Definition und Begriffserklärung des ius variandi
Der Begriff ius variandi (lateinisch für „Recht zur Änderung“) bezeichnet im Recht das Recht einer Vertragspartei, einseitig bestimmte Bedingungen eines bestehenden Vertragsverhältnisses abzuändern. Das ius variandi ist insbesondere im Arbeitsrecht, aber auch in weiteren Rechtsgebieten von Bedeutung und umfasst regelmäßig die Möglichkeit, Arbeitsaufgaben, Arbeitsort, Arbeitszeit oder Vergütung in den Grenzen des Vertrags und der geltenden Gesetze zu modifizieren.
Rechtsnatur und systematische Einordnung
Das ius variandi ist ein Instrument zur flexiblen Vertragsgestaltung und -anpassung. Es kann sich sowohl aus dem Gesetz, aus dem Vertrag selbst oder aus Tarifverträgen ergeben. Rechtlich ist dieses Recht als Ausnahme vom Grundsatz der Vertragstreue (pacta sunt servanda) zu betrachten, da anschließend eine einseitige Änderung zulässig ist, ohne dass es der Zustimmung der anderen Partei bedarf.
Einordnung im Vertragsrecht
Das ius variandi ist im Allgemeinen dem Schuldrecht zuzuordnen und stellt eine Modifikation der bestehenden vertraglichen Pflichten dar. In manchen Fällen leitet sich das Recht zur Änderung aus einer gesetzlichen Regelung ab, in anderen Fällen ist es ausdrücklich vertraglich eingeräumt.
Das ius variandi im Arbeitsrecht
Im Arbeitsrecht kommt dem ius variandi eine besondere Bedeutung zu, da es dem Arbeitgeber ermöglicht, die Arbeitsbedingungen innerhalb der rechtlichen und vertraglichen Grenzen an geänderte betriebliche Erfordernisse anzupassen.
Direktionsrecht des Arbeitgebers
Das arbeitsrechtliche Pendant zum ius variandi ist das Weisungs- bzw. Direktionsrecht (§ 106 Gewerbeordnung, GewO). Danach kann der Arbeitgeber Inhalt, Ort und Zeit der Arbeitsleistung nach billigem Ermessen näher bestimmen, soweit dies nicht durch Arbeitsvertrag, Bestimmungen einer Betriebsvereinbarung, eines Tarifvertrags oder gesetzliche Vorschriften festgelegt ist.
Umfang des ius variandi
- Inhalt der Tätigkeit: Der Arbeitgeber kann Weisungen zur Art der zu verrichtenden Arbeit geben, soweit keine vertraglichen, betrieblichen oder gesetzlichen Vorgaben entgegenstehen.
- Arbeitsort: Die Versetzung an einen anderen Arbeitsort ist grundsätzlich möglich, sofern der Arbeitsvertrag keine abschließende Regelung trifft.
- Arbeitszeit: Anpassungen der konkreten Arbeitszeiten können im Rahmen tariflicher, gesetzlicher und vertraglicher Vorgaben stattfinden.
- Vergütung: Die Veränderung der Vergütung ist grundsätzlich nicht vom ius variandi umfasst, da diese regelmäßig eine Vertragsänderung darstellt.
Grenzen des ius variandi
Das ius variandi wird insbesondere durch den Arbeitsvertrag, Tarifverträge, Betriebsvereinbarungen, sowie das Gesetz (z. B. Mutterschutzgesetz, Arbeitszeitgesetz) begrenzt. Zudem ist das sogenannte „billige Ermessen“ (§ 315 BGB) zu wahren. Der Eingriff darf nicht willkürlich oder diskriminierend erfolgen.
Änderungskündigung und ius variandi
Mitunter überschreitet eine Veränderung die Grenzen des ius variandi. Dann bleibt dem Arbeitgeber nur der Weg über die Änderungskündigung (§ 2 KSchG), mit der eine Vertragsänderung auch gegen den Willen des Arbeitnehmers, jedoch unter Wahrung prozessualer Schutzmechanismen, möglich ist.
Das ius variandi im öffentlichen Dienstrecht
Auch im öffentlichen Dienst finden sich Regelungen, die eine einseitige Anpassung von Tätigkeitsinhalten und Arbeitsbedingungen ermöglichen. Die Übertragung einer anderen Tätigkeit muss sich dabei im Rahmen der dienstrechtlichen Vorschriften bewegen und kann bei wesentlichen Änderungen eine Mitbestimmungspflicht der Personalvertretung auslösen.
Das ius variandi in weiteren Rechtsgebieten
Mietrecht
Im Mietrecht spielt das ius variandi eine untergeordnete Rolle, da wesentliche Vertragsänderungen, etwa zur Miethöhe oder Nutzungsart, grundsätzlich der Zustimmung des Mieters bedürfen. So werden einseitige Änderungen meist durch gesetzliche Sonderregelungen, wie Mietanpassungsklauseln oder Modernisierungsmaßnahmen (§§ 555b ff. BGB) legitimiert.
