Legal Lexikon

Jhering, Rudolf von


Rudolf von Jhering – Leben und Wirken im Recht

Rudolf von Jhering (* 22. August 1818 in Aurich; † 17. September 1892 in Göttingen) zählt zu den bedeutendsten Vertretern der Rechtswissenschaft im 19. Jahrhundert. Sein Name ist untrennbar mit der Entwicklung der Rechtsdogmatik und der Rechtssoziologie im deutschsprachigen Raum verbunden. Jhering prägte mit seinem Werk nachhaltig die Ausrichtung der Rechtswissenschaft, insbesondere durch seine Abgrenzung vom reinen Begriffsjurismus und die Entwicklung der Interessenjurisprudenz. Seine Schriften und Thesen bilden einen zentralen Bestandteil der rechtswissenschaftlichen Literatur und sind wesentlicher Bezugspunkt in der Debatte um das Verhältnis von Recht, Gesellschaft und Zweck.


Biographischer Überblick

Rudolf von Jhering stammte aus Ostfriesland und absolvierte sein Jurastudium in Heidelberg, München, Göttingen und Berlin. Nach seiner Habilitation hatte er Professuren an mehreren Universitäten inne, darunter in Basel, Rostock, Kiel, Gießen, Wien und schlussendlich Göttingen. Jhering war Mitglied der Akademien der Wissenschaften zu Wien und Göttingen und wurde 1868 in den niederländischen Adelstand erhoben.


Wissenschaftliche Lehre und Rechtsphilosophie

Grundzüge der Interessenjurisprudenz

Im Mittelpunkt von Jherings Wirken steht die sogenannte Interessenjurisprudenz. Diese basiert auf der These, dass das Recht nicht primär auf logischen Begriffen, sondern auf gesellschaftlichen Interessen beruht. In seinem Werk „Der Zweck im Recht“ (1877/83) formulierte Jhering, dass Recht als eine fortwährende Auseinandersetzung zwischen widerstreitenden Interessen zu begreifen sei. Die Rolle des Rechts besteht darin, diese Konflikte im Sinne des Gemeinwohls lösungsorientiert zu ordnen. Damit löste er sich von der bis dahin vorherrschenden, am römischen Recht orientierten Begriffsjurisprudenz und beeinflusste maßgeblich die Entwicklung moderner Rechtsauffassungen.

Die Theorie vom subjektiven Recht

Ein weiterer Kernpunkt der Lehre Jherings ist die Theorie vom subjektiven Recht. Jhering definierte subjektives Recht als rechtlich geschützte Interessen konkreter Individuen. Die Bedeutung subjektiver Rechte liegt nach Jhering darin, dass sie als Mittel zur Durchsetzung von Zwecken und Interessen dienen. Dies markiert einen Paradigmenwechsel, da zuvor das subjektive Recht lediglich als Ausfluss objektiver Regelungen verstanden wurde.


Hauptwerke und ihre Bedeutung

„Der Zweck im Recht“

Das Werk „Der Zweck im Recht“ gilt als Jherings Hauptwerk und zählt zu den einflussreichsten Schriften der Rechtsphilosophie des 19. Jahrhunderts. Jhering setzt sich darin mit der Frage auseinander, welchen Sinn und Zweck das Recht in der Gesellschaft erfüllt. Er kommt zu dem Schluss, dass der Zweck als Grundelement jeder Rechtsnorm zu betrachten sei.

„Der Kampf um’s Recht“

Mit der Abhandlung „Der Kampf um’s Recht“ (1872) richtet sich Jhering vor allem an das praktische Rechtsempfinden. Er plädiert für eine konsequente Verteidigung eigenen Rechts und sieht darin nicht nur einen individuellen, sondern auch einen gesellschaftlichen Wert. Ihm zufolge ist die Durchsetzung von Rechten ein zentraler Bestandteil der Rechtsordnung und fördert den notwendigen Respekt vor dem Recht insgesamt.

„Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung“

In diesem mehrbändigen Werk analysiert Jhering die Entwicklung des römischen Rechts systematisch. Von besonderer Bedeutung ist seine Betonung des sozialen Charakters des Rechts und die Erkenntnis, dass Rechtstexte und -systeme immer im Kontext ihrer gesellschaftlichen Entwicklung verstanden werden müssen.


Jherings Einfluss auf die Rechtswissenschaft

Systematisierung und Methodik

Jhering trug dazu bei, die Methodik der Rechtswissenschaft zu modernisieren und sie von der starren Begriffsbildung hin zu einer an sozialen Realitäten orientierten Wissenschaft zu entwickeln. Seine Kritik an der reinen Dogmatik öffnete den Weg für eine flexiblere und lebensnähere Rechtsauslegung, die bis heute im Fokus steht.

