Legal Lexikon

Klageindustrie


Begriff und Definition der Klageindustrie

Die Klageindustrie ist ein Begriff, der die systematische und teilweise gewinnorientierte Betreibung und Organisation von Massenklagen in einem nationalen oder internationalen Rechtsrahmen beschreibt. Der Begriff wird insbesondere dort verwendet, wo privatwirtschaftliche Akteure, wie Unternehmen oder Investoren, gezielt Klagen initiieren oder fördern und daraus ein Geschäftsmodell entwickeln. Dies umfasst unter anderem die Erschließung neuer Märkte und Rechtsgebiete durch koordiniertes Vorgehen mit Hilfe moderner Technologien und Geschäftsstrukturen.

Der Ausdruck ist in der rechtswissenschaftlichen Diskussion umstritten und wird häufig kritisch im Zusammenhang mit sogenannten Massen- oder Sammelklagen eingesetzt, da er suggeriert, dass das Ziel der Klageerhebung insbesondere wirtschaftliche Vorteile und nicht primär der Rechtsschutz einzelner Anspruchsteller sei.

Entstehung und Entwicklung der Klageindustrie

Geschichtlicher Hintergrund

Die Wurzeln der Klageindustrie liegen in der Entwicklung des kollektiven Rechtsschutzes, namentlich der Sammelklageinstrumente in den USA („Class Action“) und der zunehmenden Professionalisierung und Kommerzialisierung rechtlicher Dienstleistungen. Mit der Verbreitung von Legal-Tech-Unternehmen und Prozessfinanzierern in Europa und Deutschland gewann der Begriff in den letzten Jahren an Bedeutung, insbesondere im Zusammenhang mit Massenschadensereignissen (z. B. Dieselskandal, Datenschutzverletzungen).

Technologisierung und Kommerzialisierung

Durch die Digitalisierung des Rechtsmarktes und den Einsatz automatisierter Prozesse (Legal Tech) können Rechtsdurchsetzungsmaßnahmen nun effizient, skalierbar und flächendeckend für eine große Anzahl von Anspruchstellern organisiert werden. Hierdurch wird die Schwelle für die Geltendmachung von Ansprüchen gesenkt, was den Begriff der Klageindustrie verdeutlicht. Im Zentrum stehen häufig Portale oder Plattformen, die Ansprüche bündeln und als Schnittstelle zu Prozessfinanzierern, Rechtsdienstleistern oder Anwaltskanzleien fungieren.

Rechtliche Einordnung und Strukturen

Zivilprozessuale Grundlagen

Im Zentrum der Klageindustrie stehen regelmäßig massenhafte Individualklagen, häufig im Zusammenhang mit gleichgelagerten Lebenssachverhalten und Anspruchskonstellationen. In Deutschland greifen dabei die Regelungen des Zivilprozessrechts (§§ 253 ff. ZPO). Mit dem Inkrafttreten der Musterfeststellungsklage (§§ 606 ff. ZPO) und anderer kollektiver Rechtsschutzinstrumente wurde die Durchsetzbarkeit massenhafter Ansprüche weiter erleichtert.

Kollektiver Rechtsschutz und Musterverfahren

Kern der Klageindustrie sind Sammel- und Musterverfahren, die den Zusammenschluss zahlreicher Anspruchsteller gegen einen oder mehrere Anspruchsgegner ermöglichen. In Deutschland stehen hierfür seit 2018 die Musterfeststellungsklage sowie vereinzelt Sammeleinzugsverfahren zur Verfügung. In anderen EU-Staaten existieren vergleichbare Mechanismen, während in den USA die Class Action das dominierende Modell ist.

Prozessfinanzierung und Inkasso

Die Finanzierung massenhafter Klagen gehört zu den wichtigsten rechtlichen Aspekten der Klageindustrie. Prozessfinanzierer oder Dienstleister nach dem Rechtsdienstleistungsgesetz (RDG) übernehmen – häufig gegen Erfolgsbeteiligung – die Finanzierung von Gerichts- und Anwaltskosten. Dies kann sowohl im Wege der klassischen Prozessfinanzierung als auch im Rahmen des gewerblichen Forderungseinzugs (Legal-Tech-Inkasso) erfolgen. Die rechtliche Zulässigkeit und Begrenzung gewerblicher Rechtsdienstleistungen und Prozessfinanzierung unterliegt dabei strenger Regulierung durch das RDG und angrenzende Gesetzesmaterien.