Gesellschaftsrecht
Im Gesellschaftsrecht kann das ius variandi z. B. bei Geschäftsführerverträgen oder beim gesellschaftsrechtlichen Mehrheitsprinzip zum Tragen kommen, etwa wenn Gesellschafter im Rahmen der Satzung einseitig Anpassungen beschließen dürfen.
Dogmatische und praktische Bedeutung
Das ius variandi ist ein zentraler Mechanismus zum Interessenausgleich zwischen Flexibilität und Rechtssicherheit im Vertragsverhältnis. Es ermöglicht die Anpassung von Vertragsbedingungen an veränderte wirtschaftliche, organisatorische oder persönliche Umstände, ohne zwingend eine Vertragsänderung oder Kündigung vornehmen zu müssen.
Abgrenzung zu anderen Rechtsinstituten
Dem ius variandi ähnlich, aber abzugrenzen, ist das Änderungsrecht kraft Gesetzes (z. B. Anpassungsanspruch nach § 313 BGB, Störung der Geschäftsgrundlage), das eine inhaltliche Anpassung des Vertrags unter bestimmten Voraussetzungen ermöglicht.
Rechtsprechung zum ius variandi
Die Rechtsprechung befasst sich regelmäßig mit der Reichweite und den Schranken des ius variandi, insbesondere im Arbeitsrecht. Die Gerichte prüfen u. a., ob das Weisungsrecht durch Vereinbarung oder durch Ausübung des Direktionsrechts ausgeübt wird, und ob die Grenzen des „billigen Ermessens“ (§ 106 GewO, § 315 BGB) eingehalten werden.
Beispiele aus der Praxis
- Arbeitsaufgabe: Die einseitige Übertragung einer anderen, vergleichbaren Tätigkeit kann unter bestimmten Voraussetzungen zulässig sein.
- Arbeitsortwechsel: Versetzungen innerhalb des Betriebs können vom ius variandi erfasst sein, soweit keine einschränkende Regelung vorliegt.
Fazit und Zusammenfassung
Das ius variandi ist ein rechtliches Instrument, das insbesondere im Arbeitsrecht, daneben auch in anderen Vertragsverhältnissen, angewandt wird und es einer Vertragspartei gestattet, bestimmte Regelungen einseitig zu modifizieren. Die Reichweite dieses Rechts wird stets durch den konkreten Vertrag sowie durch dispositive und zwingende gesetzliche Regelungen beschränkt und von der Rechtsprechung weiter konkretisiert. Wesentliche Grenzen bestehen durch den Grundsatz des billigen Ermessens und den Schutz vor willkürlichen oder treuwidrigen Ausübungen dieses Rechts.
Eine sachgerechte Ausübung des ius variandi trägt entscheidend zur Anpassungsfähigkeit und Flexibilität langfristiger Vertragsverhältnisse bei und ist deshalb für die rechtspraktische Arbeit von erheblicher Bedeutung.
Häufig gestellte Fragen
Welche rechtlichen Grenzen sind beim Gebrauch des ius variandi durch den Arbeitgeber zu beachten?
Das ius variandi, also das Recht des Arbeitgebers, den Inhalt, den Ort und die Zeit der Arbeitsleistung einseitig durch Weisungen nach billigem Ermessen (§ 106 GewO, Deutschland) zu bestimmen, ist rechtlich nicht grenzenlos. Es unterliegt insbesondere dem Grundsatz der Billigkeit, d.h., die Ausübung darf nicht willkürlich oder sachwidrig erfolgen und muss die Interessen beider Vertragsparteien angemessen berücksichtigen. Maßgebend sind außerdem die im Arbeitsvertrag, Tarifvertrag oder in Betriebsvereinbarungen getroffenen Regelungen und Einschränkungen; diese haben stets Vorrang vor dem Weisungsrecht des Arbeitgebers. Überdies sind gesetzliche Schutzvorschriften (z.B. Mutterschutz, Arbeitszeitgesetz) und das Diskriminierungsverbot einzuhalten. Änderungen, die den vereinbarten Arbeitsvertrag wesentlich berühren (z.B. eine Versetzung in eine andere Stadt ohne vertragliche Grundlage), können nicht einseitig, sondern nur über eine Änderungskündigung oder mit Zustimmung des Arbeitnehmers durchgesetzt werden. Missachtet der Arbeitgeber diese Grenzen, ist seine Weisung unwirksam und der Arbeitnehmer nicht verpflichtet, dieser Folge zu leisten.
Inwieweit ist das Direktionsrecht von Mitbestimmungsrechten des Betriebsrats beeinflusst?
Das Direktionsrecht (ius variandi) des Arbeitgebers wird durch Mitbestimmungsrechte des Betriebsrats erheblich eingeschränkt. Gemäß § 87 BetrVG (Deutschland) ist der Betriebsrat bei Fragen der Ordnung des Betriebs und des Verhaltens der Arbeitnehmer im Betrieb, sowie bei Beginn und Ende der täglichen Arbeitszeit, Pausenregelungen und vorübergehender Verkürzung oder Verlängerung der Arbeitszeit zu beteiligen. Weisungen des Arbeitgebers, die diese Bereiche betreffen, bedürfen also der Zustimmung des Betriebsrats oder einer Einigung im Rahmen einer Einigungsstelle. Auch bei Versetzungen (§ 99 BetrVG) hat der Arbeitgeber die Zustimmung des Betriebsrats einzuholen. Wird diese Zustimmung verweigert, ist eine einseitige Ausübung des ius variandi in diesen mitbestimmungspflichtigen Angelegenheiten rechtswidrig.