Rechtssoziologische Ansätze

Jhering gilt als einer der Wegbereiter der Rechtssoziologie im deutschsprachigen Raum. Seine Annahme, dass Rechtsnormen Ausdruck gesellschaftlicher Kämpfe und Interessen sind, legte das Fundament für viele spätere Theorien zur Funktion und Entstehung des Rechts.

Einfluss auf das bürgerliche Recht und das BGB

Viele der von Jhering entwickelten Grundgedanken fanden Eingang in die Beratungen zur Schaffung des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB) des Deutschen Kaiserreichs. Hierzu zählen etwa die Überlegungen zur Rolle subjektiver Rechte und zur Bedeutung der sozialen Interessenlage bei der Ausgestaltung von Rechtsnormen.


Nachwirkung und Rezeption

Rudolf von Jherings Werk wird bis heute als wesentlicher Bestandteil der allgemeinen Rechtslehre betrachtet. Seine Ansätze zur Interessenjurisprudenz sowie zur Zweckmäßigkeit des Rechts gelten als maßgeblich für die Entwicklung moderner rechtswissenschaftlicher Theorien. In nationalen wie internationalen wissenschaftlichen Diskursen nimmt Jhering einen festen Platz ein, auch wenn seine Thesen bis heute intensiv diskutiert und weiterentwickelt werden. Die Durchsetzung des subjektiven Rechts und die Betonung von Recht als gesellschaftlichem Ordnungsfaktor sind aus der neueren Rechtslehre nicht mehr wegzudenken.


Literatur zu Rudolf von Jhering

  • Rudolf von Jhering: Der Zweck im Recht. 2 Bde., Leipzig 1877/1883.
  • Rudolf von Jhering: Der Kampf um’s Recht. Leipzig 1872.
  • Rudolf von Jhering: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Leipzig 1852-1865.

Zusammenfassung

Rudolf von Jhering ist eine zentrale Figur der Rechtslehre des 19. Jahrhunderts. Seine Ansichten zur Interessenjurisprudenz, zum subjektiven Recht und zum Gesellschaftsbezug des Rechts gehören zu den grundlegendsten Errungenschaften der modernen Rechtswissenschaft. Die von ihm angestoßenen Entwicklungen und Debatten prägen weiterhin den Diskurs über Wesen, Ziel und Funktion des Rechts und bleiben untrennbar mit seinem Namen verbunden.

Häufig gestellte Fragen

Welche Bedeutung hatte Rudolf von Jhering für die Entwicklung des modernen Privatrechts?

Rudolf von Jhering gilt als einer der einflussreichsten Rechtswissenschaftler des 19. Jahrhunderts und prägte insbesondere die Entwicklung des modernen Privatrechts nachhaltig. Sein Hauptwerk „Der Zweck im Recht“ revolutionierte die damalige Rechtsdogmatik, indem er den Gedanken der Interessenjurisprudenz ins Zentrum stellte. Damit wandte er sich gegen den überkommenen, rein formallogischen Ansatz des Begriffsjuristen Savigny und betonte stattdessen die Funktion des Rechts, gesellschaftliche Interessen auszugleichen. Jhering legte dar, dass Rechtsnormen keine Selbstzwecke, sondern Mittel zur Durchsetzung sozialer und gesellschaftlicher Zwecke seien. Seine Ansichten wirkten sich entscheidend auf die Kodifikation des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) und den späteren Diskurs um die soziale Funktion des Privatrechts aus, etwa in der Diskussion um die Inhaltskontrolle privater Verträge (§§ 138, 242 BGB).

Inwiefern beeinflusste die Interessenjurisprudenz von Jhering die Auslegung juristischer Normen?

Die von Jhering begründete Interessenjurisprudenz beeinflusste die juristische Methodik, indem sie die Auslegung von Normen wesentlich erweiterte. Während frühere Auslegungsmodelle vor allem auf die grammatikalische und systematische Interpretation abstellten, forderte Jhering, dass Richter und Rechtswissenschaftler auch stets den Zweck und die hinter der Norm stehenden Interessen mitberücksichtigen sollten. Die Zwecke, die mit einer Norm verfolgt werden, müssten zur Bestimmung ihres Inhalts und ihrer Anwendung herangezogen werden. Prinzipien wie Treu und Glauben oder der Grundsatz von Treuepflichten im Vertragsrecht sind ohne Jherings Einfluss kaum denkbar. Er bereitete so der teleologischen Auslegung den Weg und legte einen Grundstein für die jeweilige Interessenabwägung im Gerichtsurteil.

Welche Rolle spielt Jherings Werk „Der Kampf ums Recht“ im juristischen Diskurs?