Grenzen und Zulässigkeit der Prozessfinanzierung

Nach gefestigter Rechtsprechung sind Prozessfinanzierer als Dritte im Prozess zugelassen, solange Interessenkollisionen vermieden werden und Verbraucherinteressen gewahrt bleiben. Die Vereinbarung über eine reine Erfolgsvergütung ist allerdings exklusiv z. B. Inkassodienstleistern nach RDG vorbehalten und unterliegt gesetzlichen Schranken zur Verhinderung unangemessener Benachteiligung.

Kritische Würdigung und rechtspolitische Diskussion

Chancen und Risiken

Die Klageindustrie wird einerseits als Antrieb für den kollektiven Rechtsschutz und für die Durchsetzung von Verbraucherrechten gesehen. Sie kann zu einer effektiveren Verbraucherentlastung und Rechtssicherheit beitragen, wenn individuelle Schadensbeträge ansonsten aufgrund hoher Kosten oder Risiken nicht eingeklagt würden.

Andererseits wird die Kommerzialisierung von Ansprüchen kritisiert, da sie das Missbrauchspotenzial birgt, Rechtsstreitigkeiten gezielt aus Profitinteresse zu generieren („Abmahnwellen“, „Klagewellen“). Vor allem Unternehmen und Verbände fürchten eine Zunahme von Klageverfahren, die weniger auf Rechtsdurchsetzung als vielmehr auf wirtschaftlichen Druck zur schnellen Einigung abzielen.

Rechtspolitische Reaktionen

Der Gesetzgeber hat auf die Entwicklung der Klageindustrie reagiert, indem er u. a. das Recht der Prozessfinanzierung und die Zulassung von Musterklagen neu geregelt hat. Auch die Novellierungen des RDG sowie die Diskussion um eine europaweite kollektive Rechtsdurchsetzung zielen darauf ab, den Ausgleich zwischen effektivem Rechtsschutz, Verbraucherschutz und Missbrauchsvermeidung zu gewährleisten.

Insbesondere das Bundesministerium der Justiz befasst sich laufend mit der Evaluation der bestehenden Instrumente und prüft etwaige Regulierungsbedarfe, beispielsweise hinsichtlich der Transparenz und Offenlegungspflichten von Prozessfinanzierern.

Internationale Aspekte und Ausblick

Europäische Rechtsentwicklungen

Die Richtlinie (EU) 2020/1828 zur Verbandsklage zum Schutz der Kollektivinteressen der Verbraucher sorgt für eine Vereinheitlichung des kollektiven Rechtsschutzes im europäischen Binnenmarkt und wird die Entwicklung der Klageindustrie weiter befördern. Die Mitgliedstaaten sind zum Aufbau transparenter, ausgewogener Strukturen verpflichtet, um sowohl Rechtssicherheit für Massengeschädigte als auch Missbrauchsverhinderung zu sichern.

Zukunftsaussichten

Die Bedeutung der Klageindustrie wird angesichts zunehmender Digitalisierung, globalisierter Märkte und wachsender Komplexität von Massenschadensereignissen weiter zunehmen. Rechtspolitisch bleibt die Herausforderung, faire und effiziente Mechanismen zur Bewältigung massenhafter Schadensdurchsetzung zu schaffen, ohne Anreize für systematischen Rechtsmissbrauch zu setzen. Transparenz, Regulierung und Anpassung der Verfahrensrechte werden deshalb für die Fortentwicklung dieses Rechtsgebiets zentral sein.


Literaturhinweise und weiterführende Quellen
Für vertiefende Informationen bieten sich Beiträge zur Musterfeststellungsklage, zum Legal Tech-Inkasso, zur Prozessfinanzierung und internationalen Sammelklageverfahren an. Bundesministerien, einschlägige wissenschaftliche Veröffentlichungen und die Rechtsprechungspraxis liefern weiterführendes Material.

Häufig gestellte Fragen

Welche rechtlichen Voraussetzungen müssen für eine erfolgreiche Klage im Rahmen der sogenannten Klageindustrie gegeben sein?

