch die Norm untersagte Risiko erkennbar im Einzelfall verwirklicht hat.


Rechtsprechung und Beispiele zur Konkretisierung

Die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (BGH) und der Oberlandesgerichte wurde durch die Anwendung der konkreten Betrachtungsweise maßgeblich geprägt. So wurde klargestellt, dass beim Rücktritt vom Versuch der tatsächliche Ablauf im jeweiligen Fall maßgeblich ist. Bei der Prüfung von Fahrlässigkeitsdelikten wird ebenfalls streng nach dem jeweiligen Geschehensablauf unterschieden: Hat der Täter durch sein Verhalten eine Gefahr geschaffen, die sich sodann tatsächlich in einem Schaden verwirklicht hat, ist die objektive Zurechnung in der Regel gegeben.

Beispiel (Fahrlässigkeit):
Eine Person überfährt in der Dämmerung bei mangelndem Licht einen Fußgänger. Die Wertung, ob sich hier die durch die Pflichtverletzung (Fahren ohne Licht) geschaffene Gefahr auch tatsächlich realisiert hat, erfolgt nach der konkreten Betrachtungsweise: Wäre der Unfall auch bei ausreichender Beleuchtung unvermeidbar gewesen, fehlt es an der Zurechenbarkeit.

Beispiel (Versuchsbeginn):
Im Diebstahlsversuch ist entscheidend, ob der Täter im konkreten Handlungsablauf bereits so weit fortgeschritten ist, dass der unmittelbare Kontakt mit dem Diebesgut besteht und die eigentliche Wegnahmehandlung unmittelbar bevorsteht.


Kritik und Dogmatische Einordnung

Die konkrete Betrachtungsweise wird überwiegend als grundlegende Voraussetzung für eine rechtssichere und einzelfallgerechte Anwendung des Strafrechts angesehen. Sie gewährleistet, dass nicht jede abstrakte Gefahrengenerierung zu strafrechtlicher Verantwortlichkeit führt, sondern nur dann, wenn sich das verbotene Risiko selbst realisiert.

Gleichwohl existieren vereinzelt kritische Stimmen, die darauf hinweisen, dass die strikte individualisierende Ausrichtung eine inkonsistente Strafbarkeitsbegründung begünstigen kann, insbesondere in atypischen Verläufen.


Relevanz in anderen Rechtsgebieten

Die konkrete Betrachtungsweise findet zwar ihre besondere Ausprägung im Strafrecht, sie wirkt jedoch auch in angrenzenden Rechtsgebieten, etwa im Zivilrecht beim Deliktsrecht und im Verwaltungsrecht bei Gefahrenabwehrmaßnahmen. Sie sorgt auch dort für eine Einzelfallorientierung und verhindert eine unangemessene Ausdehnung von Haftungstatbeständen.


Zusammenfassung

Die konkrete Betrachtungsweise ist ein zentrales Strukturelement im deutschen Strafrecht. Sie fordert, dass die Beurteilung von Tatbestandsmerkmalen, Versuch und Erfolgszurechnung stets anhand des individuellen und tatsächlichen Geschehensablaufs erfolgt. Dadurch wird eine präzise und gerechte Strafanwendung auf den jeweiligen Einzelfall sichergestellt. Gleichzeitig trägt sie zur Begrenzung der Strafbarkeit auf tatsächliche Risiko- und Gefahrenverwirklichungen bei. Die Bedeutung der konkreten Betrachtungsweise für die Praxis ist erheblich und prägt zahlreiche Kernbereiche des Strafrechts nachhaltig.

Häufig gestellte Fragen

Wann findet die konkrete Betrachtungsweise im Strafrecht Anwendung?

Die konkrete Betrachtungsweise findet im Strafrecht insbesondere bei der Kausalitätsprüfung sowie bei der Bewertung des objektiven Zurechnungszusammenhangs Anwendung. Sie ist stets dann heranzuziehen, wenn zu beurteilen ist, ob ein bestimmter Erfolg (z.B. der Tod des Opfers) tatsächlich durch eine bestimmte Handlung des Täters verursacht wurde und ob sich im Erfolg gerade das spezifische Risiko der Handlung realisiert hat. In der Rechtsprechung wird die konkrete Betrachtungsweise vor allem in Zusammenhang mit Alternativ- und Doppelkausalitätskonstellationen, dem Problem der hypothetischen Kausalität (Reserveursachen), Unterlassungsdelikten sowie bei der Bewertung medizinischer Behandlungsverläufe eingesetzt. Es gilt, den tatsächlichen Geschehensablauf, wie er sich nach den Feststellungen im Einzelfall darstellt, zu analysieren und zu bewerten, ohne abstrakte Wahrscheinlichkeitsüberlegungen in den Vordergrund zu stellen.

Welche Bedeutung hat die konkrete Betrachtungsweise bei der Kausalität?

