Begriff und rechtliche Grundlagen des Jugoslawien-Strafgerichtshofs
Der Jugoslawien-Strafgerichtshof (offiziell: Internationaler Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien, abgekürzt ICTY nach dem englischen Namen International Criminal Tribunal for the former Yugoslavia) war ein Ad-hoc-Strafgericht, welches auf Initiative des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen eingerichtet wurde. Ziel war die strafrechtliche Aufarbeitung schwerster Menschenrechtsverletzungen während der Jugoslawienkriege. Der Gerichthof ist ein historisch bedeutendes Organ der internationalen Strafrechtspflege und nahm grundlegende Bedeutung für die Entwicklung des modernen Völkerstrafrechts ein.
Gründung und Mandat
Einrichtung durch den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen
Die Gründung des Jugoslawien-Strafgerichtshofs erfolgte auf Grundlage der Resolution 827 des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen am 25. Mai 1993. Die Rechtsgrundlage beruht auf Kapitel VII der Charta der Vereinten Nationen, das Zwangsmaßnahmen zur Wahrung oder Wiederherstellung des Weltfriedens erlaubt. Der Sicherheitsrat sah die Einrichtung eines internationalen Tribunals als Maßnahme zur Beendigung und Prävention schwerer Menschenrechtsverletzungen in den ehemaligen jugoslawischen Republiken.
Sitz und Zuständigkeit
Der Sitz des Tribunals war Den Haag in den Niederlanden. Die sachliche Zuständigkeit des Jugoslawien-Strafgerichtshofs umfasste schwerwiegende Verletzungen des humanitären Völkerrechts, begangen ab dem 1. Januar 1991 auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawiens. Zeitlich war die Zuständigkeit auf die jeweiligen bewaffneten Konflikte begrenzt. Materiell war das Tribunal für vier zentrale Deliktsgruppen zuständig: schwere Verstöße gegen die Genfer Abkommen von 1949, Verstöße gegen das Kriegsrecht, Völkermord sowie Verbrechen gegen die Menschlichkeit.
Rechtsgrundlagen und Statut
Statut des Jugoslawien-Strafgerichtshofs
Das Statut des ICTY bildet die völkerrechtliche Grundlage seiner Arbeitsweise und ist als Anhang der Gründungsresolution veröffentlicht. Es enthält die normativen Rahmenbedingungen zu Zusammensetzung, Zuständigkeiten, Verfahrensrecht und Strafzumessung.
Persönliche und räumliche Zuständigkeit
Das Gericht war ausschließlich für natürliche Personen, nicht für Staaten oder Organisationen, zuständig. Das räumliche Anwendungsgebiet deckte das gesamte Staatsgebiet des ehemaligen Jugoslawien ab.
Strafbare Handlungen
Das Tribunal verfolgte strafrechtlich insbesondere:
- Völkermord gemäß der Definition der Völkermordkonvention,
- Verbrechen gegen die Menschlichkeit, darunter Mord, Vergewaltigung, Deportation und Folter,
- Kriegsverbrechen, insbesondere gezielte Angriffe auf Zivilpersonen, Misshandlung von Kriegsgefangenen und Plünderungen,
- Schwere Verstöße gegen die Genfer Abkommen, unter anderem vorsätzliche Tötung, unmenschliche Behandlung und unrechtmäßige Vertreibung.
Verfahrensordnung und Prinzipien
Ermittlungs- und Anklageverfahren
Das Statut des ICTY sieht ein hybrides Verfahren mit Ermittlungsrichter, Ankläger (Prosecutor) und eigener Polizei vor. Der Ankläger (Prosecutor) ermittelte unabhängig und war berechtigt, Anklagen zu erheben. Die Rechtsprechung orientierte sich an international anerkannten rechtsstaatlichen Standards.
Prozessrechtliche Grundsätze
Das Verfahren vor dem Tribunal war geprägt von dem Grundsatz des fairen Verfahrens, dem Recht auf Verteidigung und dem Recht auf ein öffentliches Verfahren. Angeklagte wurden bis zum Nachweis der Schuld als unschuldig betrachtet (Unschuldsvermutung).
Strafzumessung und Vollstreckung
Der Jugoslawien-Strafgerichtshof konnte Freiheitsstrafen verhängen, die in speziell benannten Staaten, in der Regel in europäischen Ländern, vollstreckt wurden.
Verhältnis zu nationalen Rechtssystemen
Vorrang und Ergänzungsprinzip
Der ICTY besaß Vorrang gegenüber nationalen Gerichten, allerdings galt das sogenannte Komplementaritätsprinzip: Nationale Gerichte waren befugt zu ermitteln und zu urteilen, solange das Tribunal nicht tätig wurde oder Fälle an diese verwies. Das Tribunal konnte nationale Ermittlungen übernehmen, wenn die zuständigen nationalen Behörden untätig blieben oder Verfahren nicht völkerrechtskonform stattfanden.