Damit eine Klage innerhalb des Phänomens „Klageindustrie“ Erfolg haben kann, müssen alle allgemeinen Zulässigkeits- und Begründetheitserfordernisse einer Klage nach der Zivilprozessordnung (ZPO) erfüllt sein. Dazu zählen insbesondere die ordnungsgemäße Parteifähigkeit und Prozessfähigkeit der Klägerseite, das Vorliegen eines schlüssigen Klagevortrags, die sachliche und örtliche Zuständigkeit des angerufenen Gerichts sowie ein rechtlich durchsetzbarer Anspruch. In massenhaften Geltendmachungen, wie sie für die Klageindustrie typisch sind, werden oft Ansprüche aus Leistungsstörungen, Deliktsrecht oder Datenschutz geltend gemacht – diese müssen allerdings individuell für jeden Einzelfall substantiiert begründet werden. Auch die Prozesskostenfinanzierung, die Abtretung von Ansprüchen sowie das Verbot der sogenannten Prozessunzulässigkeit durch Rechtsmissbrauch (§ 242 BGB) spielen eine zentrale Rolle, da der Zweck der Klage nicht allein die Erzielung von Gebühren oder die Generierung von Druckmittel sein darf, sondern ein eigenständiges, berechtigtes Interesse der klagenden Partei vorliegen muss. Sogenannte „Massenklagen“ unterliegen zudem häufig einer verstärkten gerichtlichen Kontrolle, ob ein Missbrauch des Klagerechts vorliegt.

Gibt es rechtliche Einschränkungen für Prozessfinanzierer und Inkassodienstleister, die in der Klageindustrie tätig sind?

Ja, sowohl Prozessfinanzierer als auch Inkassodienstleister unterliegen spezifischen gesetzlichen Vorgaben. Inkassodienstleistungen dürfen gemäß § 10 Abs. 1 Nr. 1 Rechtsdienstleistungsgesetz (RDG) nur von registrierten Unternehmen erbracht werden, die strenge Zulassungskriterien erfüllen. Sie dürfen Mandanten nur in bestimmten Angelegenheiten vertreten und müssen insbesondere die Vorgaben zur ordnungsgemäßen Rechtsdienstleistung und zum Verbraucherschutz einhalten. Prozessfinanzierer hingegen treten typischerweise nicht als Partei oder Vertreter vor Gericht auf, sondern tragen das Prozesskostenrisiko gegen eine erfolgsabhängige Beteiligung. Problematisch und rechtlich umstritten ist die sogenannte „Sammelklage durch die Hintertür“, bei der Ansprüche gebündelt eingeklagt und durch die Finanzierung wirtschaftliche Interessen stark in den Vordergrund gestellt werden. Der Bundesgerichtshof (BGH) hat in unterschiedlichen Entscheidungen klargestellt, dass solche Konstellationen im Einklang mit dem geltenden Recht stehen können, sofern sie nicht in unzulässige Rechtsausübung oder Umgehung des Verbots der Prozessfinanzierung durch Nichtrechtsanwälte münden.

Inwiefern kann das „Recht auf Zugang zum Gericht“ durch die Aktivitäten der Klageindustrie eingeschränkt oder erweitert werden?

Das Recht auf gerichtlichen Rechtsschutz ist in Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 Grundgesetz (GG) sowie in Art. 6 Abs. 1 Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) garantiert. Die Klageindustrie kann dieses Recht einerseits erweitern, indem sie auch wirtschaftlich schwächeren oder rechtlich unerfahrenen Verbrauchern zu einer effektiven Durchsetzung ihrer Ansprüche verhilft. Andererseits besteht durch massenhafte Klageeinreichungen oder strategischen Rechtsmissbrauch die Gefahr einer Überlastung der Justiz, was die tatsächliche Effektivität des Rechtsschutzes für alle Beteiligten beeinträchtigen könnte. Aus diesem Grund prüfen die Gerichte verstärkt, ob mit einer Vielzahl gleichgelagerter Klagen ein legitimes Rechtsschutzinteresse verfolgt wird oder ob vorrangig wirtschaftliche Interessen und Gebührenmaximierung im Vordergrund stehen – letzteres könnte im Einzelfall eine rechtsmissbräuchliche Klageerhebung und damit eine Einschränkung des Rechtsschutzes bedeuten.

Welche Unterschiede bestehen zwischen der deutschen Klagepraxis und der US-amerikanischen „Class Action“ im Kontext der Klageindustrie?