Die konkrete Betrachtungsweise ist bei der Prüfung der Kausalität von zentraler Bedeutung, weil sie verlangt, dass die Kausalitätsprüfung auf der Basis des tatsächlich eingetretenen Geschehensablaufs erfolgt. Dies bedeutet, dass der Richter auf die spezifischen Tatsachen des Einzelfalls abstellt und die Kausalitätsfrage ausschließlich vor dem Hintergrund des tatsächlich festgestellten Verlaufs prüft. Dabei wird insbesondere das sogenannte Äquivalenztheorie-Prinzip („Conditio-sine-qua-non-Formel“) angewandt, welches jedoch in Grenzfällen (z.B. bei mehreren Ursachen) durch die konkrete Betrachtungsweise ergänzt wird, um zu einem gerechten Ergebnis zu gelangen. Eine rein hypothetische, von der Realität abweichende Betrachtung ist ausgeschlossen, sodass insbesondere hypothetische Verläufe aufgrund von Reserveursachen regelmäßig unbeachtlich sind.

Wie beeinflusst die konkrete Betrachtungsweise die Bewertung bei Unterlassungsdelikten?

Bei Unterlassungsdelikten spielt die konkrete Betrachtungsweise eine entscheidende Rolle bei der Frage, ob das pflichtwidrige Unterlassen für den Erfolg ursächlich war. Da sich hier regelmäßig die Frage stellt, ob der Schaden durch das rechtzeitige Eingreifen des Pflichtigen verhindert worden wäre, muss anhand des tatsächlich eingetretenen Geschehens und der realistischen Möglichkeit einer Abwendung des Erfolges geprüft werden, ob ein rechtzeitiges und ordnungsgemäßes Handeln mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zur Erfolgsabwendung geführt hätte. Die konkrete Betrachtungsweise verhindert dabei, dass lediglich abstrakte oder spekulative Überlegungen zur Wahrscheinlichkeitssteigerung ausreichen, um die Zurechnung zu bejahen.

In welchen Bereichen steht die konkrete Betrachtungsweise häufig im Fokus gerichtlicher Entscheidungen?

Die konkrete Betrachtungsweise ist fester Bestandteil gerichtlicher Entscheidungsfindung in den Bereichen der Fahrlässigkeitsdelikte, bei der sogenannten Kausalitätslehre (insbesondere Doppel- und Überholende Kausalität sowie hypothetische Reserveursachen), bei spezifischen Konstellationen im Medizinstrafrecht (z.B. Tod infolge fehlerhafter Behandlung trotz lebensgefährlicher Vorerkrankung) und generell bei Delikten, in denen mehrere Ursachenverläufe oder Mitursachen relevant sind. Insbesondere bei konkurrierenden natürlichen Kausalverläufen dient sie als notwendiges Präzisionsinstrument zur Trennung von rechtlich relevanten und irrelevanten Ursachen im Einzelfall.

Wie verhält sich die konkrete Betrachtungsweise zur objektiven Zurechnung?

Die objektive Zurechnung verlangt, dass sich im konkreten Erfolg gerade das Risiko realisiert, das durch die strafbare Handlung geschaffen wurde. Durch die konkrete Betrachtungsweise wird gesichert, dass die Zurechnung eines Erfolges nur dann erfolgt, wenn im Einzelfall das spezifische Risiko, das durch das Verhalten des Täters geschaffen wurde, tatsächlich im Eintritt des Erfolges verwirklicht wurde. Damit ist die konkrete Betrachtungsweise ein notwendig ergänzendes Instrument, um die Zurechnungsdogmatik an der tatsächlichen Geschehensentwicklung auszurichten und pauschale, abstrakte Gefahrenbewertungen zu vermeiden.

Was sind typische Beispiele für die Anwendung der konkreten Betrachtungsweise?

Typische Beispiele sind Fälle, in denen mehrere Personen unabhängig voneinander zum Tod eines Opfers beitragen („Doppelkausalität“), Fälle mit Reserveursachen (z.B. ein tödlich verletztes Opfer stirbt später an einer anderen Ursache, die nachträglich eintritt), sowie Fälle, in denen ein Unterlassen nur dann strafbar sein soll, wenn konkrete Rettungsmaßnahmen den Erfolg verhindert hätten. Auch im Medizinstrafrecht, etwa bei der Frage, ob eine fehlerhafte Behandlung zum Tod geführt hat, wenn eine tödliche Krankheit ohnehin vorlag, ist die konkrete Betrachtungsweise ausschlaggebend.

Bestehen Unterschiede zwischen konkreter Betrachtungsweise und alternativen Methoden der Erfolgszurechnung?

Die konkrete Betrachtungsweise grenzt sich klar zu abstrakten und generalisierenden Methoden ab, indem sie immer den spezifischen tatsächlichen Verlauf zum Maßstab der rechtlichen Bewertung macht. Während abstrakte Methoden auf generelle Wahrscheinlichkeiten oder Risikobetrachtungen abstellen könnten, nimmt die konkrete Betrachtungsweise ausschließlich auf die festgestellten Tatsachen Bezug und eliminiert hypothetische Kausalketten, soweit sie im konkreten Geschehensablauf keine Rolle gespielt haben. Dadurch wird die strafrechtliche Verantwortlichkeit gezielt auf das realisierte Gefahrenpotenzial beschränkt.