Überstellung und Rechtshilfe
Die Vertragsstaaten waren völkerrechtlich verpflichtet, auf Ersuchen Verdächtige an den Gerichtshof auszuliefern, Beweismittel bereitzustellen und bei Ermittlungen zu kooperieren.
Rechtshistorische Bedeutung
Präzedenzfälle und Weiterentwicklung des Völkerstrafrechts
Der Jugoslawien-Strafgerichtshof setzte international historische Maßstäbe, insbesondere in der Auslegung der Begriffe „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“, „Völkermord“ und „gemeinsamer krimineller Plan“ (Joint Criminal Enterprise). Zahlreiche Urteile des Tribunals beeinflussten die spätere Entwicklung des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) sowie nationaler völkerstrafrechtlicher Rechtsprechung.
Beendigung des Mandats
Der Tribunal nahm am 1. Januar 1995 die Tätigkeit auf und vollendete seine Arbeit am 31. Dezember 2017. Anschließend wurde ein Mechanismus für die Internationalen Strafgerichtshöfe (MICT) geschaffen, der Restaufgaben wie Revisionsverfahren und Strafvollstreckung betreut.
Literatur und weiterführende Rechtsquellen
- Resolution 827 (1993) des UN-Sicherheitsrates
- Statut des Internationalen Strafgerichtshofs für das ehemalige Jugoslawien
- ICTY Case Law Database (www.icty.org)
Fazit
Der Jugoslawien-Strafgerichtshof stellt einen Meilenstein des internationalen Strafrechts dar. Er markierte erstmals seit den Nürnberger Prozessen eine umfassende Ahndung schwerer Völkerrechtsverbrechen im internationalen Kontext und trug maßgeblich zur Entwicklung und Durchsetzung völkerstrafrechtlicher Normen und Standards bei. Das Tribunal besitzt bleibende Bedeutung für die historische Aufarbeitung der Gewaltkonflikte auf dem Balkan sowie für die Fortbildung des internationalen und europäischen Strafrechtes.
Häufig gestellte Fragen
Welche rechtlichen Grundlagen bildeten die Basis für die Errichtung des Jugoslawien-Strafgerichtshofs?
Der Internationale Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien (IStGHJ, engl. ICTY) wurde auf der Grundlage des Kapitels VII der Charta der Vereinten Nationen durch die Resolution 827 des Sicherheitsrates vom 25. Mai 1993 eingerichtet. Kapitel VII ermächtigt den Sicherheitsrat, verbindliche Maßnahmen zur Wahrung oder Wiederherstellung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit zu treffen, wenn durch einen Konflikt eine Bedrohung des Friedens, ein Bruch des Friedens oder eine Aggressionshandlung festgestellt wird. Der rechtliche Kernpunkt ist dabei, dass der Sicherheitsrat angesichts der massiven Menschenrechtsverletzungen während der Jugoslawienkriege den internationalen Strafgerichtshof als ein Instrument der internationalen Gemeinschaft etablieren konnte, um Einzelpersonen für schwerwiegende Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht, wie Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen, strafrechtlich zur Verantwortung zu ziehen. Die Statuten des IStGHJ wurden demnach als Anhang zur Resolution 827 verabschiedet und bilden die spezifische rechtliche Grundlage für seine Zuständigkeit, Verfahrensweisen und Organisation.
Wie gestaltete sich die Zuständigkeit des Jugoslawien-Strafgerichtshofs hinsichtlich Tatzeit, Örtlichkeit und Deliktarten?
Die Zuständigkeit des IStGHJ war in dreifacher Hinsicht begrenzt. Räumlich war sie beschränkt auf das Gebiet des ehemaligen Jugoslawien; zeitlich erstreckte sie sich auf Straftaten, die seit dem 1. Januar 1991 begangen wurden – das war der Beginn der bewaffneten Konflikte. Sachlich erfasste die Zuständigkeit bestimmte schwere Verletzungen des humanitären Völkerrechts, wie sie in den Artikeln 2 bis 5 des Statuts kodifiziert wurden: schwerwiegende Verstöße gegen die Genfer Abkommen von 1949, Verstöße gegen Gesetze oder Gebräuche des Krieges, Völkermord sowie Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Die exklusive Zuständigkeit bedeutete, dass nationales Recht und die Gerichte der Staaten des ehemaligen Jugoslawien zurücktraten, wenn ein Fall vor den IStGHJ gebracht wurde (Vorrangprinzip, Art. 9 ICTY-Statut).
Nach welchen materiellen Rechtsgrundlagen erfolgte die Strafverfolgung beim Jugoslawien-Strafgerichtshof?