„Der Kampf ums Recht“ (1872) ist ein weiteres zentral bedeutendes Werk Jherings, das insbesondere die subjektive Seite des Rechtsschutzes heraushebt und damit einen psychologisch-sozialen Aspekt des Rechts in den juristischen Diskurs einführte. Jhering erläuterte darin, dass jeder Einzelne verpflichtet sei, seine Rechte durchzusetzen, da andernfalls das gesamte System des Rechts und dessen sozialer Schutzmechanismus beeinträchtigt würden. Die Rechtsverfolgung wurde damit als bürgerliche Tugend ethisch aufgewertet. Im juristischen Diskurs führte dies dazu, dass das subjektive Recht als untrennbar mit dem Rechtsbewusstsein und dem Rechtsschutz-Interesse des Einzelnen verbunden angesehen wurde – ein Gedanke, der große Bedeutung für die Entwicklung des prozessualen Rechtsschutzes und für den Zugang zum Gerichtsschutz erlangte.

Wie unterscheidet sich Jherings Auffassung vom juristischen Formalismus des 19. Jahrhunderts?

Jhering setzte sich entschieden vom juristischen Formalismus seiner Zeit ab, der besonders durch Friedrich Carl von Savigny und die historische Schule geprägt war. Während der Formalismus dem Recht eine nahezu mathematische Systematik zuschrieb und auf eine möglichst widerspruchsfreie Begriffsbildung zielte, stellte Jhering den Lebensbezug und die praktische Bedürfnisbefriedigung des Rechts heraus. Für ihn war das Recht kein geschlossenes System abstrakter Begriffe, sondern ein dynamisches Instrument, das ständig auf sich wandelnde gesellschaftliche Bedürfnisse reagieren müsse. Die Aufgabe des Juristen sei es, die soziale Funktion und die realen Auswirkungen des Rechts zu analysieren und zu berücksichtigen. Dadurch bereitete er auch dem Aufstieg der Sozialstaatlichkeit und des sozialen Privatrechts den Boden.

Welche Kritik wurde an Jherings Rechtsphilosophie geübt?

Jherings Rechtsphilosophie wurde vielfach als zu zweckorientiert kritisiert. Gegner hielten ihm vor, dass ein zu starker Fokus auf die Zweckmäßigkeit des Rechts sowohl Willkür als auch Unsicherheit im Rechtsvollzug fördern könne, da auf diese Weise subjektive Wertungen der Richter zu sehr in den Vordergrund träten. Vertreter der Begriffsjurisprudenz warfen ihm vor, mit seiner Abkehr von der dogmatischen Begriffsbildung die Rechtssicherheit und Vorhersehbarkeit zu gefährden. Auch wurde bemängelt, dass die Bestimmung des „Zwecks“ einer Norm oft unklar sei und der Gefahr berge, politische Entscheidungen in den Rechtsdiskurs zu übertragen. Dennoch setzten sich im Zuge der fortschreitenden gesellschaftlichen Differenzierung und Pluralisierung viele seiner Ansichten im Rahmen der modernen Gesetzesauslegung durch.

Wie beeinflusste Jhering die Entwicklung des deutschen Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB)?

Jherings Einfluss auf die Entstehung des BGB ist trotz seiner ablehnenden Haltung gegenüber einem rein systematischen Gesetzestext nicht zu unterschätzen. Obwohl das BGB im Aufbau lange Zeit der Begriffsjurisprudenz verpflichtet blieb, wurden zentrale Wertungen Jherings in die Generalklauseln des BGB, insbesondere in die Vorschriften über Sittenwidrigkeit (§ 138 BGB) und Treu und Glauben (§ 242 BGB), aufgenommen. Diese Klauseln bieten dem Richter auch heute eine Grundlage, gesellschaftliche und situative Zwecke im Rahmen der Rechtsanwendung zu berücksichtigen. Seine Auffassung von der sozialen Funktion des Rechts und der Dynamik rechtlicher Normen wurde damit – zumindest in Teilen – im materiellen Privatrecht verankert.

In welcher Beziehung steht Jherings Werk zur Entwicklung der soziologischen Jurisprudenz?

Jherings Arbeit stellte einen wichtigen Vorläufer der soziologischen Jurisprudenz dar, indem er Recht nicht nur als Normenordnung, sondern als soziales Steuerungsinstrument mit gesellschaftlicher Funktion auffasste. Er betonte, dass Recht in Wechselwirkung mit den tatsächlichen Interessen, Bedürfnissen und Machtverhältnissen der Gesellschaft steht. Diese Auffassung bereitete den Weg für spätere sozialwissenschaftlich orientierte Rechtsgelehrte wie Eugen Ehrlich oder Max Weber, die Jherings Ansatz aufnahmen und weiterentwickelten, indem sie das Recht ausdrücklich als gesellschaftliche Praxis, nicht bloß als formal-logisches System, begriffen. Damit wurde die Entwicklung hin zu einer sozialwissenschaftlichen Rechtsforschung maßgeblich mitbeeinflusst.