Der Hauptunterschied liegt im kollektiven Rechtsschutzverfahren. Während in den USA die „Class Action“ ein etabliertes Instrument zur Bündelung von Massenansprüchen ist, stellt das deutsche Recht weiterhin auf die klassische Einzelklage ab. Die deutsche Musterfeststellungsklage (§§ 606 ff. ZPO) bietet lediglich einen Mittelweg: Hier können klagebefugte Verbraucherschutzverbände stellvertretend für eine unbestimmte Vielzahl Betroffener einen Musterprozess führen, allerdings nur zur Feststellung, nicht zur unmittelbaren Leistung. Während in den USA Anwaltskanzleien und Prozessfinanzierer häufig als eigentliche „Motoren“ der Klageindustrie agieren, unterliegt die Mandantenakquise und -vertretung in Deutschland strengeren berufsrechtlichen und prozessualen Beschränkungen. Auch punitive damages, also Strafschadensersatz, sind im deutschen Recht (bis auf wenige Ausnahmen) unzulässig.

Können betroffene Unternehmen sich gegen massenhafte Klagen aus der Klageindustrie rechtlich zur Wehr setzen?

Betroffene Unternehmen haben zahlreiche rechtliche Möglichkeiten, sich gegen massenhafte Klagen zur Wehr zu setzen. Sie können im Rahmen des Prozessrechts etwa Einreden der rechtsmissbräuchlichen Rechtsausübung, mangelnder Aktivlegitimation oder Verjährung geltend machen. Auch Sammelabwehrmaßnahmen wie der Antrag auf Aussetzung des Verfahrens bei parallelen Verfahren, die Zulässigkeitseinwände oder das Bestreiten der ordnungsgemäßen Anspruchsabtretung stehen zur Verfügung. Darüber hinaus können Unternehmen prüfen, ob die klagende Partei in ihrer Organisation und Vorgehensweise gegen datenschutz- oder wettbewerbsrechtliche Vorschriften verstößt. Im Einzelfall kann gegen den Missbrauch des Prozessrechts auch straf- und berufsrechtlich vorgegangen werden – etwa bei gewerbsmäßigem Betrug oder unzulässiger Rechtsdienstleistung.

Welche Bedeutung hat das Rechtsmissbrauchsverbot im Kontext der Klageindustrie?

Das Rechtsmissbrauchsverbot ist ein zentraler Prüfungsmaßstab für die Zulässigkeit von Klagen im Kontext der Klageindustrie. Nach § 242 BGB („Treu und Glauben“) ist die Rechtsausübung unzulässig, wenn sie offensichtlich missbräuchlich erfolgt, das heißt, wenn sie allein zu Zwecken betrieben wird, die mit der Rechtsordnung nicht vereinbar sind, wie zum Beispiel der Schaffung künstlich generierter Streitwerte, der massenhaften Überforderung der Gegenseite oder der Erzielung von Gebühren bei mangelndem materiellem Rechtsschutzinteresse. Die Gerichte nehmen insbesondere bei massenhaft erhobenen Klagen eine strenge Prüfung vor, ob tatsächlich ein individuelles Rechtsschutzinteresse besteht oder ob die Klage lediglich als Druckmittel ohne substanzielle Anspruchsgrundlage eingesetzt wird. Erfolgt die Klageerhebung allein als Mittel zum Zweck der eigenen Gewinnerzielung ohne plausiblen Anspruch des Klägers, kann das Gericht solche Klagen als unzulässig abweisen.

Welche prozessualen Besonderheiten ergeben sich bei der Massengeltendmachung von Ansprüchen durch die Klageindustrie?

Spezifische prozessuale Besonderheiten betreffen vor allem das Bestreiten der individuellen Anspruchsvoraussetzungen durch die beklagte Partei, die Substantiierungserfordernisse für jedes einzelne Verfahren sowie mögliche Verfahrenskonzentration durch Musterfeststellungsverfahren oder Verfahrensverbindungen gem. §§ 147, 159 ZPO. Da die Ansprüche in der Klageindustrie häufig auf Abtretungen oder Teilnutzungen basieren, müssen die Prozessparteien beweisen, dass die Klagepartei im konkreten Fall aktiv legitmiert ist. Die Gerichte verlangen zunehmend eine detailreiche Sachverhaltsschilderung, differenzierte Darlegung der jeweiligen Anspruchsgrundlage und gegebenenfalls auch eine differenzierte Kosten- und Streitwertberechnung für jede Einzelklage. Verfahrenskosten, richterliche Hinweispflichten und die Thematik der Prozessvereinfachungen stehen aufgrund massenhafter Parallelverfahren häufig im Fokus der gerichtlichen Organisation und Rechtsfortbildung.