Die Straftaten wurden nicht pauschal nach nationalem Recht, sondern nach völkerrechtlichen Normen verfolgt. Das Statut des IStGHJ orientierte sich inhaltlich an bestehenden Konventionen, etwa an der Genfer Konvention (insbes. Art. 2 des Statuts), am Gewohnheitsvölkerrecht, an der Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes (Art. 4 Statut) und an allgemeinen Grundsätzen wie Nullum crimen sine lege. Zusätzlich wurden Rechtsprechungen wie jene der Nürnberger Prozesse oder des Völkerbunds herangezogen, um die Tatbestände und die individuelle strafrechtliche Verantwortlichkeit (einschließlich der Verantwortung für Unterlassung und die Befehlskette) entsprechend auszugestalten.
Wie war das Verhältnis zwischen den nationalen Gerichten und dem Jugoslawien-Strafgerichtshof geregelt?
Gemäß Artikel 9 des IStGHJ-Statuts beanspruchte der ICTY eine sogenannte Vorranggerichtsbarkeit („primacy over national courts“). Nationale Gerichte der Nachfolgestaaten waren grundsätzlich verpflichtet, Fälle abzugeben, wenn der ICTY dies verlangte. Diese Vorranggerichtsbarkeit fand insbesondere dann Anwendung, wenn nationale Gerichte nicht willens oder in der Lage waren, Verfahren ordnungsgemäß durchzuführen. Allerdings konnten Fälle, die der ICTY nicht verfolgte („Rule 11bis“-Verfahren), auch an die zuständigen nationalen Gerichte zurücküberwiesen werden. Dies geschah insbesondere gegen Ende der Tätigkeit des ICTY, als ein Fokus auf Kapazitätsaufbau und die Unterstützung der lokalen Justizsysteme lag.
Welche prozessualen Besonderheiten wies das Verfahren vor dem Jugoslawien-Strafgerichtshof auf?
Das Verfahren vor dem ICTY war durch eine Mischung aus adversatorischem (angelsächsisches) und inquisitorischem (kontinentaleuropäisches) Verfahren geprägt. Die Anklageschrift wurde von einem unabhängigen Ankläger (Prosecutor) vorgelegt, dessen Amt eigens geschaffen und von der Generalversammlung der Vereinten Nationen bestätigt wurde. Die Verteidigung wurde durch eine Rechtsbeistandsliste gewährleistet, wobei dem Angeklagten das Recht auf einen frei gewählten oder staatlich bestellten Verteidiger eingeräumt wurde. Die Verhandlungen fanden vor Einzel- oder Dreierkammern statt, die Urteile und Strafen unabhängig von nationalen Vorschriften trafen. Das Verfahren hatte hohe Anforderungen an Rechte des Angeklagten, den Umgang mit Opfern und Zeugen, die Regeln zur Zulässigkeit von Beweisen sowie die Möglichkeit der Berufung vor einer separaten Berufungskammer.
Wie wurde die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Richter und des Anklägers beim Jugoslawien-Strafgerichtshof sichergestellt?
Die Auswahl der Richter erfolgte in einem mehrstufigen Verfahren: Die Vertragsstaaten der UNO konnten Kandidaten vorschlagen, die anschließend von der UN-Generalversammlung gewählt wurden. Sie mussten höchste moralische Integrität, einschlägige juristische Qualifikation und Erfahrung nachweisen. Die Benennung und Wahl des Chefanklägers wiederum erfolgte auf Vorschlag des Sicherheitsrates durch die Generalversammlung. Richter und Ankläger waren in ihren Entscheidungen und Arbeiten weisungsunabhängig und ausschließlich dem Statut sowie dem Völkerrecht unterworfen. Intern galten strenge Regeln zu Unvereinbarkeit und Befangenheit, um die Unparteilichkeit zu wahren.
Welche Bedeutung hatten die Entscheidungen des Jugoslawien-Strafgerichtshofs für die Entwicklung des Völkerstrafrechts?
Die Rechtsprechung des ICTY setzte wesentliche Impulse für das moderne Völkerstrafrecht. Viele bislang nicht kodifizierte Begriffe, wie zum Beispiel „Vergewaltigung als Kriegsverbrechen“ oder die individuelle strafrechtliche Verantwortlichkeit für Befehlshaber („command responsibility“), wurden maßgeblich ausgebildet. Die Urteile dienten somit als Präzedenz für spätere internationale Gerichte und Tribunale, einschließlich des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH, ICC) in Den Haag. Zudem wurde erstmals ein Modell für die internationale Zusammenarbeit bei Strafverfolgung und Vollstreckung entwickelt, darunter Auslieferung, Beweisaufnahme und Opferschutz. Die Entscheidungen des ICTY sind seither Referenzpunkte für universelle Jurisdiktion und die Fortentwicklung des Völkerstrafrechts insgesamt.