Welche rechtlichen Folgen ergeben sich, wenn ein Arbeitnehmer einer rechtswidrigen Weisung im Rahmen des ius variandi nicht nachkommt?
Verweigert ein Arbeitnehmer eine rechtswidrige, also vom Weisungsrecht des Arbeitgebers nicht gedeckte Anordnung, so kann dies keine arbeitsrechtlichen Konsequenzen nach sich ziehen. Weder eine Abmahnung noch eine Kündigung wären in einem solchen Fall wirksam, da der Arbeitnehmer nicht verpflichtet ist, unbillige Weisungen zu befolgen. Unbilligkeit liegt insbesondere dann vor, wenn die Weisung gegen gesetzliche Vorgaben, den Arbeitsvertrag oder Tarifvertrag verstößt oder die Interessenabwägung (billiges Ermessen) nicht korrekt erfolgt ist. Nach neuerer Rechtsprechung (BAG, Urteil vom 14. Juni 2017 – 10 AZR 330/16) muss der Arbeitnehmer unbillige Weisungen grundsätzlich nicht befolgen.
Kann das ius variandi auch bei Änderung der Arbeitsaufgaben und des Arbeitsortes angewendet werden?
Grundsätzlich erfasst das ius variandi sowohl den Arbeitsinhalt als auch den Arbeitsort und die Arbeitszeit (§ 106 GewO). Allerdings ist zu prüfen, in welchem Rahmen dies durch den Arbeitsvertrag gestattet ist. Ist die Tätigkeit oder der Arbeitsort im Vertrag eng umschrieben, sind Veränderungen mittels ius variandi oft ausgeschlossen und nur durch Änderungsvereinbarung oder Änderungskündigung durchsetzbar. Dehnt der Arbeitsvertrag den Tätigkeitsbereich oder den Arbeitsort hingegen ausdrücklich aus, kann der Arbeitgeber im Rahmen des billigen Ermessens Änderungen vornehmen. Nicht zulässig ist eine Versetzung, die mit einer erheblichen und nicht durch den Vertrag gedeckten Veränderung der Arbeitsbedingungen verbunden ist.
Muss der Arbeitgeber das Interesse des Arbeitnehmers beim Gebrauch des ius variandi berücksichtigen?
Ja, der Arbeitgeber ist beim Gebrauch des ius variandi verpflichtet, die Interessen des Arbeitnehmers angemessen zu berücksichtigen. Dies ergibt sich aus dem Grundsatz des billigen Ermessens (§ 106 S. 1 GewO i.V.m. § 315 BGB). Es ist eine umfassende Interessenabwägung vorzunehmen, bei der Anlass und Zweck der Weisung, betriebliche Erfordernisse, sowie persönliche, familiäre und gesundheitliche Belange des Arbeitnehmers miteinander abzuwägen sind. Eine Weisung, die die persönlichen Belange des Arbeitnehmers unangemessen beeinträchtigt oder nicht ausreichend würdigt, ist in der Regel unzulässig und damit nicht verbindlich.
Unterliegt der Gebrauch des ius variandi einer gerichtlichen Kontrolle?
Ja, die Ausübung des Weisungsrechts durch den Arbeitgeber ist vollumfänglich gerichtlich überprüfbar. Das Arbeitsgericht prüft im Streitfall, ob der Arbeitgeber sein Direktionsrecht rechtmäßig, das heißt im Rahmen des Arbeitsvertrags, eventuell ergänzender kollektivrechtlicher Normen, gesetzlicher Vorgaben und des billigen Ermessens ausgeübt hat. Ergibt die Überprüfung, dass die Weisung unwirksam war, hat der Arbeitnehmer keine arbeitsrechtlichen Konsequenzen zu fürchten und kann unter Umständen Schadensersatz verlangen, wenn ihm durch die unberechtigte Anweisung ein Nachteil entstanden ist.
Gilt das ius variandi auch für leitende Angestellte?
Das ius variandi gilt grundsätzlich auch für leitende Angestellte, allerdings mit gewissen Einschränkungen. Gerade bei höheren Positionen ist der Arbeitsvertrag oft sehr individuell gestaltet und enthält speziellere Regelungen hinsichtlich Aufgaben, Verantwortungsbereich und Arbeitsort. Je konkreter die arbeitsvertraglichen Vereinbarungen, desto geringer ist der Spielraum für einseitige Weisungen seitens des Arbeitgebers. Für hochrangige Führungskräfte kann das ius variandi faktisch weitgehend ausgeschlossen sein, wenn die arbeitsvertraglichen Aufgaben abschließend bestimmt sind. Auch hier gilt jedoch der Grundsatz der Interessenabwägung und der Vorrang abweichender vertraglicher oder kollektivrechtlicher Vereinbarungen.